Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.2009

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Insel in der Insel

Rauchfangswerder war eine surreale Kapsel in der DDR. Hier lebten Stars, die aus dem Westen in den Sozialismus gekommen waren - als Sopranistin aus Italien, als Cowboy aus Amerika. Eine Geschichte aus der besseren Gesellschaft

Von Niklas Maak

Diese Insel also: liegt dort im Morgenlicht, als sei dort nie etwas Aufregendes passiert, man hört kaum Geräusche, mal abgesehen vom Dieselrasseln eines anfahrenden Transporters, der auf dem sandigen Weg wendet und auf der langen Piste, die eigentlich eher ein grüner Tunnel ist, in Richtung Norden verschwindet. Dann hört man einen Zug: Die Stadt ist nicht weit, genaugenommen ist die Insel ein Teil von ihr - und trotzdem war sie lange ihr Gegenteil, ein Ort, für deren Bewohner die Regeln von der anderen Seite nicht galten. Diese Bewohner kamen aus Amerika und Italien, und sie waren freiwillig hierhergekommen. Was nicht selbstverständlich war.

Die Insel heißt Rauchfangswerder; sie liegt eine gute halbe Autostunde südlich vom Zentrum Berlins mitten im Zeuthener See - was auch bedeutet, dass sie bis 1989 Teil der Deutschen Demokratischen Republik war. Wer waren die Menschen, die um 1965, vier Jahre nach dem Mauerbau, aus dem Ausland hierherzogen, auf die kleine Insel in der großen Insel DDR, um zu bleiben, und warum?

Die große italienische Sängerin Celestina Casapietra war eigentlich nur zu einer Probe in die DDR gebeten worden. Jemandem war ihre Stimme aufgefallen, man hatte sie eingeladen, und sie blieb - was einerseits an der hemmungslosen Begeisterung lag, die der damals fünfundzwanzigjährigen Genueserin in Berlin entgegenschlug, und andererseits an einem Mann. "Das war ein Blitz", sagt Celestina Casapietra am Telefon mit einer Stimme, die hörbar aus einer Welt kommt, die aus allem eine Oper machen könnte, "das war ein Blitz, wie er einmal im Leben kommt."

Der Verursacher dieses Blitzes hieß Herbert Kegel. Er war Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig, später Generalmusikdirektor, Professor an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater, Gastdirigent an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, dem Opernhaus Leipzig, der Semperoper in Dresden, Chefdirigent der Dresdner Philharmonie - ein international bekannter Star, ein besessener Arbeiter, dem Komponisten wie Paul Dessau oder Rudolf Wagner-Régeny ihre Uraufführungen verdanken. Im Sommer des Jahres 1965, in dem die erste offene Schlacht zwischen Südvietnam und Vietcong tobt und die Antibabypille in der DDR auf den Markt gebracht wird, in diesem Jahr, in dem die Beatles "Help!" veröffentlichen und "Das Wundertheater" von Hans Werner Henze in Frankfurt uraufgeführt wird, fährt Celestina Casapietra mit Herbert Kegel an die Ostsee, nach Warnemünde ("das Wasser war eiskalt, so kalt, ich dachte, ich sterbe"). Sie beschließt zu bleiben. Die Italiener erklärten sie für wahnsinnig.

Ihrem künstlerischen Ruf schadete die Abwanderung ins politische Feindeslager nicht. Casapietra wurde erster Sopran an der Berliner Staatsoper, was sie bis 1993 blieb, und galt bald als eine der weltbesten Sopranistinnen. "Durch den Status, den sie an der Staatsoper Berlin hatte", erzählt ihr Sohn Björn Casapietra, "konnte sie alle Rollen singen, die sie wollte: Sie hatte da ein Haus, das sich ihr zu Füßen legte."

Björn Casapietra sitzt in einem Berliner Café. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht "Verführer-Tour 2008". Man kennt sein Gesicht aus dem Fernsehen, er ist der schöne junge Mann aus der Serie "Nicht ohne meinen Anwalt", beim "Traumschiff" spielte er den Bordfotografen, trotzdem kennt man ihn mittlerweile eher als Sänger. Der Neununddreißigjährige singt auf seinen Tourneen Opernarien und Balladen, vier CDs gibt es von ihm, die Verführer-Tour, sagen die Veranstalter, sei ein großer Erfolg gewesen. Zwischen Mutter und Sohn ist er sicherlich derjenige, der weniger kontaktscheu ist, was die Popularisierung von Opern betrifft - was nicht heißt, dass Celestina Casapietra nicht populär war. Ihre Fans aus dem Westen reisten eigens an, um sie in "Tosca" zu hören, sie gastierte an der Mailänder Scala, sang in Torre del Lago bei den Puccini-Festspielen mit Pavarotti "La Bohème", trat mit Placido Domingo und dem legendären Tenor Franco Corelli auf. Sie durfte die DDR verlassen und betreten, wann immer sie wollte - und wenn sie da war, lebte sie auf Rauchfangswerder.

Ihr Haus liegt am Ende eines Pfades, der von der Argoallee ans Ufer führt. Nach dem Mauerfall haben sie in der Gegend scheußliche neue Häuser gebaut, ein geschrumpftes Baumarkt-Versailles mit blaulackierten Dachziegeln und Säulen, toskanische Paläste oder das, was man sich in Grünauer Baustoffhandlungen darunter vorstellt. Am Ende des Weges sieht man das rote Dach von Casapietras Villa durch das dichte Grün blitzen, ein Steinmäuerchen erinnert an Italien, auf der Terrasse stehen schwer geschnörkelte weiße Stühle.

Rauchfangswerder war eine Art surrealer Kapsel im Sozialismus, das Malibu Beach der DDR. Die Stars, die hier wohnten, die Schauspieler und Regisseure und Komponisten und Sänger, all die also, die den Sozialismus und seine Insassen bei Laune halten sollten, fuhren hier Wasserski, gaben Cocktailpartys, rasten im Porsche über den Schmöckwitzer Damm, während an der Grenze scharf geschossen und Familien auseinandergerissen wurden. Nur selten bekamen sie eine Ahnung davon, dass auch sie in einem Überwachungsstaat lebten - als, wie Björn Casapietra erzählt, jemand im Konsum die Mutter eines Freundes ansprach, ob es stimme, dass ihr Sohn und Björn pornographische Filme anschauten. Jemand musste sie beobachtet haben; sie zerhackten aus Angst die Kassette mit einem Beil und verbrannten die Reste. Ein Freund seines Vaters, erzählt Björn Casapietra, war der Komponist Paul Dessau, der schon vor dem Krieg mit Giacomo Puccini und Enrico Caruso zusammengearbeitet hatte und als einer der führenden Filmkomponisten des beginnenden Tonfilmzeitalters galt. Den Krieg hatte Dessau im Exil in Hollywood überlebt, 1948 war er nach Ost-Berlin zurückgekehrt, wie Kegel machte auch er die junge DDR-Musikavantgarde mit Hans Werner Henze und Luigi Nono bekannt. Auch Dessau, erzählt Björn Casapietra, gehörte zur Rauchfangswerder-Boheme, einmal sei der kommunistische Erfolgskomponist in seinem Porsche angehalten worden und habe die Polizisten angeschrien: "Mensch, in Vietnam ist Krieg, und ihr lauert hier einem Genossen im Busch auf!"

Das sind die Geschichten, die man erzählt, wenn man auf Rauchfangswerder groß wird, und zu diesen Geschichten gehört auch die des amerikanischen Schauspielers und Sängers Dean Reed, der 1973 als bekennender Sozialist in die DDR gezogen war und 1986 unter ungeklärten Umständen auf Rauchfangswerder starb. "Das waren unsere Nachbarn", erzählt Björn Casapietra. "Alex Reed war mein bester Freund, Dean wie ein zweiter Vater. Ich habe ihn sehr bewundert. Er war wild, er ist mit uns Motocross und Wasserski fahren gegangen." Die Geschichte dieses Nachbarn ist die eines Popstars, der so gründlich in die ideologischen Mühlen des 20. Jahrhunderts geriet wie kaum ein anderer. In seinem früheren Leben war Reed das gewesen, was man ein Teenageridol nannte - und während die Amerikaner ihn nur mäßig feierten, drehte halb Lateinamerika durch, wo immer er auftauchte. Er war die Shakira des Rock-'n'-Roll-Zeitalters, nur andersherum. Während einer Tournee durch Argentinien, Chile, Brasilien und Peru 1961 lernte er chilenische Gewerkschaftsführer kennen. Er wurde politischer, gab Gratiskonzerte in Armenvierteln. Che Guevara besuchte ihn in seinem Haus in Buenos Aires. Danach sah man Reed vor der amerikanischen Botschaft in Rom gegen den Vietnamkrieg demonstrieren; er war der erste prominente Cowboy, der "Ho Chi Minh" rief. 1971 lernte er auf der Internationalen Leipziger Woche für Dokumentar- und Kurzfilm seine spätere Frau kennen, ein paar Jahre später saß er als Marxist auf Rauchfangswerder und hisste eine rituell von den Sünden seiner Heimat gereinigte US-Flagge. Bei der Obrigkeit sorgte er zunächst nur dadurch für Verstimmung, dass er sich weigerte, Jassir Arafat zu bespitzeln. 1982 dann berichteten Mitarbeiter der Stasi, dass Reed beim Streit mit einem Verkehrspolizisten "die DDR mit einem faschistischen Staat verglich". Vier Jahre später ertrank er im Zeuthener See bei Berlin - ein Tod, der zu wilden Spekulationen führte: Es hieß, Reed sei von der Stasi oder dem KGB ermordet worden, weil er nach Amerika zurückzukehren gedachte, eine PR-Pleite, die sich der marode Sozialismus nicht habe leisten können. "Ich habe die Nacht vor seinem Tod noch in Erinnerung", sagt Björn Casapietra. "Ich war sechzehn und zu Besuch bei Alex. Dean und seine Frau hatten sich furchtbar gestritten. Dann ist er weggefahren; er drehte gerade, er hatte noch seinem Produzenten gesagt, dass er jetzt komme." Ein paar Tage später wurde er keine drei Kilometer vom Haus entfernt gefunden: ertrunken im See.

Zu den Geschichten über die Insel gehört auch ein Auto. Es stand in der Doppelgarage der Casapietras, die größer ist, als die meisten damals in der DDR waren. In ihr parkte neben einem Volvo ein großes Mercedes-Coupé, das die Sopranistin 1968 bekam: ein 280 SE mit Sechszylinder-Einspritzmotor und 160 PS, eines der teuersten deutschen Autos seiner Zeit. Selbst im Westen konnten sich wenige so einen Wagen leisten, entsprechend verblüfft war man auf dem Kurfürstendamm, wenn dort der große Wagen mit dem DDR-Kennzeichen IA 66-22 parkte: Die Primadonna des Ostens war gekommen, um einzukaufen.

"Wir sind", sagt Björn Casapietra, "als ich klein war, immer zu Ullrich am Zoo gefahren", mindestens zweimal die Woche. "Das ist eine meiner ersten Erinnerungen: Wie diese riesigen Scheinwerfer des Mercedes die Einfahrt herumkamen. Bei dem Eindruck, den so ein Auto in der DDR gemacht hat, kam man gar nicht umhin, angestarrt zu werden. Es standen Trauben um das Auto, egal, wo wir hinkamen." Mit dem Mercedes seien sie durch die DDR, über den Brenner, nach Italien gefahren, ein Grenzer habe das Auto mit dem ostdeutschen Kennzeichen und die italienischen Pässe angestarrt und leise zu seinem Kollegen gesagt: Hier kommt die Geliebte von Honecker. "Natürlich war meine Mutter empört und rief durchs Fenster: 'Was erlauben Sie sich! Ich bin Kammersängerin!'"

Sie verbrachten den Sommer in Genua bei der Familie, die eine Druckerei besaß, Björn hörte Duran Duran, wie ein normaler westeuropäischer Jugendlicher dieser Jahre. Er lebte in einer DDR, die surreal war, einer DDR mit Reisefreiheit und allen konsumistischen Segnungen des Westens. "Es war seltsam: Wenn wir nach dem Urlaub in den Osten zurückgekommen sind, war da dieser seltsame Stimmungswechsel", sagt er. "Die Laternen, die gelblich-orange leuchteten, dieser Geruch, den nur Trabants und Wartburgs produzieren, so eine Traurigkeit, gleichzeitig das Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein." 1970 hatte seine Mutter darauf bestanden, dass er in Italien zur Welt kommt. Deshalb hatte Björn Casapietra einen italienischen Pass und durfte, wie sie, über die Grenze, wann immer er wollte. Seine Freundin brachte ihn später, als er kurz vor dem Mauerfall in einem Notenhaus in West-Berlin arbeitete, bis zum Checkpoint Charlie, dann musste er allein weitergehen; die Grenzer kannten ihn; für ihn galt die DDR nicht. Wurde über Politik geredet zu Hause? War es ein Thema, warum die Familie nach Italien durfte und zum Einkaufen auf den Kurfürstendamm, die Klassenkameraden aber nicht? Nein, sagt er. Zu Hause sei mehr oder weniger durchgehend über Musik geredet worden, Musik war das, was Celestina Casapietra mit dem zwanzig Jahre älteren Kegel verband. "Zu Weihnachten", sagt Björn Caspietra, "schenkte mein Vater meiner Mutter eine Don-Giovanni-Aufnahme mit Maria Callas und schrieb aufs Cover der Platte: Du bist die bessere Donna Anna."

Am Zerfall der DDR hat Björn als Sänger vielleicht ein wenig mitgearbeitet. Kurz vor dem Mauerfall entstanden Bands wie "Herbst in Peking" oder "Wartburgs für Walter", ein sehr erboster, Ska-lastiger Anarcho-Punk, der mit dem sanften Puhdys-Pop nicht mehr viel gemein hatte. Jetzt war da die sehnsuchtsvolle rauhe Stimme der Sängerin Ina, die aus dem Umfeld einer Band namens "Grabnost" kam, die Songs hießen jetzt "I am looking for Explosion", Feeling B sang das "Lied von der unruhevollen Jugend", und Björn Casapietra, der dank seiner Westverbindung an die buntesten Haarfärbemittel kam, trat mit der Band "die Beamten" auf.

Eines Morgens, erzählt er, habe dann seine Mutter zu ihm gesagt, irgendetwas sei los in der Stadt. Als er über die Leipziger Straße zum Checkpoint Charlie kommt, sieht er die Massen dort stehen - es war der Tag, an dem die Mauer geöffnet wurde. " Ein Grenzer rief ihm laut entgegen: "Ach, unser Stammgast!" Keine Begrüßung, mit der man sich an diesem Tag Freunde machen konnte.

Die Zeit nach dem Mauerfall war nicht einfach für die Familie. Kegel und Casapietra hatten sich schon 1983 getrennt, jetzt ist der Dirigent ernsthaft krank und leidet unter Anfällen. Er schreit Musiker an, wird freigestellt, kommt in eine Nervenheilanstalt. Am 20. November 1990 bringt er sich um.

Björn Casapietra studiert erst Popularmusik, hat dann als Schauspieler Erfolg und entscheidet sich schließlich für eine Karriere als Sänger. Mittlerweile ist seine Mutter seine Gesangslehrerin. "Wir singen uns vor Konzerten, weil sie viel in Italien ist, am Telefon ein", erzählt er. "Star-Tenor singt sich auf dem Klo ein", stand in der "Bild". Im Winter wird er wieder auftreten, eine Adventstournee, sie heißt "Zeit der Engel". Celestina Casapietra selbst tritt kaum noch auf. Man hatte ihr in Berlin keinen schönen Abschied bereitet, damals, als Daniel Barenboim kam, musste sie gehen, obwohl sie stimmlich so gut war wie kaum je zuvor. Sie lebt jetzt die meiste Zeit bei Portofino; manchmal, heißt es, könne man sie in der kleinen Kirche von Sori am Sonntag das Ave Maria singen hören.

Den Mercedes verkaufte sie 1978; ein West-Berliner Gastronom kaufte ihn, ließ ihn Brombeerrot-Metallic lackieren und behielt ihn bis zu seinem Tod vor zwei Jahren. Danach landete der Wagen bei einem Autohändler im Meilenwerk, aus dessen Hallen er über die Ostertage letzten Jahres gestohlen wurde. Von wem? Warum gerade dieses Auto? Die Fahrzeuge, die daneben standen, waren deutlich teurer, Aston Martins, Ferraris. Vielleicht war es ein Fan. Vielleicht steckt irgendeine Geschichte dahinter, eines der zahllosen Geheimnisse der Insel Rauchfangswerder.

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Letzte Änderung: 2009-08-09