Die Freiheitsliebe: Nun sind ja Ausgangssperren erstmal vom Tisch. Aber woher kommt aus Deiner Sicht der Wunsch vieler Menschen und einiger Medien, dass es Ausgangssperren geben sollte?
Niema Movassat: Die Menschen haben Angst. Ich kann das gut verstehen. Niemand will sterben oder sehen, wie im nahestehende Menschen am Coronavirus sterben. Die dramatischen Bilder aus Italien steigern die Angst noch weiter. Deshalb wünschen sich viele maximale staatliche Maßnahmen. Viele sagen mir jetzt: „Grundrechte sind egal, Hauptsache die Gesundheit“. Ich halte das für gefährlich. Dahinter steht ein Verständnis vom autoritären Staat – teilweise sogar von einem starken Mann – der alles regelt und die Probleme mit drastischen Maßnahmen löst. Grundrechte sind gerade dazu da, sie in stürmischen Zeiten hochzuhalten. Sie sind keine Schönwetter-Instrumente, sondern immer dann essentiell, wenn sie bedroht werden.
Die Freiheitsliebe: Was spricht denn inhaltlich gegen Ausgangssperren? In China wurde doch auch mit Hilfe von Ausgangssperren die Ausbreitung gestoppt.
Niema Movassat: Richtig ist, dass harte Ausgangssperren, die strikt durchgesetzt werden wie in China, den Virus eindämmen. Und es mag eine Situation geben, wo es schlicht anders nicht mehr geht. Zugleich muss man sich vor Augen führen, dass es sich um einen dramatischen, kollektiven Eingriff in Grundrechte handelt. Das muss gut begründet sein in einer Demokratie. China ist eine Diktatur, da geht sowas einfacher. Ich glaube aber, dass niemand, der gründlich darüber nachdenkt, ein unfreies System wie in China will. Zudem hat die Ausgangssperre in China zu einer Verdreifachung der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Kinder geführt.
Südkorea hat gezeigt, dass man den Coronavirus auch anders in den Griff kriegen kann. Ohne Ausgangssperren. Die bieten mehr Tests an, haben an jeder Haltestelle Desinfektionsmittel, alle tragen zum Schutz des anderen Mundschutz, es gibt eine freiwillige App, die anonym die Orte aufzeichnet an denen man war. Wenn man Corona hat, wird allen, die zur gleichen Zeit an dem Ort waren, eine Warnung geschickt. Außerdem wird man ständig über das Gebot, Abstand zu halten, hingewiesen. Ich finde, man kann einiges da abgucken.
Die Freiheitsliebe: Arme haben mit Ausgangssperren größere Probleme als Reiche schreibst du, sind aber auch eher von Krankheiten betroffen, da sie dichter mit anderen auf einem Raum wohnen, wie können sie also geschützt werden?
Niema Movassat: Wir wissen durch Studien, dass arme Menschen im Durchschnitt bis zu acht Jahre früher als Reiche sterben. Sie haben häufiger gesundheitsschädliche Berufe, gehen seltener zum Arzt und sind nicht privatversichert. Und auch bei der Coronakrise macht es einen Unterschied, ob man arm oder eher wohlhabend ist. Arme können häufig kein Home Office machen, sie haben einen Garten, in dem sie während einer Ausgangssperre ausweichen können. Und jetzt schließen auch noch viele soziale und karitative Hilfsreinrichtungen für Arme. Um die Situation der Armen zu verbessern, müssen die Hartz IV Sätze sofort erhöht, die Sanktionen abgeschafft und Solo-Selbstständige und Künstler staatlich unterstützt werden. Ferner müssen wir von oben nach unten umverteilen, müssen die Sozialsysteme wieder stärken und brauchen ein Gesundheitssystem ohne Zweiklassenmedizin. Deshalb brauchen wir auch einen Wegfall der Privatversicherung, alle sollten in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen.
Die Freiheitsliebe: Was bleibt also an Optionen, wenn man Menschen schützen will, sich der Virus aber weiter ausbreitet und das öffentliche Leben schon stillsteht?
Niema Movassat: Es gibt ganz viel, was getan werden kann und muss: Massive Forschung an einem Impfstoff und einem Medikament und Sicherstellung, dass beides, wenn es auf den Markt kommt, bezahlbar ist. Schnellstmöglich muss mehr Personal in den Krankenhäusern und Pflegeheimen eingestellt werden, etwa durch bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen – wir haben zehntausende Pflegekräfte die den Beruf aus Frustration verlassen haben, einen Teil kann man so zurückholen. Zudem müssen allerorts Desinfektionsmittel verfügbar sein. Sehr wichtig: Wir brauchen einen dreiwöchigen bundesweiten Stopp aller Tätigkeiten und Produktionen, die für die Versorgung nicht nötig ist. Es braucht mehr Kampagnen zum Thema „soziale Distanz“, ständig und überall muss man damit konfrontiert werden. Und: Mehr kostenlose Tests, die Laborkapazitäten müssen massiv hochgefahren werden!
Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch
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Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ am 23. März 2020. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und des Autors.
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Über den Autor: Julius Jamal hat 2009 aus dem Wunsch, einen Ort zu schaffen, wo es keine Grenzen gibt zwischen Menschen, den Blog „Die Freiheitsliebe“ gegründet. Einen Ort an dem man sich mitteilen kann, unabhängig von Religion, Herkunft, sexuelle Orientierung und Geschlecht. Freiheit bedeutet immer die Freiheit von Ausbeutung. Als Autor dieser Webseite streitet er für eine Gesellschaft, in der nicht mehr die Mehrheit der Menschen das Umsetzen muss, was nur dem Wohlstand einiger Weniger dient.
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Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.
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