"In einem Anfall von Depression ..."
Selbsttötungen in der DDR
Udo Grashoff, Ch. Links Verlag, 2006
Im Kapitel 6 "Praktiken des Verschweigens" wird Dean Reed erwähnt.
Wie glücklich waren die Menschen im Arbeiter- und Bauernparadies wirklich? Die DDR gehörte
zu den Staaten, in denen überdurchschnittlich viele Menschen durch eigene Hand starben. Im weltweiten
Vergleich der Selbsttötungsraten nahm der "erste sozialistische Staat auf deutschem Boden" einen
Spitzenplatz ein.
Der Leipziger Historiker und Biochemiker Udo Grashoff hat mehrere tausend Suizidfälle ausgewertet
und fertigte erstmalig eine Analyse des Selbstmordgeschehens für die gesamte Zeit der DDR an. Dabei
zeigt er unterschiedliche Arten im Umgang mit Selbsttötungen auf und geht auf entsprechende Entwicklungen
im medizinischen Bereich ein. Zugleich behandelt er den durch Partei und Staat vorgegebenen ideologischen
Diskurs dazu und die damit verbundenen kulturellen Praktiken. Der Zusammenhang zwischen Repression und
Suiziden wird anhand von bisher unveröffentlichtem statistischem Material wissenschaftlich erörtert.
Ch. Links Verlag
Rezension in "Politische Literatur" am 13.11.2006 im Deutschlandfunk
Rezension in "Die Welt" am 02.11.2006
Lesung, Veranstaltungsbericht, Stiftung Aufarbeitung 02.11.2006
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Kapitel 6.2. Vertuschen oder berichten?
Die Veröffentlichungspraxis der SED bei Selbsttötungen höherer Funktionäre
S. 310, Fußnote 34:
Schon beim Tod von Dean Reed hatte der MfS-Untersuchungsführer keinen Anlass dafür
gesehen, die wahre Todesursache zu vertuschen. Seine Nachfrage beim ZK war damals jedoch noch
zurückgewiesen worden. Vgl. Jan Eik,
Besondere Vorkommnisse.
Politische Affären und Attentate, Berlin 1995, S. 252.
Kapitel 6.4. Das Tabu als Nährboden für Übertreibungen und Gerüchte
S. 313-314
Die SED schuf durch das Zurückhalten von Informationen über Selbsttötungen immer
wieder Anlässe für wilde Spekulationen; so auch 1986 im Fall des prominenten, aus den
USA in die DDR übergesiedelten Sängers und Schauspielers Dean Reed. Verwandte und
Freunde des Verstorbenen, darunter auch Reeds Managerin, äußerten bereits eine Woche
nach der Bekanntgabe des offiziell als "tragischer Unglücksfall" deklarierten Todes den
Verdacht, es könnte ein Mord gewesen sein.47 Zur selben Zeit wurde im Westen verbreitet,
Reeds Leiche sei mit einem Strick um den Hals aus seinem Auto gefischt worden. Ein AP-Korrespondent
bezeichntete den Tod von Dean Reed als den "zumindest im Westen aufsehenerregendsten Kriminalfall
der DDR", der sich "seit dem tragischen Ende des in Stasi-Untersuchungshaft verstorbenen Jenaers
Matthias Domaschk im Jahr 1981" ereignet hätte.48 Es wurde spekuliert, dass
Dean Reed für westliche Geheimdienste gearbeitet haben könnte, oder dass der
Staatssicherheitsdienst ihn durch einen Mord von einer Rückkehr in die USA abhalten wollte.
Die Spekulationen, denen die SED-Führung durch das Verschweigen des Abschiedsbriefes und
die Angabe einer falschen Todesursache den Nährboden bereitet hatte, setzten sich bis in die
jüngere Gegenwart fort. Erst im Jahr 2003 sorgte der im vollen Wortlaut veröffentlichte
Abschiedsbrief für endgültige Klarheit.49
Dean Reed hatte sich am 11. Juni 1986 nach einem Streit mit seiner Frau die Pulsader aufgeschnitten;
am folgenden Tag war der Schauspieler nach einem erneuten Streit zu einem Freund
gefahren, hatte unterwegs angehalten, auf die Rückseite eines Filmskripts letzte Worte notiert
und sich dann das Leben genommen. Bei der Fahndung hatte die Polizei zunächst seinen PKW gefunden,
der "in einem Zustand höchster Erregung abgestellt wurde (Beschädigung der vorderen
Stoßstange infolge Anstoßes an einen Baum, unverschlossene Türen und
Kofferraumklappe)".50 Reed hatte den in großen, krakeligen Buchstaben geschriebenen
Abschiedsbrief auf den Rücksitz gelegt, dann zunächst das Abschleppseil ausgepackt (wahrscheinlich,
um sich zu erhängen), war schließlich aber ins Wasser gegangen, wo er (auch infolge der
vorher eingenommenen Tabletten) ertrank.51 Die Obduzenten hatten bei der Untersuchung
des Leichnams nicht nur spezifische Merkmale für einen Ertrinkungstod, sondern auch eine toxische
Menge eines Beruhigungsmittels gefunden.52
Fußnote 47:
Vgl. Peter Michalski, US-Popstar von 'DDR'-Geheimdienst ertränkt, in
BILD vom 24. Juni 1986, S. 10;
BStU, MfS, HA IX, Nr. 11460, Bl. 1-4
Fußnote 48:
BStU, MfS, AP 2278/92, Bd. 1, Bl. 176
Fußnote 49:
Zwar waren die meisten Fakten und auch der Abschiedsbrief in den MfS-Akten seit Anfang der
1990er Jahre zugänglich. Aber für die Medien war wohl in den Jahren nach der
Wiedervereinigung die Spekulation über einen Geheimdienstmord interessanter als
die traurige Wirklichkeit.
Fußnote 50:
BStU, MfS, AP 1178/92, Bd. 1, Bl. 100
Fußnote 51:
Vgl. BStU, MfS, AU 12332/86, Bd. 1, Bl. 20, 29, 114-129
Fußnote 52:
Vgl. Gunther Geserick/Klaus Vendura/Ingo Wirth,
Zeitzeuge Tod,
Leipzig 2003, S. 205-215
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