Der kleine Bund/espace.ch 12.11.2005

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Cowboy des Sozialismus

Er kam aus Colorado, er sang Countrylieder, und dann ging er in die DDR. Dean Reed wurde zum größten Popstar des Ostblocks und zur Wunderwaffe für die Propaganda. Doch bald sank sein Stern, und 1986 ertränkte sich der Überläufer aus Amerika in einem See bei Ostberlin. Eine filmreife Geschichte; das hat auch Tom Hanks gemerkt.

Den weißen Lada finden die Volkspolizisten am Morgen des 15. Juni 1986, nach zwei Tagen Fahndung. Er steht neben der Rettungsstation am Ufer des Zeuthener Sees in der Nähe von Berlin, und die Beule am Kotflügel vorne rechts passt zur Schramme an einem Baum. Eine Tür steht offen, auf den Sitzen liegen Essensreste und eine leere Packung Milch, eine angebrochene Schachtel Beruhigungsmittel der Marke Radedorm und ein fünfzehnseitiger Abschiedsbrief, geschrieben auf die Rückseiten eines Drehbuchs. "Blutiges Herz", so heißt der Film; er handelt vom Aufstand der Indianer in einem amerikanischen Reservat, den die Staatsmacht 1973 niederschlug. In zehn Tagen sollten die Dreharbeiten in der Sowjetunion beginnen.

Die Wahrheit im Tresor

Es dauert zwei weitere Tage, bis die Polizei den Verfasser von Brief und Drehbuch findet. Fast dreihundert Meter vom Auto entfernt liegt Dean Reed am Grund des Sees. Er trägt, trotz Sommerhitze, zwei dicke Jacken und ist schon seit fünf Tagen tot. Die Medikamente, letzte Anrufe bei engen Freunden, Depressionen, Ehekrise, ein erster Versuch kurz vorher - alles deutet auf Selbstmord hin. Doch davon will die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik nichts wissen. Erich Honecker macht den Fall zur Chefsache und legt die offizielle Version der Wahrheit fest: ein Unfall. Wie sollte man auch erklären, dass sich dieser prominente Überläufer freiwillig aus dem Sozialismus verabschiedet hat, nachdem er so lang und treu dessen Parolen sang?

Den Abschiedsbrief verschließt Honecker in seinem privaten Safe. Und mit ihm die Wahrheit über den Tod der größten Popikone, die der Ostblock je geschaffen hat. "Dean Reed bei einem tragischen Unglücksfall ums Leben gekommen", heißt es tags darauf in der ostdeutschen Presse. "Sein Gesang kündete von der Liebe zu den Völkern", schreibt die "Junge Welt" in ihrem Nachruf, während "Der Morgen" Abschied nimmt von diesem "guten Freund", "populären Künstler" und "mutigen Kämpfer für den Frieden": "Dean Reed gab uns das lebendige Beispiel des anderen Amerika."

Seine letzten Worte werden im Herbst 1990 publik. Da steht die DDR in Liquidation, die alte Führung hat die Pulte geräumt, und die Öffnung macht auch vor Honeckers Tresor nicht Halt. Doch trotz dem Brief wuchern die Gerüchte weiter, die seit 1986 den Todesfall umranken. Getötet durch die Stasi, weil Reed seine Rückkehr in die Vereinigten Staaten plante? Durch die CIA, weil er Bescheid wusste über deren Zahlungen an die Contras in Nicaragua? Durch den Mossad, wegen seiner Freundschaft mit Arafat und den Palästinensern? Für besonders wilde Geschichten sorgt Reeds Mutter in den USA. "Er hätte niemals Selbstmord begangen", erklärt sie den Medien noch heute unbeirrt, und sie weiß lauter Gründe, warum ihr Sohn sterben musste. Zum Beispiel, weil er die Hintergründe des Reaktorunfalls in Tschernobyl aufgedeckt habe.

Verschwörungstheorien sind um gute Gründe nie verlegen; gerade fehlende Spuren sind der Beweis für das Werk von Mächten, die ihre Spuren verwischen. Und in der Tat: Den besten Grund für Spekulationen hat hier die Führung der DDR selbst geliefert - indem sie die Beweise für die Wahrheit beseitigt hat, während sie zugleich beim Vertuschen dieser Vertuschung wenig erfolgreich war. Zu diesem Schluss kommt Stefan Ernsting, der in seiner Biografie das Leben Dean Reeds erzählt und mit den halbgaren Geschichten aufräumt, die andere Bücher und Filme auftischen: "Niemand konnte mit einem halbwegs glaubhaften Motiv für einen Mord aufwarten, aber die Geschichte klingt mit einem geheimnisvollen Ende natürlich besser."

"Dass es so viel Elend gibt"

Die Geschichte des sozialistischen Helden aus Amerika: Sie beginnt in den Sechzigerjahren. Dean Reed, geboren 1938 auf einer Hühnerfarm in Denver/Colorado, erste Gitarre mit zwölf, Auftritte an Rodeos mit Cowboyhut und Countrysongs, erster Plattenvertrag mit zwanzig, kaum Erfolg in seiner Heimat, dafür in Südamerika, wo er 1960 mit der Single "Our Sommer Romance" populärer wird als Elvis. Und während er durch Brasilien und Argentinien tourt, durch Peru und Chile, da muss er gemerkt haben, dass es einen Unterschied gibt zwischen seinen Hymnen auf das Glück, die Liebe und den amerikanischen Traum und der Wirklichkeit in den Slums. Und dass sich am Elend im Hinterhof der USA nichts ändert, weil sein Land die herrschenden Regimes unterstützt. Jedenfalls wird er später von einem solchen Schlüsselerlebnis berichten. "Wenn man nach Südamerika fährt, muss man blind sein, nicht die Ungerechtigkeit sehen zu können", sagt er 1982 am Radio. "Danach sucht man die Wahrheit Schritt für Schritt und sagt, wie kann das sein, dass es so viel Elend gibt und zur selben Zeit so viel Reichtum auf der anderen Seite. Und dort bin ich Revolutionär geworden."

Man kann Dean Reed Naivität und Pathos vorwerfen - diese Blindheit vor seiner Erweckung in Südamerika; diese großen Posen danach, als er mit seiner Gitarre die halbe Welt bereist, um gegen das Unrecht in die Saiten zu langen und seine Faust zu recken. Eines aber kann man ihm nicht vorwerfen: bloß leere Worte zu machen. Dean Reed meint es ernst, als er sagt, ein Künstler habe "eine besondere Verpflichtung, seinen Einfluss zu nutzen für den Kampf für den Frieden und sozialen Fortschritt". Im Mai 1962 reist er nach Chile. Ende Monat beginnt hier die Fussballweltmeisterschaft; in einem Hotel begegnet der Sänger dem Goalie der Sowjetunion und lädt die ganze Mannschaft zum Konzert. Tags darauf sind Fotos in der Zeitung: der Cowboy beim Bier mit den Kommunisten. Die Botschaft der Vereinigten Staaten wittert unamerikanische Umtriebe und befragt Reed. Der revanchiert sich mit Zeitungsinseraten, in denen er gegen die amerikanischen Atomtests im Pazifik protestiert. Fortan gilt er als nationales Risiko, und das entgeht auch nicht der Gegenseite: Es ist die Zeit des Kalten Kriegs.

1965 sitzt Dean Reed auf dem Podium der Weltfriedenskonferenz in Helsinki, neben dem Dichter Pablo Neruda, der Kosmonautin Valentina Tereschkowa und anderen Vertretern des moskaunahen Pazifismus. Als sich die Chinesen und die Sowjets in die Haare geraten in der Frage, ob zuerst die Weltrevolution vollendet werden müsse, bevor der Weltfriede möglich sei, rettet Reed die Konferenz. Er bringt den ganzen Saal dazu, Hände haltend "We Shall Overcome" zu singen: Wir werden siegen.

Noch in der gleichen Nacht sitzt er in einem Sonderzug nach Moskau. Boris Pastuchow, Erster Sekretär des Zentralkomitees der Jugendorganisation Komsomol, hat ihn spontan eingeladen. Er glaubt, in Reed ein Mittel gegen die Beatles und andere Pilzköpfe gefunden zu haben, eine sozialistische Alternative zu jener Westmusik, die neuerdings sirenenhaft durch den Eisernen Vorhang dringt und den Funktionären Kummer macht.

Ein Geschenk des Himmels

Nach dem engagierten Barden Pete Seeger ("Sag mir, wo die Blumen sind") ist Reed der zweite Amerikaner, der in der UdSSR auf die Bühne darf. Im Moskauer Estradentheater singt er "Besame mucho", My Way", einige Cowboylieder und eines gegen den Vietnamkrieg. Und seine überwältigenden Erfolge zwischen Ural, Mongolei und Vorderorient geben den Strategen im Kreml Recht. Doch die Jugend ist nicht der einzige Grund, warum sie sich für den Amerikaner interessieren. Ein Überläufer in echten Jeans, der sich zum Kommunismus bekennt - Reed ist der lebende Beweis für die Überlegenheit ihres Systems: Wenn einer wie er die Seite wechselt, dann muss der Westen dekadent sein. Der singende Cowboy ist ein Glücksfall für die Propaganda, und davon profitiert auch die DDR, wo Dean Reed 1972 heiratet und sich niederlässt. In der Tat beruht sein Marktwert vor allem auf der Behauptung Reeds und der Funktionäre, er sei in den USA ein Superstar gewesen. "Man dachte sich eine spektakuläre Vorgeschichte für die Medien aus", schreibt Ernsting, "denn die Größe der sozialistischen Idee nahm zu mit der Größe derer, die sich zu ihr bekannten." Dabei hat Reed nicht mehr vorzuweisen als eine Woche auf Platz 96 der Hitparade in den USA.

Das zeigt sich beispielsweise 1978, als er in die Vereinigten Staaten reist und mit Farmern in Minneapolis gegen Hochspannungsmasten demonstriert. Er landet im Wright Country Jail in Buffalo, doch dass sie einen Prominenten hinter Gitter haben, merken die Behörden erst, als körbeweise Protestbriefe eintreffen. Reed und die Stasi haben diese "Solidaritätskampagne" für den Fall der Verhaftung vorbereitet. Die Gerichtsverhandlung wird zum internationalen Medienspektakel, Reed hält eine pathetische Rede ("Ziviler Ungehorsam ist eine ehrenwerte amerikanische Tradition"), Präsident Carter greift ins laufende Verfahren ein, und die Anklagen werden zurückgezogen.

So arbeitet Dean Reed aktiv an seinem eigenen Mythos. Künstlerisch ist er unbedeutend - auch als Schauspieler, der in Wildwestfilmen den edlen Cowboy gibt, den "anderen Amerikaner", der im Osten so gefragt ist. Er nutzt die Möglichkeiten, die ihm Staatspropaganda und Kulturindustrie im Medienzeitalter bieten. Und doch: Es ist ihm ernst mit der Weltverbesserung. "Es gab zu dieser Zeit keinen amerikanischen Künstler der Popkultur, der so weit gegangen ist wie er", schreibt sein Biograf Ernsting. "Im Gegensatz zu den Hippies von der Friedensbewegung und den marxistischen Kaffeekränzchen an den westlichen Universitäten lief er nicht weg, wenn es darauf ankam."

Dean Reed singt 1970 im Wahlkampf mit Salvador Allende in Chile, und er singt dort auch dreizehn Jahre später mit den Studenten "Venceremos" mitten im Aufstand gegen Pinochet, den Diktator, der Allende auf dem Gewissen hat. Er singt in Feuerpausen "Ghost Riders In The Sky" bei der PLO im umkämpften Süden Libanons, und Jassir Arafat trommelt dazu den Rhythmus. Er singt auch beim Treffen der Jugend in der Tschechoslowakei, beim Tag der Solidarität im Berliner Palast der Republik, bei der Internationalen Dokumentarfilmwoche in Leipzig. Er singt bei den Bahnarbeitern in Sibirien, die die "Baikal-Amur-Magistrale" bauen, er singt im Nép-Stadion in Budapest, er singt in der 7a der Peter-Lamberz-Oberschule in Schmöckwitz. "Ich habe ihn kein einziges Mal ohne Gitarre gesehen, und er hat immer gleich was gesungen", erinnert sich Gerd Gericke, ehemaliger Filmdramaturg in den Ostberliner Defa-Studios.

Seine pathetischen Reden hält Reed auch am Tisch vor Offiziellen. "Ehe wir die Gabeln in die Erbsen pieken konnten, stand Dean auf und hielt eine Tischrede, in der er auf die Hungernden der Erde verwies und wie gern er seinen gefüllten Teller einem von ihnen geben würde", sagt die Schriftstellerin Gisela Steineckert in Ernstings Buch. "Dean war von seinen Worten ergriffen und ging zu seiner Hoffnung auf den Weltfrieden über, als ihn der Funktionär unterbrach und meinte, wir hätten heute genug gearbeitet, und nun solle uns niemand unser Essen kalt werden lassen."

Da ist er wieder, der idealistische Ernst des Dean Reed. Gerade in seiner neuen Heimat leidet er immer mehr daran, dass ihm dafür die Adressaten fehlen: Hier ist der Sozialismus Realität - eine Realität, an der seine Parolen vorbeigehen. Als 1976 prominente Kulturschaffende der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestieren, des regimekritischen Liedermachers, verweigert er seine Solidarität. Noch Anfang 1986 wird er die Mauer kompromisslos verteidigen. Und während seine Glaubwürdigkeit zerbröckelt, verschieben sich die tektonischen Platten der Weltgeschichte, bis er den Boden unter den Füßen verliert. Gorbatschows Reformen bringen ihn in die gleiche Krise wie viele Funktionäre, die sich in ihrem Glauben an die gute Sache nicht erschüttern lassen und sich darum in der Zeit des Wechsels nicht mehr behaupten können. Pete Seeger, Reeds Berufskollege, nennt ihn später einen "armen Kerl": "Er erlaubte den Sowjets, ihn zum Superstar aufzublasen, und er hat zu spät bemerkt, was für eine Falle so ein Verhältnis sein kann." Den Amerikanerbedarf des Ostens decken bald andere: Schon vor dem Fall der Mauer haben Bob Dylan und Bruce Springsteen ihre ersten Konzerte in der DDR. Zuletzt kann der alternde Cowboy mit dem verblassten Exotenbonus froh sein, wenn er einen Auftritt an einem Glasbläserfest bekommt.

Besuch aus Hollywood

"Dieser Amerikaner kam über das große Wasser in die DDR und starb dort in einem kleinen See." So schön hat keiner die Tragik dieses Lebens auf den Punkt gebracht wie Henrik Jacob, ein junger Berliner Künstler, der mit grauem Plastilin Szenen aus dem Epos dieses Helden nachgebildet hat. Dean Reeds Geschichte ist tatsächlich gut - so gut, dass sie das Leben alleine nicht geschrieben haben kann: Sie ist eine Synthese von Pop, Propaganda und einem Traum vom Erfolg, der im Grunde doch sehr amerikanisch ist.

Kein Wunder, interessiert sich Hollywood. Anfang 2003 kommt Tom Hanks über das große Wasser, der Spezialist für Beruht-auf-einer-wahren-Begebenheit-Filme ("Apollo 13", "Terminal") und für die Hansdampf-Figuren der Weltgeschichte ("Forrest Gump"). Er recherchiert in Berlin, trifft sich zum Mittagessen mit Egon Krenz, dem letzten Staatschef der DDR, und kauft den Stoff auf: Er schließt Verträge mit Zeitzeugen wie Renate Blume, Schauspielerin und Reeds dritte und letzte Frau, in denen sie ihm ihre Auskünfte exklusiv zusichern. Noch haben die Dreharbeiten nicht begonnen. Bekannt ist aber, dass das Projekt "Comrade Rockstar" heißt, Genosse Rockstar. Und dass Hanks die Hauptrolle spielt und Regie führt. So wird Dean Reed vielleicht doch noch ein Star in seiner Heimat.

Vielleicht aber auch nicht. Das Original aus Honeckers Panzerschrank ist zwar verschollen, doch es gibt Kopien von Reeds Abschiedsbrief. Darin steht, in ungelenkem Deutsch: "Der Sozialismus ist noch nicht erwachsen. Es ist die einzige Lösung für die Hauptprobleme für die Menschheit der Welt." Seine letzten Worte hat Reed nicht etwa an seine Frau gerichtet, sondern an den Fernsehchef im Propaganda-Apparat der DDR. "Lass alle vorschrittliche Menschen ein besseres gerechtiges und friedliches Welt schaffen."

Stefan Ernsting: Der rote Elvis. Dean Reed oder Das kuriose Leben eines US-Rockstars in der DDR. Verlag Gustav Kiepenheuer, Berlin. - Forum im Internet: www.deanreed.de.

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Letzte Änderung: 2010-03-31