ACHTUNG! Im folgenden Artikel werden Sie auf englische Sprachbrocken stoßen. Das liegt
am Gegenstand. Wir vertrauen auf Ihre Vorbildung und die Auslieferung neuer Wörterbücher.
Cry Baby Cry
Make your mother sigh
She's old enough to know
(Lennon/McCartney)
Zwei Monate prangten Plakate in bleichender Sonne. Kaum ein Blatt verzichtete auf viertelseitige
Annoncen. Überall anders als gerade im Palast der Republik wären Eintrittskarten
zur Bückware geworden. (Einschub: Da dort allerdings ein perfektes Kontingentierungswesen
waltet, ist der Erhalt eines Billetts für den Großen Saal heute keine reine
Glückssache mehr, sondern zu einer Sache des Zufalls fortgeschritten. Das wiederum
erklärt die halbleeren Sitzreihen im angeblich ausverkauften Haus.)
Mit derart ermunternden Vorzeichen startete, was man unter der Hand die zweite
Personality-Show des Palastes nannte. Nach Jürgen Walter im vergangenen Jahr war in
diesem August Dean Reed mit solch einem vertrackten Ding an der Reihe. Verflixt, wie man
sich im Deutschen um das Wort "personality" lang und unentschieden streiten kann. Wird
es mit "Person" übersetzt, deutet es in Verbindung mit einer öffentlichen Veranstaltung
lediglich an, dass es eine Art Hauptdarsteller geben wird, vermutlich in der Rolle eines
freundlichen Gastgebers. Meint "personality" in zweiter Bedeutung aber "Persönlichkeit",
so heißt das: Auf dieser Bühne wird sich jemand offenbaren, sein Talent, sein
Können und seine Erfahrung ganz und gar entfalten. Jedermann (Prüfe Dich selbst!)
gäbe natürlich dem zweiten, dem fetten Happen bedenkenlosen Zuschlag, befragte
man ihn nach seinen Gelüsten. Und gar in Verbindung mit dem Namen Dean Reed...
Zuviel krauses Zeug ist über ihn gesponnen worden. Verträumte Mädchenaugen
und abschätziges Grinsen haben ihn gleichermaßen gemustert. Laufend im Gespräch,
stolperten irgendwann auch die über ihn, die ihn gern umgehen wollten. Und nun eine
Personality-Show auf der größten Bühne des Landes. Endlich die Chance,
zu erfahren, wo genau des strahlenden Sonnyboy Ernst beginnt und der Spaß aufhört.
Vielleicht ein paar öffentliche Nachdenkereien vernehmen, warum er welchen Sätteln
gerecht werden will. Vielleicht gibt es gar blaue Flecken zu sehen, die vom hohen Ross
herstammen. Wer weiß - und niemandem fiele es schwer, ohne mit der Wimper zu zucken
weitere Fragen anzufügen, die er gern von Dean beantwortet hätte. Aber:
(Erneuter Einschub: "Weine, mein Kind, weine - lass deine Mutter seufzen, sie ist
schließlich alt genug, um es besser zu wissen" - Lennon/McCartney.)
"Sing, Dean, sing"
verzichtete auf diese Möglichkeit. Man lehnte sich ins Polster zurück, die
Unterhaltung hub an. (Wie oft kann man das schon!) Und nun fiel es leicht, sich mit der
eher mageren Personen-Schau nicht nur abzufinden, sondern gar Spaß dran zu haben.
Zumal die Garnierung recht appetitlich war. Zwar bestand das Bindemittel aus reichlich
fader Big-Band-Paste (Rundfunktanzorchester, Leitung Martin Hoffmann), im Arrangement
wie in der Lautstärke wenig einfühlsam; die restlichen Zutaten aber waren durchaus
akzeptabel. Elke Martens
und Marion Scharf
trugen die jugendfrische Füllung bei - zuweilen etwas unsicher und nicht sehr gut
beraten bei der Titelauswahl. Die Heubach-Kompositionen für Elke Martens brauchen eine
dezentere Atmosphäre als diesen ...zigtausend-Mann-Saal. Marion Scharf nahm sich mit dem
kraftvollen Vortrag des Beatles-Opus "Let it be" die Luft für Brahm's Schlaflied
"Guten Abend, Gute Nacht", dem sie so ein atemloses "oh yeah" zufügte.
Die Schmeckerchen des Abends boten Josef Laufer
und Dagmar Frederic
an, die per gekonnter Routine brillierten und mit einem Rock'n'Roll-Medley (Laufer) bzw.
dem bulgarischen Lied "Bunte Wagen" (Frederic) bewiesen, dass die weite Palastbühne
auch von einem einzelnen zu füllen ist. Als Zuckerbrezel obenauf schließlich
gab es Phil Everly
aus den USA. Gegen
"Bye, bye, love"
oder "Cathys Clown" lässt sich heute sowenig sagen wie zu deren Top-Zeiten vor mehr
als zwanzig Jahren.
Das also war das lukullische Dressing. Es folgt der Hauptgang - Dean Reed. Man bekam ihn
per Projektion als Cowboy
zu sehen, er sang Beatles-Oldies (Was kann da schon schief gehen?), den immergrünen
Western "Ghost Riders",
er wechselte den Hut für "Mack the knife",
ließ mit "Glory halleluja"
die "Saints" einmarschieren, er erklärte erst
"Susan"
und dann Berlin, das doch Berlin bleibt,
seine große Liebe und stieg schließlich als Halb-Bruder in Phils Everly-Songs.
So kurz diese Zusammenfassung ist, so ungenau und unvollständig ist sie. Sie bietet
allerdings einen großen Vorteil: Man erkennt das Rezept der Show. Das Programm war
clever auf die vermeintlichen Stärken Dean Reeds ausgelegt. Dass seine
Bühnenpräsentation nicht durch tänzerisches Können aufgewertet werden
kann, wurde lachend überspielt, der Sprachbarriere wurde durch kurze Übergänge
Rechnung getragen. (Ob die unvermeidliche Stichelei gegen die Filmkritik oder der Hinweis,
Fred Astaire habe allein einer neuerlichen Hochzeit wegen absagen müssen, originell
waren, sei dahingestellt.) Zudem gab es keine peinlichen Überschneidungen zwischen
Politsong und Entertainment - eine alte Dean-Krankheit.
Autor Heinz Quermann
hatte die altbewährte Kiste aufgemacht. Das Publikum bekam seinen Dean, wie man ihn
erwartet hatte. Nach ähnlich unfehlbarem Muster ging die Show dann auch zu Ende. Alle
sechs Akteure starteten unter Deans Chorführung die große "Anmache". Die
erwünschte Wirkung trat prompt ein: Rhythmisches Klatschen, Jubel, Trubel, Verbeugung
und zweifacher Abgang. Inzwischen verpackten die Musiker das Instrumentarium. Und da
geschah es (jedenfalls in der Vorstellung, die ich besuchte, nämlich der ersten).
Das Publikum hörte nicht auf. Die berechnete Wirkung war überzogen worden.
Dean Reed musste auf die leere Bühne zurück, und dort fing er einfach an, zu
erzählen und schlichtes Lied zu singen. Vielleicht hat er die Geschichte seiner
Mutter,
die mit 61 Jahren ein Hochschuldiplom erlangte, schon oft zum Besten gegeben, auch
jenes Lied
hatte er schon vor Jahren öffentlich gesungen. Egal - denn nun endlich fand ein
Stück Personality-Show statt, von jener nahrhaft-sättigenden Sorte mit
"Persönlichkeit". Und plötzlich wurde man mit Entsetzen gewahr, wie sehr Dean
Reed in den letzten anderthalb Stunden unterfordert wurde. Alles war perfekt eingerührt,
aber es war der falsche Topf. Cry Baby Cry, weine nur mein Kind, die Chance ist vergeben.
"Sing, Dean, sing" ist abgespielt. Vielleicht startet irgendwann eine neue Runde - sicherlich.
Um sie zu nutzen, braucht Dean Reed Hilfe. Nicht von Freunden, die flugs mit Schulterklopfen
und vorgefertigten Dean-Reed-Rezepten bei der Hand sind oder solchen, die ihn kritiklos
weiterwursteln lassen. Ich jedenfalls gönne ihm einige unfreundliche Freunde. Nicht
alles lässt sich mit einem Lächeln erledigen.
Wilhelm Kuschfeld
|