Harry Popow
Soldaten für den Frieden (Teil vierundzwanzig)
Leseprobe aus „Ausbruch aus der Stille…“ von Harry Popow
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Hier nun die vierundzwanzigste Leseprobe aus meinem neuen Buch »Ausbruch Aus Der Stille – Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten«, das im Februar dieses Jahres auf den Markt gekommen ist. Bitte benutzt auch die Kommentarfunktion für Eure Kritiken und Einschätzungen.
„Kampfplatz“ Adlershof
Es ist der erste Dezember 1986, da geht Henry nach Beendigung seines Dienstes in der NVA das erste Mal wieder seit dem Herbst 1954, also seit 32 Jahren, in Zivil zur Arbeit. Mit der S-Bahn von Friedrichshagen nach Köpenick, von dort fährt er mit der Straßenbahn nach Adlershof, betritt dann diesen riesigen Gebäudekomplex des Fernsehens der DDR: Sein neuer Arbeitsplatz. Konkreter: Die Räume der Beratergruppe. Die ist im grauen Verwaltungsgebäude im obersten Stockwerk untergebracht. Einige Mitarbeiter sind dafür verantwortlich, daß in Drehbüchern über die Armee und bei allen zu bearbeitenden militärischen Problemen keine fachlichen und politischen Unebenheiten stehen. Ein Oberst ist Henrys Vorgesetzter, sehr korrekt im Umgang mit seinen zwei Zivilleuten, zu denen auch Detlef gehört, ein äußerst beweglicher Geist mit immer neuen Ideen. Vor allem: Er hilft Henry, in der für ihn fremden Welt des Fernsehens allmählich Fuß zu fassen, die einzelnen Bereiche wie Unterhaltung und Dramatik kennenzulernen, aber auch die Leute von „Radar“, dem militärpolitischen Magazin. Er muß an „Abnahmen“ – seien es die Radar-, seien es publizistische Beiträge, seien es Spielfilme mit Armeeproblematik – teilnehmen und den jeweiligen Inhalt mit begutachten. Die meiste Arbeit aber liegt im Vorfeld der Filmaufnahmen. So sitzt Henry bald über Drehbüchern gebeugt, liest gründlich, bildet sich ein Urteil über die wahrheitsgetreue Darstellung, der künstlerischen Wiedergabe des Wirklichkeitsausschnittes. Hin und wieder fährt er mit dem Dienstauto – Detlef, sein Mitstreiter, ist oft mit von der Partie – auf Reise zu den Drehorten und Schauplätzen. Das alles ist nach seinem Geschmack, entspricht seinen Erfahrungen und seinem Können. Er vermißt nicht den sagenhaften Termindruck der Zeitungsarbeit. Dafür genießt er – den mitunter gemächlichen – Arbeitsbeginn. 7.30 Uhr trifft er für gewöhnlich als erster in der Beratergruppe ein, rückt seinen Schreibtischsessel zurecht, legt die durchzuackernden Drehbücher auf den Tisch … Da kommt schon Detlef, der seinen Schreibtisch gegenüber Henrys hat. Kleiner Plausch, dann ein Anruf vom Oberst, die beiden möchten doch 8.30 Uhr mal zu ihm kommen. Sie schnappen sich ihre Arbeitsbücher und melden sich ganz zivilistisch bei ihrem Chef. „Was gibt es neues?“ Man beschnarcht dieses und jenes, internes und weltpolitisches, zwischendurch bringt Brigitte, die gute Seele der ganzen Abteilung, Kaffee ins Arbeitszimmer. Natürlich, was hier besprochen und entschieden wird, hat letztlich Auswirkungen auf die Qualität der Fernsehprodukte mit militärischen Themen, deshalb eine gewisse Ruhe und Gründlichkeit in allen Belangen, man will allen Bestrebungen, die militärische Sicherheit des Landes lebendig darzustellen und neue Kader zu gewinnen, Tür und Tor öffnen, das spürt Henry sofort und genießt weiter. Doch bald, sehr bald kribbelt es dem viel Bewegung gewöhnten ehemaligen Reporter in den Händen und im Kopf. Er müßte etwas persönliches zum NVA-Bild beisteuern, also eine Filmgeschichte oder so
Inzwischen ist es Mai geworden. Henry hat etwas mehr Zeit am neuen Arbeitsplatz zum Nachdenken, Grübeln, Ideen entwerfen für die Darstellung von Armeeproblemen. Doch die wiederum sind eingebettet in die politische Weltlage, in die Zusammenhänge auch philosophischer Art. Er liest u.a. in der Zeitschrift für Philosophie 1/87 zu aktuellen Problemen der philosophischen und soziologischen Forschung in der SU, Seite 6: „Die Ursachen für das Zurückbleiben der Philosophie sehen die Autoren u.a. im „Fehlen von gründlichen Forschungen zu den dialektischen Prozessen unter den Bedingungen des Sozialismus und von Untersuchungen der Eigenart des Erscheinens allgemeiner dialektischer Gesetzmäßigkeiten unter qualitativ neuen Bedingungen. Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Kategorie Negation und das Gesetz der Negation der Negation, angewandt auf die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, faktisch nicht ausgearbeitet ist. (…) Die Folge des ‚Vergessens der Notwendigkeit, die Entwicklung (…) dialektisch und kritisch zu betrachten, ist eine vereinfachte, begrenzte, einseitige Vorstellung vom Inhalt selbst und dem Wesen der Produktionsverhältnisse im Sozialismus.“ Die Autoren zitieren die Klassiker ( M/E Werke, Bd. 23, S. 28): Karl Marx erklärte, daß die materialistische Dialektik „in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“
Henry merkt dazu an in seinem Tagebuch: Wenn etwas in Bewegung ist, gehört dazu – vom Subjekt aus gesehen – die Kritik und die Fähigkeit dazu! Einbringen bei nächsten Seminaren …
- Oktober 1987. Leipzig. 30. Festival für Dokumentarfilme in Leipzig. Henry wurde von der Beratergruppe delegiert. Er sieht sich insgesamt 72 Filme an. Er soll alles aus militärpolitischer Sicht beurteilen, aber ihn interessieren besonders die kritischen Sichten auf den Alltag im Sozialismus. So z. B. das „neue Denken“ contra Bürokratismus. Weitere Probleme: die Praxis im Strafvollzug, Süchtige, Behinderte. Ein Film wühlt ihn besonders auf: „Ist es leicht, jung zu sein?“ Ein Streifen aus der SU. Ins Notizbuch im dunklen Kinosaal kritzelt Henry folgende Aussprüche: Orientalische Lobgesänge statt Wahrheit? / Bei der Entwicklung einer neuen Werkzeugmaschine benötigt man fünf Jahre, wenn man sich an alle Instruktionen hält. / Beginnend mit Andropow brodelte der Geist. / Zwischen der institutionellen Wahrheit und der, dem Volke zu dienen – der Widerspruch zwischen beiden Polen – da beginnt der reinste Kriminalfilm. / Der Kampf gegen den Bürokratismus ist wie der Kampf Davids gegen Goliath, der auf drei Beinen steht: Wunder, Geheimniskrämerei und Autoritäten. / Wenn man wächst, gewiß, dann ist man den Blitzen und dem Donner näher – ihr könnt euer Dasein aber auch geschützt unterm Busch verbringen – dort schlagen zwar keine Blitze ein, dafür aber pinkeln dort die Hasen.
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Zum Inhalt
Ausgangssituation ist Schweden und in Erinnerung das Haus in Berlin Schöneberg, in dem die Ziebells 1945 noch wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender, auch nach der Rückkehr im Jahre 2005 nach Deutschland. Als Rentner, Blogger, Rezensent undund Autor!
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Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro.
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Über den Autor: Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow (alias Henry) in seinem Buch „Ausbruch aus der Stille“) noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. Doch mit Geologie hatte das alles nur bedingt zu tun… In den bewaffneten Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Den Titel Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie sind seit 1961 sehr glücklich verheiratet und haben drei Kinder, zwei Enkel und zwei Enkelinnen.
Frühere Artikel von Harry Popow
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