Nationalzeitung August 1983

Alle sangen sie "Venceremos"

Dean Reed schildert in einem NZ-Gespräch seinen jüngsten Besuch in Chile

Nach seinen auch international stark beachteten Solidaritätseinsätzen im August in Chile trafen wir Dean Reed, den amerikanischen, in der DDR lebenden Sänger. Befragt über dort Erlebtes erzählte er: "Für mich war es erschütternd, nach über zehn Jahren wieder in das Land zu kommen, das ich als zweite Heimat lieben lernte. Erinnerungen wurden wach an Jahre, als ich mich an der Seite der Unidad Popular für den Wahlsieg von Präsident Salvador Allende einsetzte. Nun kam ich erneut nach Santiago, fast anonym zuerst, zum Glück begleitet von dem progressiven Fernsehpublizisten Will Roberts. Vieles fand ich bestätigt, was ich all die Jahre mit heißem Herzen verfolgte. Bekanntlich kurbelte Pinochet durch zollfreie Importe zuerst die Wirtschaft an, die USA unterstützte ihn. Schon nach zwei Jahren wirkte sich dies nachteilig für die Klein- und dann auch für die Großindustrie aus. Viele sind heute dem Ruin nahe. Aber alle, nicht nur die stets progressive Arbeiterklasse, auch die Mittelschichten und viele Kapitalisten, die Parteien stehen jetzt endlich gemeinsam gegen das Terrorregime. Die Zahl der Verfolgten ist unübersehbar. Jeder Verhaftete wird gefoltert in Anwesenheit eines Arztes bis zur Grenze seiner Kräfte. Das ist Faschismus. Doch die Lage spitzt sich zu. Und die Hauptsache: Das chilenische Volk hat keine Angst. Es ist sich seiner Sache sicher."

Für Dean Reed gaben die Ereignisse des Protesttages, des 11. August, mit neuen Verfolgten und Toten den Anstoß, selbst in Chile Aktionen zu unterstützen. "Bald nach meiner Ankunft konnte ich mit der Presse in Santiago über meine Absichten sprechen", sagte Dean Reed. "Die Bergarbeiter von Rancagua, dem 150 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Zentrum revolutionärer Aktionen, forderten mich auf, am nächsten Tag zu singen. Nach einem Streik waren 800 Bergleute entlassen worden. Ihren notleidenden Familien galt das Eintrittsgeld unserer Veranstaltung in ihrem Theater: ein Kilogramm Lebensmittel pro Teilnehmer. Wir wurden von der Polizei kontrolliert. Trotz des Konzertverbotes sang ich eineinhalb Stunden Lieder von Viktor Jara und viele Kampflieder. Ich sprach dazu, auch über den ersten vom Volk gewählten Präsidenten Salvador Allende, dem ich so verbunden war, und stimmte zu seinen Ehren 'Venceremos', das alte Kampflied der Unidad Popular, an. Alle sangen leidenschaftlich mit. Es war das erste Mal nach zehn schweren Jahren, daß es erklang."

Gleiches wiederholte sich zum öffentlichen Solidaritätskonzert vor der Universität am folgenden Tag, zu dem Dean Reed eingeladen war. 2.000 Studenten und Hörer erlebten die Veranstaltung, die zum flammenden Protest gegen Pinochet wurde und wieder mit "Venceremos" endete. Das Fernsehen von Chile, den USA, von Belgien nahm alles auf. Die Polizei ließ nicht auf sich warten. Sie trieb alle brutal auseinander... Dean Reed wurde schließlich verhaftet, verhört und sofort nach Peru abgeschoben. "Millionen in Chile erlebten alles abends im Fernsehen, natürlich mit übelsten Kommentaren gegen mich", sagte der Sänger. Seine mutige Aktion, so bestätigten es alte Freunde, auch Mathilde Neruda, und junge kämpferische Menschen, war von besonderem Wert, sie wurde zur Brücke zu den weltweiten Solidaritätsaktionen der progressiven Welt, von denen man in Chile weiß.

Ingeborg Stiehler