Aufruf von Abdullah Öcalan für Frieden und eine demokratische Gesellschaft

Redaktion – 27. Februar 2025

Eine Delegation der kurdischen DEM-Partei hat heute, am 28. Februar 2025 auf einer Pressekonferenz im Elit World Hotel in Istanbul den mit Spannung erwarteten Aufruf von Abdullah Öcalan veröffentlicht. Die Erklärung wurde zunächst auf Kurdisch von dem abgesetzten Bürgermeister Ahmet Türk aus Mêrdîn (türk. Mardin) und anschließend auf Türkisch von der DEM-Abgeordneten Pervin Buldan verlesen und von zahlreichen Anwesenden mit Applaus kommentiert.

Die Imrali-Delegation der DEM-Partei auf der Pressekonferenz am 28. Februar 2025 in Istanbul

Der Aufruf von Abdullah Öcalan vom 25. Februar 2025 lautet:

Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft

Die PKK wurde im 20. Jahrhundert gegründet, in der gewalttätigsten Epoche der Menschheitsgeschichte mit zwei Weltkriegen, im Schatten der Erfahrung des Realsozialismus und des Kalten Krieges auf der ganzen Welt. Die völlige Leugnung der kurdischen Realität, die Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten – insbesondere der Meinungsfreiheit – spielten eine bedeutende Rolle bei ihrer Entstehung und Entwicklung.

Die PKK stand hinsichtlich ihrer angenommenen Theorie, ihres Programms, ihrer Strategie und ihrer Taktik unter dem starken Einfluss der Realitäten des Jahrhunderts und des Systems des Realsozialismus. In den 1990er Jahren führten der Zusammenbruch des Realsozialismus aufgrund interner Dynamiken, die Auflösung der Leugnung der kurdischen Identität im Land und Verbesserungen der Meinungsfreiheit zu einer Schwächung der grundlegenden Bedeutung der PKK und zu einer übermäßigen Wiederholung. Wie ihresgleichen hat auch sie ihre Lebensdauer erreicht – dies erfordert eine Auflösung.

In ihrer über tausendjährigen gemeinsamen Geschichte waren die Beziehungen zwischen Türk:innen und Kurd:innen durch gegenseitige Zusammenarbeit und Bündnisse geprägt. Türk:innen und Kurd:innen hielten es für unerlässlich, in diesem freiwilligen Bündnis zu bleiben, um ihre Existenz zu sichern und gegen Hegemonialmächte zu überleben.

Die letzten zweihundert Jahre der kapitalistischen Moderne waren vor allem von dem Ziel geprägt, dieses Bündnis zu brechen. Die beteiligten Kräfte haben im Einklang mit ihren klassenbasierten Interessen eine Schlüsselrolle bei der Förderung dieses Ziels gespielt. Durch monistische Interpretationen der Republik hat sich dieser Prozess beschleunigt. Heute besteht die Hauptaufgabe darin, die historische Beziehung, die äußerst fragil geworden ist, neu zu strukturieren, ohne dabei die Berücksichtigung von Überzeugungen im Geiste der Geschwisterlichkeit auszuschließen.

Die Notwendigkeit einer demokratischen Gesellschaft ist unumgänglich. Die PKK, die längste und umfangreichste Aufstandsbewegung und bewaffnete Bewegung in der Geschichte der Republik, fand eine soziale Basis und Unterstützung und wurde in erster Linie durch die Tatsache inspiriert, dass die Kanäle der demokratischen Politik verschlossen waren.

Das unvermeidliche Ergebnis der extremen nationalistischen Abweichungen – wie ein separater Nationalstaat, eine Föderation, Verwaltungsautonomie oder kulturalistische Lösungen – ist keine Antwort auf die historische Soziologie der Gesellschaft.

Respekt für Identitäten, freie Selbstdarstellung und demokratische Selbstorganisation jedes einzelnen Gesellschaftsteils auf der Grundlage ihrer eigenen sozioökonomischen und politischen Strukturen sind nur durch die Existenz einer demokratischen Gesellschaft und eines politischen Raums möglich.

Das zweite Jahrhundert der Republik kann nur dann eine dauerhafte und geschwisterliche Kontinuität erreichen und sichern, wenn es von Demokratie gekrönt ist. Es gibt keine Alternative zur Demokratie bei der Verfolgung und Verwirklichung eines politischen Systems. Der demokratische Konsens ist der grundlegende Weg.

Im Einklang mit dieser Realität muss eine Sprache der Epoche des Friedens und der demokratischen Gesellschaft entwickelt werden.

Der Aufruf von Herrn Devlet Bahçeli, zusammen mit dem vom Herrn Präsidenten geäußerten Willen und den positiven Reaktionen der anderen politischen Parteien darauf, hat ein Umfeld geschaffen, in dem ich einen Aufruf zur Niederlegung der Waffen mache, und ich übernehme die historische Verantwortung für diesen Aufruf.

Beruft euren Kongress ein und fasst einen Beschluss zur Integration in den Staat und die Gesellschaft, wie es jede moderne Gesellschaft und Partei, die nicht zur Auflösung gezwungen wurde, freiwillig tun würde; alle Gruppen müssen ihre Waffen niederlegen und die PKK muss sich auflösen. Ich grüße alle, die an das Zusammenleben glauben und meinen Aufruf beherzigen.

25. Februar 2025, Abdullah Öcalan“

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Wir betrachten den Weg des Genossen Öcalan und der PKK mit gemischten Gefühlen und werden das weitere Vorgehen und die Strategie der kurdischen Genossen weiter kritisch begleiten. Vorerst verweisen wir auf eine aktuelle Ausarbeitung zur Einschätzung der Werke Öcalans und der Strategie der PKK.
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Die Irrtümer des Genossen Abdullah Öcalan –
Warum ist Abdullah Öcalan kein Marxist-Leninist?

Am 29. Juni 2024 jährte sich zum 25. Mal die Verurteilung des führenden kurdischen Befreiungskämpfers Abdullah Öcalans zur Todesstrafe durch die türkische Justiz. Der Prozess fand auf der Gefängnisinsel Imrali statt, auf der Öcalan bewacht von über 1. 000 Soldaten 10 Jahre als Einzelgefangener saß, so viel Angst haben Faschisten vor einem Mann, den sie für einen Revolutionär halten, dann kamen drei weitere politische Gefangenen hinzu. Alle sitzen in Einzelhaft. 2002 kam die faschistische Bourgeoisie der EU entgegen, sie schaffte die Todesstrafe ab und änderte die von Öcalan in eine verschärfte lebenslange Haft um, so dass jede Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung ausgeschlossen bleibt. Er existiert unter äußerst unmenschlichen Bedingungen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich 2013 auf die Seite Öcalans gestellt, 2015 forderten 50 Nobelpreisträger die Beendigung der Isolationshaft.

Abdullah Öcalan wurde am 4. April 1948 im Dorf Amara geboren. Er absolvierte die Berufsschule für das Katasterwesen und arbeitete in jungen Jahren zunächst als Beamter, studierte Jura an der Uni Istanbul und wechselte dann zur Fakultät der Politikwissenschaft der Uni Ankara. Die türkische Linke lehnte es ab, die Kurdenfrage zu thematisieren, so dass er eine eigene Gruppe mit dem Leitmotiv ‘Kurdistan ist eine Kolonie‘ gründen musste. 1973 formulierte sein Kampfgenosse Pirs für die kurdische Emanzipationskonzeption einen Schlüsselsatz: “Die Befreiung des türkischen Volkes hängt von der Befreiung des kurdischen Volkes ab“. In der Türkei ist die kurdische Sprache offiziell verboten. Im Sommer 1978 erschien das fundamental-programmatische ‘Manifest‘, eine Art Kompass für den Weg der Revolution in Kurdistan. Im November 1978, rief er im kurdischen Dorf Fis die Gründung der PKK aus: Der Arbeiterpartei Kurdistans. Der Militärputsch von 1980 ließ den Stab Öcalan außer türkischen Landes gehen. Fast 20 Jahre unterrichtete er die PKK-Mitglieder politisch und militärisch, wobei die politische Ausrichtung Vorrang besaß. Gleichwohl befasste er sich mit Volkskriegskonzepten gegen den türkischen Faschismus. Eine Frontbildung mit der türkischen Linken kam nicht zustande, aber am 15. August 1984 ist die erste militärische Operation zu verzeichnen: Ein Überfall auf zwei türkische Militärposten. Der kurdische Befreiungskrieg entwickelte sich Anfang der 90er Jahre auf eine neue Stufe, zusammengefasst in Öcalans Worte: ‘Die Zeit der Auferstehung ist vollendet, jetzt geht es um die Befreiung‘. Und mit dieser meinte er vor allem die Befreiung nicht der Proletin, sondern abstrakt der Frau. Der Klassenkampf und die Dialektik von Revolution und Konterrevolution verschwanden vom Horizont des Sozialismus. 1997 erschien sein Buch mit dem unwissenschaftlichen Titel: ‘Den Mann töten‘! Die Auseinandersetzung mit dem Zusammenbruch des Sozialimperialismus, in der Sowjetunion und ihren den RGW-Ländern bewirkte bei ihm eine theoretische Wendung zum Negativen. Er selbst sah es positiv als Befreiung vom dogmatischen Denken. Das Problem bestand darin, dass hinter der Blendung durch die trotz des Verrats ab 1956 intakt gebliebenen theoretischen Fundamente des Marxismus-Leninismus ihnen gegenüber gegenteilig gehandelt wurde, auch wenn der Inhalt konterrevolutionär war, alles war die Fortsetzung des Werkes von Lenin. Gorbatschow berief sich heuchlerisch auf Lenins Texte der NEP-Periode. Es schlug nach dem Kollaps ab 1990 im linken Lager die Stunde der Besserwisser, die alles neu ausgestalten wollten und die Fundamente von 1917 gleich mit in den Container warfen.

Abdullah Öcalan bei einem Prozess im Jahre 2015

Wir kommen jetzt zum theoretischen Teil Öcalans, werfen einige Schlaglichter auf seine Aberrationen, um dann mit seiner Biografie bis zum Terrorurteil vom 29. Juni 1999 fortzufahren.

Öcalan war als Seele der kurdischen Emanzipation fortwährend mit der Abfassung umfangreicher theoretischer Schriften befass. Dieses setzte er in der Haft fort. Seine Schriften wurden zum Teil in über 20 Sprachen übersetzt. Es ist festzustellen, dass sozialistische Fundamente marxistisch-leninistischer Substanz des Öfteren verwässert wurden. Nicht immer werden die Dialektik von Revolution und Konterrevolution und die proletarische Klassenkampftheorie zu Grunde bzw. richtig zu Grunde gelegt. Dann findet man in diesen Werken bizarre Blüten, nett zu lesen, aber unwissenschaftlich. Dabei pöbelt Öcalan pöbelt von Zeit zu Zeit gegen die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Sauberste wissenschaftliche Werke, insbesondere gesellschaftswissenschaftliche, in Gefängnissen, hier sogar unter Bedingungen der Isolationsfolter, zu verfassen, ist sicher nicht einfach. Eine Koryphäe wie Rosa Luxemburg hat in einer Gefängnisschrift die Oktoberrevolution harsch kritisiert, nach ihrer Entlassung aus dem Knast, jetzt bestens mit Material versorgt, erkannte sie ihren Humbug. Diese Schrift wurde zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht, nach ihrem Tod perfide-revisionistisch gegen den Leninismus verwandt. Lenin hielt uns an, von den Massen zu lernen, bis zu einem gewissen Grad mit ihnen verschmelzen, das ist unser spezifisches Lernmilieu, Aug und Ohr an den Massen, während der Bourgeois zu Hause sitzt, komfortabler als Öcalan, aber ebenso isoliert wie er, in seinem Studierzimmer hockt und Massenfeindliches, Volksfeindliches nur verzapfen kann.  Öcalan hat auf Imrali keine Augen und keine Ohren. Humbug ist daher auch Öcalans Frauen- und Jugendschrulle, sein Matriarchatskult. Ganz pauschal die Frauen und die Jugend müssen es richten, nicht die proletarische Trias: Landproletarierin, kleine Bäuerin, Arbeiterin / Landarbeiter, kleiner Bauer, Arbeiter / Landarbeiterjugend, kleinbäuerliche Jugend, Arbeiterjugend, denn die Frauen und die Jugend werden vom Patriarchat unterdrückt. Erst die feministische Bewegung, so spukt es in seinem Kopf herum, hätte uns dazu gebracht, über den sexistischen Charakter von Umweltzerstörung, Kriegen, Macht und Herrschaft nachzudenken, die Wissenschaft sei sexistisch1. Das kommt bei der kleinbürgerlichen linken Studentenschaft gut an. Der bürgerliche Feminismus, der Begriff jineoloji (Wissenschaft der Frau), erst habe uns auf den richtigen wissenschaftlichen Weg gebracht, auf den Hund des Sexismus. Oder nehmen wir die Broschüre: ‘Den dominanten Mann töten und verändern‘. Töten und verändern!! Was für eine bizarre Logik! Das hat im Marxismus-Leninismus nichts zu suchen und hat auch nichts mit der Befreiung vom dogmatischen Denken zu tun. Öcalan meint undogmatisch zu denken, wobei er vergaß, dass es eine Schrift von Engels aus den Jahren 1851/52 gibt: ‘Revolution und Konterrevolution in Deutschland‘. Revolution und Konterrevolution – das ist fundamental: Revolution und Konterrevolution, diese Dialektik ist grundlegend. An dieser brechen sich Öcalans Pauschalisierungen die Zähne aus. Lenin sei nach ihm dicht an eine richtige Definition von Staat und Gesellschaft herangekommen. Das ist wissenschaftlich ganz unpräzise, denn Lenin hat eine richtige Definition von der bürgerlichen Gesellschaft und vom bürgerlichen Staat gegeben, den Zusammenbruch der SU kann man ihm nicht in die Schuhe schieben. Die Gesellschaft war für ihn das Produkt des wechselseitigen Handelns der Individuen und der Staat eine Maschine zur Klassenunterdrückung. Engels und Lenin hätten nicht erklärt, wie der Staat entstand2. Oh doch, das haben sie: Engels in seiner Schrift über ‘Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie‘ im IV. Teil (MEW 21, 300 – 303). Lenin spricht in seiner Vorlesung ‘Über den Staat‘ von einer Überschussproduktion über den gesellschaftlich notwendigen Lebensmitteln hinaus, so dass unproduktive Regierungsspezialisten leben können. Und Öcalan selbst: Der Staat lauert überall wie ein verborgener Gott in der Gesellschaft. Staat = Gott – ein Rückschritt hinter den Marxismus-Leninismus: Der Staat ist eine Maschine zur Klassenunterdrückung. Er bewertet folgerichtig die modernen bürgerlichen Wissenschaftler negativer als die sumerischen Priester, Allah ist für ihn ein Maß für die wahre Göttlichkeit. Allah sei der erste Begriff von Gesellschaft, für Lenin ist Allah geistiger Fusel, mit dem der Sklave sein Sklavendasein betäubt. Wir schreiben doch Texte gegen den Kapitalismus für dessen Einsturz, wir schreiben doch nicht gegen einen bösartigen Gott an. (Eine Kleinigkeit am Rande: Der Verlag, der bei den Öcalan-Ausgaben recht schlampig gearbeitet hat, in ‘Jenseits von Staat, Macht und Gewalt‘ fehlt im Personenregister eine ganze Seite, ein Sprung von Hiob auf Thomas Morus liegt vor, gebraucht bei Jahreszahlenangaben kontextgemäß der religiösen Formel:  v. Chr.).

Öcalan jubelt dem Marxismus-Leninismus eine linearhistorische Entwicklungskonzeption unter, während doch Lenin von einer spiralförmigen Entwicklung spricht, das Frühere wird auf späterer Stufe anders wiedergegeben. Falsch ist Öcalans undogmatische Behauptung, der Kapitalismus habe sich nicht historisch zwangsläufig aus dem Feudalismus entwickelt4, der Marxismus habe durch seine Zwangsläufigkeitsthese einen Riesen(!) Beitrag zum Kapitalismus geleistet. Das ist ungeheuerlich und hanebüchen! Geleugnet wird das Gesetz der Negation der Negation. Der Kapitalismus negiert zwangsläufig den Feudalismus, der Sozialismus den Kapitalismus.  Hier spricht Marx direkt von der Negation der Negation5. Frei von Dogmatismus behauptet Öcalan der Kapitalismus sei kein Schicksal, es hätte auch anders kommen können.  Er belehrt die Klassiker, dass gesellschaftliche Dynamiken anders ablaufen. Man könne sie nicht nur mit Basis und Überbau erklären, das sei zu simpel. Jetzt ist der Platz da für allerhand Unsinn: Für einen verborgenen Gott, für die Gleichstellung einer kapitalistischen Ausbeuterhure, einer Bordellhure mit einer doppelt geschundenen Arbeiterin (Fabrik und Haushalt) Die theoretische Odyssee des Herrn Öcalan kann beginnen.

Wir kennen den beliebten Kunstgriff der linken Phantasten mit marxistisch-leninistischen Make-Up: Es sei komplizierter als die simple Basis Überbau Schablone. Wenn wurzellose linke kleinbürgerliche Intellektuelle das hören, werden sie geradezu hippelig.  Was bieten ihnen die philosophischen Modepuppen an? “Man kommt einer Lösung näher, wenn man die Entwicklung der historischen Gesellschaftssysteme nicht mit zwingenden Gesetzen, sondern mit dem jeweiligen ideologischen, politischen und moralischen Kampfstil der Zeit in Zusammenhang bringt. Der Mensch sei sowohl als Individuum als auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen sehr flexibel und in der Lage Veränderungen schnell umzusetzen. Die strengen Gesetzlichkeiten die man bei physikalischen, chemischen und biologischen Phänomenen beobachtet, gelten eben nur im Rahmen von Physik, Chemie und Biologie. Für alles andere sind die menschliche Intelligenz und die Gesellschaft entscheidend6. Nicht nur, dass Öcalan ausschließlich im Überbau herumstochert, er reißt eine der größten Errungenschaften des Marxismus-Leninismus ein, dass die Wissenschaft von der Geschichte der Gesellschaft trotz aller Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu einer genauso exakten Wissenschaft werden kann wie sagen wir, die Biologie, zu einer Wissenschaft   imstande ist, die Entwicklungsgesetze in der Praxis auszunutzen7. Lenin hatte die Natur- und die Gesellschaftsdialektik aneinander festgeknebelt: In der Mechanik Wirkung und Gegenwirkung, in der Gesellschaftswissenschaft Klassenkampf8.

Natürlich muss Öcalan auch am Manifest rummäkeln: Bei Marx und Engels heißt es: Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört9. Das sei aber keine revolutionäre Tat der Bourgeoisie, meint der “rote“ Kurde. Marx und Engels platzierten jedoch vor dem Zerstörungssatz folgenden: Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Nach Öcalans Auslegung sind diese Ausführungen der Gesellschaftsfeinde Marx und Engels gegen jede Menschlichkeit gerichtet, sie berauben der Gesellschaft jeden Schutz. Er begreift nicht, dass es um die völlige Vernichtung der Bourgeoisie geht. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Menschen und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“10. Diese Nacktheit ist revolutionär, eine Notwendigkeit, dass die proletarischen Totengräber aktiv werden. können. Der Kapitalismus habe die Ketten der Frauen (“Kanarienvögel im Käfig“) verstärkt. Die Revolution beginnt mit der Jugend und den Frauen und sie endet jung und feminin.

Ein Missgeschick liegt auch beim Politikbegriff vor. Politik verfestige im Gegensatz zur Demokratie staatliche Macht, es gibt wahrscheinlich nichts, was der Demokratie so sehr entgegensteht wie die Politik Das ist falsch. Demokratie steht nicht im Gegensatz zur Staatsmacht, sondern ist eine deren Formen. Lenin gab uns im ‘Linken Radikalismus‘ die Koordinaten der Politik vor: Die Massen sind in Klassen aufgeteilt, die Klassen werden von Parteien geführt, die wiederum von den Gruppen der autoritativsten, einflussreichsten, erfahrensten Kader11.  Politik sei Kampf um die Macht im Staate, wer die politische Macht hat, diese Frage entscheidet alles.

Gegenüber Marx und Engels spielt sich Öcalan als Dialektiker auf. Die urkommunistische Gesellschaft habe für Marx und Engels schon vor Jahrtausenden zu existieren aufgehört und sei für sie ein ausgestorbenes System12. Das ist falsch. Die Negation der Negation im gesellschaftlichen Prozess entwickelt die urkommunistische Gesellschaft mit, die sich im Kommunismus auf der Höhe der Zivilisation wieder ausstülpt. Statt auf den Urkommunismus will Öcalan auf die Stammzelle zurück.

Falsch ist es, dass nicht allein die Klassenkämpfe Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts sind, “sondern ebenso der große Widerstand der kommunalen gesellschaftlichen Werte“13. Klassenkämpfe seien nur eine unter mehreren historischen Dynamiken. Das ist einzig und allein Intellektuellengeschwafel. Ebenso: Der Marxismus habe Gesellschaft und Umwelt mehr in den Dienst des Systems gestellt als der Kapitalismus und war so von vornherein auf mentaler Ebene unterlegen.14. Als habe es in der Sowjetunion keine Vergesellschaftung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gegeben.

Der größte Fehler Lenins sei es gewesen, den Sozialismus durch einen hochzentralisierten Staat und ebensolche hochzentralisierte Partei durchzusetzen. Falsch ist es, die Oktoberrevolution auf Lenin zu personifizieren. Die Bolschewistische Revolution war für den Kurden ein Ergebnis der Auseinandersetzung Lenins mit dem ersten Weltkrieg15. Die beiden Revolutionen 1917, die letzte im Oktober, brachen trotz der Genialität Lenins und Stalins nicht subjektiv bedingt aus, “sondern kraft des Zusammentreffens besonderer Umstände und besonderer Bedingungen“16.

Was strebt Öcalan an? Eine demokratisch-ökologische sich grundsätzlich außerhalb von staatlicher Macht befindliche feminin ausgerichtete Gesellschaft als moralisches System ohne Diktatur des Proletariats. Das ist modisch und klingt chic. Ein moralisches System, in dem eine nachhaltige dialektische Beziehung mit der Natur besteht und das in seinem Inneren nicht auf Herrschaft beruht, sondern in dem das Gemeinwohl durch direkte Demokratie bestimmt wird17. Hohles Geschwafel eines Dutzendliberalen, der nicht begreift, dass nur durch die Diktatur des Proletariats hindurch die proletarische Demokratie abstirbt.   Desgleichen: Wenn die Gesellschaft nicht hierarchiefrei zu leben versteht, wird sie weiterhin einen Prozess legitimieren, der ihren Interessen widerspricht. Wir sehen, sein Werk strotzt nur so von Ausfällen gegen den Marxismus-Leninismus.  Marx und Engels haben nicht, wie er uns glauben machen will, ein Gegen-System zum kapitalistischen System errichtet, die Diktatur des Proletariats ist ein absterbender Halbstaat, nach Engels schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr. Sie hätten oberflächliche Analysen von Staat und Gesellschaft geliefert, sie hätten nicht die Hegel‘sche Staatsanalyse überwunden, nebenbei: Es gibt keine tiefere Kritik des Hegelschen Staatsrechts als die von Marx. Marx und Engels hätten den Ausgang der Kapitalismusentwicklung nicht in den italienischen Küstenstädten verortet, oh doch, siehe Engels: Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie (MEW 21,392), sie akzeptierten auch nicht die vulgärmaterialistischste Form des Positivismus als Wissenschaftlichkeit, im Gegenteil. Öcalan will die bürgerliche Soziologie beibehalten, es kann heute nur eine bürgerlich-positivistische geben, der Marxismus-Leninismus stirbt als Anleitung zum proletarisch-revolutionären Handeln im Kommunismus mit allen Gesellschaftswissenschaften ab, es gibt nur noch Naturwissenschaften, ein Hundsfott, wer das als Positivismus bezeichnet. Der Anarchismus müsse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu bewertet werden, wir erinnern uns, Marx war Zentralist, Öcalan ist Föderalist. Natürlich bewertet er den Anarchismus positiver als den Sowjetmarxismus, die Anarchisten sind bedeutender für das Voranbringen der modernen moralischen Demokratie, mit denen die PKK Bündnisse eingehen sollte, mit den „Sowjetmarxisten“ reiche es zu Allianzen18. Es fiel oben das Wort ‘hanebüchen‘. Die Frage erregt sich, ob die Texte wirklich von dem linken Öcalan stammen oder ob es sich um geschickte, irreführende Fälschungen des türkischen Geheimdienstes handelt?

Nach dieser theoretischen Odyssee Öcalans kommen wir zurück auf seine biografische. Imperialistische Geheimdienste verfolgten diesen überschätzten Mann pausenlos, es gab Attentate, die allesamt scheiterten oder scheitern sollten. Die türkische Regierung übte Druck auf das Assad Regime aus, Öcalan musste Syrien am 9. Oktober 1998 verlassen. Es begann eine Odyssee von über 130 Tagen durch mehrere Länder Europas, die ihn abwiesen. Die NATO und die Türkei zwangen ihn, den Kontinent zu verlassen, er wollte nach Südafrika, kam aber dort nie an. Am 15. Februar 1999 fiel er einem vom türkischen Geheimdienst gelenkten Geheimdienstkomplott zum Opfer, auch der griechische war daran beteiligt, er wurde aus Nairobi auf die Insel Imrali verschleppt, auf der am 29. Juni die Todesstrafe verhängt wurde. Seine Verteidigungsrede ‘Zur Lösung der kurdischen Frage. Visionen einer demokratischen Republik‘ ließ die türkischen Richter kalt, sie wurde im Gefängnis überarbeitet und herausgeschmuggelt. Auf der Gefängnisinsel schrieb er auch das Buch ‘Jenseits von Staat, Macht und Gewalt‘ (2004), in dem eine neue Art revolutionärer Partei skizziert wurde. Öcalan fokussierte sich auf seine politischen Konzepte mit Konföderal-Strukturen, wir erinnern uns: Marx und Lenin waren Zentralisten und Verteidiger der Großraumproduktion, und auf seinen feministisch- ökologischen, wirrköpfigen Mischmasch, wobei er als Kompilator, als Fischer in fremdes Gedankengut auftrat.

In den Jahren 2005 bis 2006 unterzeichneten 3,5 Millionen Kurden eine Erklärung, dass Öcalan sie politisch vertritt. Es gibt Belege, dass der türkische Geheimdienst Öcalan systematisch vergiftet19. Am 25. Juni 2015 begannen Kurden mit einer täglichen Mahnwache vor dem Gebäude des Europarates in Straßburg, die bis heute andauert. Öcalan wird gefoltert, seine Freilassung ist ein Gebot der Menschlichkeit, zu der Faschisten unfähig sind. Ja es stimmt, es liegen Ausfälle gegen den Marxismus-Leninismus vor, aber nicht alles von ihm ist zu verwerfen, ein Beispiel: “Das Leben unter Repression wird dargestellt, als sei es ein Naturgesetz. Die Ausbeutung wurde zu einer Lebensregel erhöht“20.

  1. Vergleiche Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, UNRAST Verlag,2019, Seite 80.
  2. a.O., Seite 63.
  3. Abdullah Öcalan: Gefängnisschriften, Zivilisation und Wahrheit, UNRAST Verlag Münster, 2009,77
  4. Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, UNRAST Verlag,2019, Seite 66.
  5. Karl Marx: Das Kapital, Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960,791
  6. Vergleiche Abdullah Öcalan: Gefängnisschriften, Zivilisation und Wahrheit, UNRAST Verlag Münster, 2009, Seite 67.
  7. Vergleich Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus, in: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) Kurzer Lehrgang, Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung, Berlin, 1946, Seite 138.
  8. Vergleiche Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 464.
  9. Vergleiche a.a.O.
  10. a.O.
  11. Vergleiche Lenin: Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Lenin: Ausgewählte Werke, Progress Verlag, Moskau, 1975, Seite 582.
  12. Vergleiche Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, UNRAST Verlag, 2019, Seite 85 f.
  13. a.O., Seite 86.
  14. Vergleiche a.a.O, Seite 88.
  15. Vergleiche a.a.O., Seite 86.
  16. Lenin: Referat auf dem II. Gesamtrussischen Gewerkschaftskongress, Werke, Band 28, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 435.
  17. Vergleiche Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, UNRAST Verlag, 2019, Seite 91.
  18. Abdullah Öcalan: Soziologie der Freiheit, UNRAST Verlag, 2009, Seite 374ff.
  19. Vergleiche: Die Freiheit wird siegen, Eine kurze politische Biografie Abdullah Öcalans, Internationale Initiative für die Freiheit Abdullah Öcalans, Köln, 2023, Seite 38.
  20. Abdullah Öcalan: Gefängnisschriften, Zivilisation und Wahrheit, UNRAST Verlag Münster, 2009, Seite 152.

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