Der Krieg gegen Kinder
Quelle: ZNet 17.06.2006
...ein Psychiater, der einer Kinderklinik vorsteht, erzählte mir: "Nach der Statistik, die für mich
unerträglich ist, sind 99,4 % der Kinder, mit denen wir es zu tun haben, traumatisiert ... 99,2 % erlebten,
wie ihr Haus bombardiert wurde, 97,5 % waren Tränengas ausgesetzt; 96,6 % waren Zeugen als geschossen wurde;
ein Drittel sah, wie Familienmitglieder oder Nachbarn verletzt oder getötet wurden."
Arthur Miller schrieb: "Nur wenige von uns können den Glauben aufgeben, dass die Gesellschaft irgendwie einen
Sinn hat. Der Gedanke, dass der Staat seinen Verstand verloren hat und dabei ist, so viele unschuldige Menschen zu
strafen, ist unerträglich. Also muss der Beweis dafür intern geleugnet werden."
Millers Wahrheit wurde am 9. Juni im Fernsehen flüchtige Realität, nachdem israelische Kriegsschiffe
auf Familien, die am Strand von Gaza picknickten, geschossen und 7 Menschen getötet hatten, einschließlich
drei Kindern und drei Generationen. Dies stellt das Problem der Palästinenser betreffend - schließlich
eine Lösung (final solution) dar, die mit der USA und Israel abgestimmt ist. Während die Israelis Granaten
auf palästinensische Picknicker und Häuser in Gaza und in der Westbank abschießen, lassen beide
Regierungen sie außerdem aushungern. Die Opfer werden vor allem Kinder sein. Am 23. Mai wurde vom
US-Repräsentantenhaus mit 361 zu 37 Stimmen die Sperrung der Hilfsgelder für NGOs genehmigt, die das
Rettungsseil für das besetzte Palästina darstellen. Israel hält palästinensische Steuern zurück,
die sich auf 60 Millionen $ im Monat belaufen.
Solch eine kollektive Strafe, die nach den Genfer Konventionen als Verbrechen gegen die Menschheit betrachtet wird,
erinnert an die Strangulierung des Warschauer Gettos durch die Nazis und die amerikanische Belagerung des Irak in den
90er Jahren. Wenn die Täter ihren Verstand verloren haben, wie Miller denken lässt, scheinen sie ihre Barbarei
zu verstehen und ihren Zynismus zu entfalten, wie z.B. Dov Weißglas mit der "Idee, die Palästinenser auf Diät
zu setzen ." Er ist Berater des israelischen Ministerpräsidenten, Ehud Olmert.
Dies ist der Preis, den die Palästinenser für ihre demokratischen Wahlen im Januar zahlen müssen. Die
Mehrheit wählte die "falsche" Partei, die Hamas, die die USA und Israel als Terroristen beschreiben - im Sinne
von "ein Esel schimpft den andern einen Esel" . Doch Terrorismus ist nicht der Grund für die Aushungerung der
Palästinenser, deren Ministerpräsident Ismail Haniyeh bestätigt hat, dass Hamas sich verpflichtet,
den jüdischen Staat anzuerkennen, wenn Israel sich an das Völkerrecht hält und die Grenzen von 1967
respektiert. Israel verweigert dies, weil es - wie die im Bau befindliche Apartheidmauer deutlich macht andere
Absichten hegt: immer mehr palästinensisches Land zu übernehmen und ganze Orte ja schließlich
auch Jerusalem zu umzingeln.
Der Grund, warum Israel Hamas fürchtet ist der, dass Hamas wahrscheinlich kein vertrauensvoller Kollaborateur sein
wird, der sein eigenes Volk im Auftrag Israels unterwirft. Tatsächlich war die Stimme der Wähler für Hamas
eine Stimme für den Frieden. Die Palästinenser hatten die Nase voll vom Versagen und der Korruption der
ArafatÄra. Nach dem früheren US-Präsidenten Jimmy Carter, dessen Carter-Zentrum den Hamas-Wahlsieg
beglaubigte, zeigten "die Meinungsumfragen, dass 80% der Palästinenser ein Friedensabkommen mit Israel wünschen."
Es ist schon ironisch, wenn man den Aufstieg der Hamas betrachtet, der dank geheimer Unterstützung Israels zustande
kam, da dieses mit den USA und den Briten wollte, dass Islamisten den säkularen Arabismus und dessen "moderate"
Träume von Freiheit unterminieren. Hamas weigerte sich, dieses Macchiavellsche Spiel mitzuspielen und hielt trotz
der vielen israelischen Angriffe 18 Monate lang seine Feuerpause ein. Das Ziel des israelischen Angriffs auf den Strand
von Gaza war offensichtlich die Sabotage der Feuerpause. Das ist eine uralte Taktik.
Nun findet Staatsterror in der Art einer mittelalterlichen Belagerung statt und trifft die Schwächsten. Für
die Palästinenser ist ein Krieg gegen ihre Kinder kaum etwas Neues. Eine 2004 veröffentlichte Feldstudie in einer
britischen medizinischen Zeitschrift berichtet, dass in den letzten vier Jahren "Zwei Drittel der (von Israelis)
getöteten 621 Kinder - an Checkpoints, auf dem Weg zur Schule oder in ihren Häusern - durch kleine Waffen starben,
die zur Hälfte auf den Kopf, den Hals und die Brust gerichtet waren es sind Wunden von Scharfschützen. Ein
Viertel der palästinensischen Kinder unter fünf sind akut oder chronisch unterernährt. Die israelische
Mauer wird 97 (Primary-)Gesundheitskliniken und 11 Krankenhäuser von der Bevölkerung trennen, der sie dienen sollten."
Die Studie beschreibt "einen Mann in einem jetzt eingemauerten Dorf nahe Qalqilia, als er sich mit seiner schwer kranken
Tochter im Arm einem Tor näherte und die Soldaten darum bat, ihn passieren zu lassen, damit er sie ins Krankenhaus
bringen könne. Die Soldaten verweigerten dies."
Gaza, das nun wie ein Gefängnis abgesperrt ist und vom Lärm von die Schallgeschwindigkeit durchbrechender
Knallerei durch die israelische Luftwaffe terrorisiert wird, hat eine Bevölkerung, deren Hälfte unter 15 Jahre
alt ist. Dr. Khalid Dahlan, ein Psychiater, der einer Kinderklinik vorsteht, erzählte mir: "Nach der Statistik, die
für mich unerträglich ist, sind 99,4 % der Kinder, mit denen wir es zu tun haben, traumatisiert ... 99,2 %
erlebten, wie ihr Haus bombardiert wurde, 97,5 % waren Tränengas ausgesetzt; 96,6 % waren Zeugen als geschossen
wurde; ein Drittel sah, wie Familienmitglieder oder Nachbarn verletzt oder getötet wurden."
Diese Kinder leiden unvermindert an Alpträumen und "Nachtterror", und sie müssen sich weiterhin mit eben diesen
Situationen auseinandersetzen. Einerseits träumen sie davon, Doktor und Krankenschwester zu werden, "damit sie andern
helfen können"; andrerseits wird dieser Wunsch von einer apokalyptischen Vision überholt, dass sie die nächste
Generation der Selbstmordattentäter seien. Sie machen konstant nach israelischen Angriffen diese Erfahrung. Für
einige Jungen sind nicht mehr Fußballspieler die Helden, sondern eine Verbindung des palästinensischen "Märtyrers"
mit dem Feind, "weil israelische Soldaten stärker sind und Apachen-Kanonenboote haben."
Dass diese Kinder nun darüber hinaus noch weiter gestraft werden, mag menschlichen Verstand übersteigen, aber
da liegt eine gewisse Logik drin. Jahrelang haben Palästinenser es vermieden, in den Abgrund eines Bürgerkrieges
zu fallen, wohl wissend, dass es genau dies ist, was Israel wünscht. Indem sie nun ihre gewählte Regierung
zerstören, versuchen sie, eine parallele Regierung um den palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas
aufzubauen "...die Folge: eine anarchistische Gesellschaft ... beherrscht von verzweifelten Milizgruppen, Banden,
religiösen Ideologien, zerbrochen in ethnische und religiöse Clans und Kollaborateure. Schauen wir auf den
Irak von heute: das ist es, was Sharon für uns auf Lager hatte," schrieb der Oxforder Akademiker und
Palästinenser Karma Nabulsi.
Der Kampf in Palästina ist ein amerikanischer Krieg, der von Amerikas schwerbewaffneter Militärbasis, Israel,
aus geführt wird. Wir im Westen sollten über den israelisch-palästinensischen "Konflikt" nicht in
dieser Weise denken, so wie wir über die Israelis als Opfer, aber nicht als illegale und brutale Besatzer denken
sollten. ...doch ohne F-16-Bomber und die Apachen-Hubschrauber und die Milliarden Dollars amerikanischer Steuerzahler,
hätte Israel längst mit den Palästinensern Frieden gemacht. Seit dem 2. Weltkrieg hat die USA
Israel 140 Milliarden $ gegeben, den größten Teil für die militärische Ausrüstung. Nach dem
Kongress-Forschungsdienst waren in demselben "Hilfsbudget" 28 Millionen $ "Hilfe für palästinensische Kinder
eingeschlossen, die unter dieser Konfliktsituation leiden" , um ihnen mit "grundlegender erster Hilfe" beizustehen.
Diese Hilfe wurde jetzt auch gestrichen.
Karma Nabulsis Vergleich mit dem Irak ist treffend, denn dieselbe "Politik" wird dort angewandt. Die Aufbringung von
Zarqawi war ein wunderbarer Medien-Event. Die Philosophin Hannah Arendt nannte dies eine "Aktion als Propaganda" und
hat wenig mit der Realität zu tun. Die Amerikaner... haben ihren Dämon in die Luft gesprengt. Die Wahrheit
ist, dass Zarqawi größtenteils ihre Schöpfung war. Seine offensichtliche Tötung diente einem
wichtigen Propagandazweck, der uns im Westen vom amerikanischen Ziel, den Irak wie Palästina in eine ohnmächtige
Gesellschaft von ethnischen und religiösen Clans/Stämmen umzuwandeln, ablenken soll. Todesschwadronen, die von
Veteranen der CIA in Zentral-Amerika ausgebildet und trainiert werden, sind dafür wichtig. Der Mord an Zarqawi und
die Mythen über seine Bedeutung lenken auch von den Massakern der US-Soldaten ab, wie das in Haditha. Sogar der
Marionetten-Präsident Al-Maliki beklagt das mörderische Verhalten der US-Truppen als tägliches Geschehen ...
Dies ist als "Befriedung" bekannt. Die Asymmetrie eines befriedeten Irak und eines befriedeten Palästina ist klar.
Wie in Palästina geht der Krieg im Irak gegen Zivilisten, meist gegen Kinder. Nach UNICEF war der Irak einmal das Land
mit dem höchsten Indikator für das Wohlbefinden der Kinder. Heute leidet ein Viertel aller Kinder zwischen
½ und 5 Jahren an akuter oder chronischer Unterernährung, schlimmer als in der Zeit der Sanktionen. Armut und
Krankheit nehmen mit jedem Tag der Besatzung zu.
Im Britisch besetzten Basra ist "die Kindersterblichkeit um 30 % angewachsen, verglichen mit der Saddam Hussein-Ära"
(nach Saving Children from War, einer EU-Hilfsagentur). Sie sterben, weil die Krankenhäuser keine Ventilatoren haben
und das Wasser verschmutzt ist ... Die Kinder werden Opfer von nicht explodierten britischen und US-Clusterbomben. Sie
spielen in Gegenden, die von abgereichertem Uran verseucht sind (und Krebs/Leukämie verursacht). Im Gegensatz dazu
bewegen sich brit. Überwachungsteams dort nur mit vor Strahlung schützenden speziellen Ganzkörper-Anzügen
mit Gesichtsmasken und Handschuhen. ...Das Verteidigungsministerium nennt dies einen "vollen biologischen Test."
Hatte Arthur Miller recht? Wird dies alles intern dementiert? Oder hören wir auch auf entferntere Stimmen? Bei meinem
letzten Aufenthalt in Palästina wurde ich beim Verlassen von Gaza mit einem Schauspiel palästinensischer Flaggen
von innerhalb des ummauerten Gebietes belohnt. Kinder waren dafür verantwortlich. Keiner hatte sie dazu aufgefordert.
Sie machten Fahnenstangen aus zusammengebundenen Stöcken, kletterten auf eine Mauer und hielten die Fahnen ruhig zwischen
sich. Wohl im Glauben, dass sie der Welt erzählen werden.
(Dieser Artikel von John Pilger erschien zuerst in New Statesman - seine Website:
www.johnpilger.com)
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