Gastautor Finn Schüttler – 11. Mai 2021
Die Zapatistas heute – Vorbild einer sozialistischen Gesellschaft?
Der Aufstand der Ejército Zapatista de Liberación Nacional und die darauf folgenden Konflikte mit dem mexikanischen Staat sorgten im Jahre 1994 auch international für Schlagzeilen. Weltweit, aber vor allem innerhalb Mexikos, gab es sehr viel Solidarität und Unterstützung für die größtenteils von Ureinwohnern geführte Organisation, welche sich gegen die kapitalistische und koloniale Ausbeutung der indigenen Territorien und für Selbstverwaltung sowie eine soziale und basisdemokratische Gesellschaft einsetzte.
Doch nach Abklingen der aktiven Kampfhandlungen verlor die internationale Gemeinschaft immer mehr das Interesse, heutzutage hört man höchstens in linken Kreisen noch gelegentlich etwas von den nach dem Anführer der Mexikanischen Revolution, Emiliano Zapata, benannten Zapatistas. Trotzdem, oder gerade deswegen, lohnt es sehr, sich mit der aktuellen Situation und den Strukturen in den von den Zapatistas verwalteten autonomen Gebieten auseinanderzusetzen. Denn an ihrem Beispiel kann man Utopien entwerfen, welche das Bild einer gerechteren und demokratischeren Gesellschaft zeichnen..
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Geschichtliche Hintergründe
Die Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), zu Deutsch „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“, gründete sich bereits im Jahre 1983 als Antwort auf die jahrhundertelange Marginalisierung und Diskriminierung von indigenen Bevölkerungsgruppen und die sich immer weiter intensivierende neoliberale Ausbeutung indigener Gebiete. Mit der Zeit gewann sie mehr und mehr Unterstützung innerhalb der Bevölkerung des südlichen Bundesstaates Chiapas in Mexiko, in welchem Armut und Perspektivlosigkeit weit verbreitet waren. Im Jahre 1991 wurde dann Artikel 27 der Verfassung der Mexikanischen Revolution, welcher besagte, dass indigenes Land nicht vom Staat verkauft oder privatisiert werden darf, aufgehoben. Kurz darauf beschloss die Regierung das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, welches drohte, den mexikanischen Markt mit billigen Importen aus den USA zu überschwemmen und somit die Lebensgrundlage der Ureinwohner, welche oftmals in der Landwirtschaft beschäftigt waren, zu zerstören. Diese beiden Ereignisse waren die hauptsächlichen Auslöser dafür, dass sich die EZLN entschied, Ausbeutung und Enteignungen nicht länger widerstandslos hinzunehmen. Am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens des Freihandelsabkommens, erklärten die Zapatistas dem mexikanischen Staat den Krieg und besetzten die Rathäuser bedeutender Städte Chiapas, befreiten indigene Gefangene und leisteten sich Gefechte mit Militär und Polizei. Diese hatten jedoch oftmals die Übermacht und konnten die Aufständischen nach einigen Tagen wieder in die ländlicheren Gebiete und den Dschungel zurückdrängen. Nach nur zwölf Tagen wurde am 12. Januar 1994 ein Waffenstillstand vereinbart, rund 300 Personen mussten in dieser Zeit ihr Leben lassen. Es begannen Verhandlungen zu einem Friedensabkommen, welche jedoch erst im Februar 1996 mit den Abkommen von San Andrés ein Ergebnis hervorbrachten. Durch diese Abkommen sollten theoretisch indigene Rechte und Selbstbestimmung gesichert werden, in der Praxis hielt sich die mexikanische Regierung aber nicht an die vereinbarten Punkte und hat diese bis heute nicht umgesetzt. Über die Jahre gab es daher immer wieder kleinere Auseinandersetzungen zwischen dem mexikanischen Militär oder rechten, paramilitärischen Gruppierungen und den Zapatistas, heutzutage ist die Sicherheitslage nichtsdestotrotz ziemlich stabil. Auch wenn die mexikanische Regierung die zapatistischen Territorien und ihre Selbstverwaltung bis heute nicht anerkennt, können die Zapatistas ein Gebiet von rund 24.403 Quadratkilometern mit ungefähr 363.583 Einwohnern (2018) für sich beanspruchen. In diesem wird eine anti-hierarchische und basisdemokratische Gesellschaft aufgebaut, welche auf kollektivem Eigentum und der Befreiung der Frau basiert. Auf politischer Ebene organisieren sich die Zapatistas föderalistisch: Unterstes Glied der politischen Strukturen sind die Volksversammlungen der einzelnen Gemeinden, in welchen die Allgemeinheit betreffende Angelegenheiten sowie persönliche Anliegen einzelner Bewohner diskutiert und basisdemokratisch Beschlüsse gefasst werden. Jede Person ab dem Alter von zwölf Jahren ist stimmberechtigt und kann sich in die demokratischen Prozesse einbringen. Diese unterschiedlichen Volksversammlungen schließen sich zu autonomen Kommunen zusammen, welche nach den gleichen Prinzipien funktionieren und sich wiederum zu Regionen föderieren. Es gibt fünf dieser Regionen, auch „Caracoles“, wörtlich übersetzt „Schneckenhäuser“ genannt, welche größtenteils unabhängig voneinander agieren und durch die „Juntas der Guten Regierung“ verwaltet werden. Diese stellen das oberste Regierungsorgan der zapatistischen Gebiete dar und setzen sich aus den in den einzelnen autonomen Kommunen für drei Jahre gewählten Vertretern zusammen. Im Gegensatz zu dem in westlichen Staaten vorherrschendem Verständnis von Demokratie können diese Vertreter, wenn sie einmal gewählt sind, jedoch nicht einfach tun und lassen, was sie wollen: Sie sind direkt von ihrer Basis abhängig und unterliegen dem Prinzip des gehorchenden Regierens. Das bedeutet, dass wer intransparent oder nicht im Sinne der Kommune handelt, zu jeder Zeit wieder abgewählt werden kann, ganz nach dem Prinzip „Aquí manda el Pueblo y el Gobierno Obedece“, zu Deutsch „Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht“. Darüber hinaus rotieren alle Amtsträger regelmäßig und tauschen ihre Zuständigkeitsgebiete aus, damit niemand zu lange eine gewisse Machtposition inne hat und alle auf den unterschiedlichen Gebieten Kompetenzen erwerben, um somit einen möglichst produktiven Austausch untereinander zu gewährleisten. . Die Etablierung basisdemokratischer Prinzipien bleibt jedoch nicht auf die politischen Strukturen der autonomen Gebiete beschränkt. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde abgeschafft und sämtliches Land in kollektives Eigentum überführt. Die Wirtschaft setzt sich aus unterschiedlichen Kooperativen zusammen, welche ihre Produktion demokratisch organisieren und keine hierarchischen Strukturen zulassen. Somit kann gewährleistet werden, dass jeder über die Erträge seiner Arbeit verfügen kann und diese sich nicht von einer externen Person angeeignet werden. Dabei wird vor allem für die eigene Bevölkerung und den mexikanischen Markt produziert, es werden jedoch auch Waren im Wert von rund 44 Millionen Dollar jährlich ins Ausland exportiert. Den durch zapatistische Kooperativen produzierten Kaffee kann man auch in Deutschland erwerben. Über den Aufbau einer progressiven Gesellschaft hinaus konnte die zapatistische Selbstverwaltung aber auch im Alltag der Menschen viele positive Veränderungen bewirken. So führen die Zapatistas Hunderte von Schulen, in welchen den Schülern demokratische Bildung ermöglicht wird. Dies bedeutet konkret, dass die Schüler eine Basisausbildung erhalten und daraufhin den Unterricht in den Schulen selbst mitorganisieren sowie Inhalte des Lehrplans mitbestimmen können. Dabei steht es vor allem im Vordergrund, den Schülern Pluralismus, Kollektivismus und Respekt vor der eigenen Kultur und Tradition zu vermitteln, die in der westlichen Welt normalisierte Bewertung von Leistungen durch Noten existiert nicht. Durch diese Maßnahmen konnte das Bildungsniveau erhöht und die Analphabetenrate gesenkt werden. Darüber hinaus wurde ein universelles Gesundheitssystem aufgebaut, in welchem alle Patienten gratis behandelt und in vielen Bereichen, wie zum Beispiel Impfungen von Kindern oder der medizinischen Versorgung von Schwangeren, bessere Ergebnisse erzielt werden als in Gebieten, die durch den mexikanischen Staat verwaltet werden. Nur für die Medizinkosten muss selbst aufgekommen werden. Weitere Bereiche, in denen viele Projekte gestartet und Fortschritte erreicht wurden, sind die Ökologie und die Emanzipation der Frau. Durch ein Verbot chemischer Düngemittel und Pestizide soll die Umwelt geschützt werden. Durch das Aufforsten von Wäldern und vermehrten Tätigkeiten von Imkern, welche die Bienenpopulationen wieder steigern sollen, werden die lokalen Ökosysteme gestärkt. Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer, bekleiden wichtige Positionen, und es wird viel für die Aufklärung über Sexismus, Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit getan sowie den Frauen Selbstverteidigung beigebracht. Sollte es trotzdem zu Übergriffen oder Missbrauch kommen, gibt es für die Täter empfindliche Strafen. In den von den Zapatistas kontrollierten Gebieten wird aufgezeigt, dass eine bessere und gerechtere Gesellschaft existieren kann. Durch die basisdemokratischen Strukturen und die kollektiven Eigentumsverhältnisse wird das Mitbestimmungsrecht aller Menschen gesichert und ein menschenwürdiges Leben für alle möglich gemacht. In einem Land, das in den letzten Jahren vor allem durch die Gewalt und Kriminalität in Zusammenhang mit den Drogenkriegen sowie grausame Femizide international auf sich aufmerksam gemacht hat, gibt es Regionen, in denen Frauen ein selbstbestimmtes Leben, größtenteils frei von Gewalt führen können und die Drogenkartelle keinen Einfluss haben. Am Beispiel der Zapatistas können wir aufzeigen, wie eine zukünftige Gesellschaft, in der Solidarität und Kooperation anstelle von Hass und Konkurrenz vorherrschende Werte sind, aussehen könnte. Erstveröffentlichung am 22. April 2021 auf »Die Freiheitsliebe«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Bilder und Bilduntertexte wurden teilweise von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt. .
Politische Strukturen der autonomen Gebiete
Der Aufbau einer demokratischen Wirtschaft
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Gesellschaftliche Errungenschaften
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Ein Vorbild für die ganze Welt
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Lest auch:
https://www.untergrund-blättle.ch/politik/lateinamerika/mexiko_chiapas_zapatistas_ezln_autonome_gebiete_5623.html
Wir danken Finn Schüttler für die informative Darstellung der zapatistischen (volksdemokratischen) Revolution und die politische Strukturen der autonomen Gebiete in Mexiko. Dennoch ist diese „Insel“ im Kapitalismus nur eine Übergangsgesellschaft. Der Marximus-Leninismus geht bei der Verwendung des Begriffs »Volk«, von der Unterscheidung zwischen dem Proletariat und ihren Feinden, der Bourgeoisie, aus. Zudem haben »Volksdemokratische Revolutionen« nur in Ländern ihre Existenzberechtigung, wo die Arbeiterklasse noch nicht entwickelt ist, oder in Gegenden, wo die landwirtschaftlichen Verhältnisse dominieren. Insofern können wir uns nicht der Feststellung anschießen: „Ein Vorbild für die ganze Welt“.
Ein Volkskrieg, möglicherweise auch langandauernd, wäre ohnehin in unseren hochindustrialisierten, imperialistischen Ländern nicht vorstellbar. Die wahrscheinlichste Form der Revolution wäre ein bewaffneter Aufstand in den Industriezentren. Angeführt von der bewaffneten Arbeiterklasse, welche sofort die Demokratie (Diktatur) des Proletariats einrichtet. Unserer Meinung nach ist das die richtige Form, den Kapitalismus zu stürzen.