Sonntag 12.12.1971 (Wochenzeitung des Kulturbundes)

LEIPZIGER FILMFESTIVAL

Singen, so laut, dass Angela es hört

Treffen mit dem amerikanischen Protestsänger Dean Reed

Von Barbara Nix und Jutta Voigt

"Singen, so laut, dass Angela es hört", mitsingen sollten die Teilnehmer der Internationalen Dokumentarfilmwoche im Leipziger Festivalkino "Capitol". Und sie sangen alle, sangen das berühmte "We shall overcome", Hand in Hand die Chilenen und die Italiener, die Polen und die Ungarn, die Russen und die Engländer, die Franzosen und die Amerikaner, die Vietnamesen und die Filmleute von uns.

Wer ist das, der da mit einem für uns höchst verwunderlichen Sinn für Wirkung politische Lieder vorträgt und mitsingen lässt? Wer ist dieser Mann mit der Gitarre, dessen Namen Gerhart Scheumann den Versammelten in beneidenswert perfektem Englisch präsentiert? Wer ist "Dean Reed"?

"Man kann ein Leben führen, das geht immer geradeaus, eine gerade schöne Straße lang, überall geben Verkehrszeichen an, wo man zu stoppen hat und wann man weitergehen darf. Und dann gibt es den anderen Weg, den ohne Verkehrszeichen, den holprigen, wo man sich auf Steinen die Knie aufschlägt, der aber schließlich weiter führt als der andere, zur Wahrheit und Selbsterkenntnis."

Geboren auf einer Ranch in Colorado, gelangte er im Alter von sechsundzwanzig Jahren zum ersten Mal in die Sowjetunion, das Land, das "Amerika fressen wollte", und er erfuhr und erkannte dort anderes, ganz anderes. Aufgewachsen in einer konservativen Professorenfamilie, "eine der konservativsten in Amerika, glaub' ich", wurde er, als er erwachsen war, für die Seinigen nicht nur ein "Rebell", sondern auch ein "Verräter". Berühmt geworden als Rock'n'-Roll-Star der endfünfziger Jahre, gebrauchte er seine Popularität gegen die, die ihn berühmt gemacht hatten. Der Sänger der amerikanischen Hit-Parade lernte politisch denken. Der Cowboy-Held aus amerikanischen Western ist zum aktiven Vertreter des "anderen Amerika" geworden.

"Ich habe - es war auf einer Tournee in Südamerika - die reiche Minderheit in Prunk und die Mehrheit in tiefstem Elend gesehen. Ich habe mich entschieden, dort zu bleiben, weil ich glaubte, ich habe hier etwas zu tun. Ich beschloss, mein Talent für die progressive Bewegung zu mobilisieren."

Fünf Jahre leben und arbeiten in Chile, der Wohnsitz in Italien, dazwischen wieder in Amerika und seit sechs Jahren Konzertreisen durch die Sowjetunion.

Da singt einer Rock'n'-Roll und schreibt Protestlieder. Da spielt einer Cowboys und arbeitet für die Revolution in Lateinamerika. Da verbindet einer den Vortrag von politischen Songs mit dem 'Gewusst-wie' eines klassischen Entertainers. Widersprüche, die uns in ihren fremden Gegensätzen anziehen und misstrauisch machen, begeistern und zweifeln lassen. Ist das seriös? Meint der es ernst? Und dazu hat der Mensch auch noch Magazinheft-Schmalhüften, Keepsmiling-Zahnreihen und all das, was populär mit leiser Herablassung unter "schöner Mann" läuft.

Nach der ersten Information im täglich erscheinenden Festivalbulletin gehört der Ehrengast und Weltfriedensratsdelegierte Dean Reed zu den öffentlichsten Personen der Filmwoche. Interviews, Fernsehaufnahmen, Auftritte, Diskussionen, Autogrammwünsche. Die Damen von der Hotelrezeption empfanden tiefes Mitleid mit dem "armen Mister Reed, der ja kaum Zeit zum Schlafen hat".

Wir sprachen einen Abend lang miteinander, später in Berlin. Der schwarze Kasten mit der Gitarre, die Reiseschreibmaschine, sowjetische Plattenhüllen mit Reeds Portrait, unausgepackte Koffer, Fotos von einem kleinen Mädchen. Die Bleibe eines eiligen Reisenden, das ist Zimmer 2607 im Hotel Stadt Berlin, wo unser Interview begann. Der Dolmetscher müht sich vergebens um den Service, so stehen schließlich nicht mehr und nicht weniger als vier Gläser reinsten Wassers zu unserer Verfügung. Auch solche Atmosphäre kann ein Gespräch in Gang bringen, erstaunlicherweise.

Befürchten Sie nicht, dass der Protestgesang zur Mode werden könnte?

"Für mich befürchte ich das nicht, nein. Ich wehre mich: Das Geld, das ich verdiene, wenn ich Protestsongs singe, geht auf das Chilekonto beim Weltfriedensrat."

Worin haben Sie die reale Bestätigung Ihrer Überzeugung gefunden, dass die Kunst eine brauchbare Waffe im Kampf um den Fortschritt ist?

"Zum Beispiel wurde ich, das war vor vier Monaten in Argentinien, ins Gefängnis gesperrt, nur weil ich gesungen hatte, weil ich mit meinen Liedern politische Auffassungen unter die Leute brachte, unter Tausende von Leuten. Das ist für mich einer der Beweise, dass die Kunst eine Macht ist, dass sie gefährlich sein kann."

Das Interview wird zum Gespräch. Reed fragt uns nach den Mitteln und Methoden, den revolutionären Elan zu erhalten nach dem Vollzug der Revolution: "Was denken Sie, was ist der beste Weg?"

Wir reden und streiten über dieses so wichtige Thema. Da klopft jemand an die Tür und gibt ein ziemlich auffälliges Jackett aus goldfarbenem Samt ab, Reed braucht es für seine Show, die Weihnachten vom Deutschen Fernsehfunk gesendet wird und für die er heute abend noch das Playback vor dem Badezimmerspiegel üben muss; die Aufzeichnung ist am nächsten Tag. Unser Interview verlegen wir auf dreißig Minuten später ins Restaurant, eine Verabredung mit einem unserer Kollegen zwingt uns dazu.

Wie sind Sie vom Rock'n'-Roll zum politisch engagierten Song gekommen?

"Das war für mich kein Sprung von einem Ufer ans andere. Dazwischen lagen die Freundschaft mit einem Hollywooder Sprecherzieher, dem ersten bewusst fortschrittlichen Menschen, den ich traf, die Jahre in Chile, mein langsames Herantasten an den Sozialismus. Ich habe beschlossen, das, was ich konnte, in den Dienst des Weltfriedens und der Revolution zu stellen. Rock-Elemente gibt es sicher auch noch heute in meinen Liedern."

Welches Verhältnis haben Sie zu den amerikanischen Hippies?

"Für mich ist ein Hippie zunächst erst einmal progressiver als ein amerikanischer Mann, der nach Vietnam geht und dort mordet. Aber der zweite Schritt fehlt bei den Hippies, sie wissen nicht, was sie wollen und worum es eigentlich geht bei der Auseinandersetzung in der Welt. Wo sie progressiv auftreten, arbeite ich mit ihnen zusammen, genauso wie ich mit Gläubigen zusammenarbeite, obwohl ich Atheist bin. Die antiimperialistische Front ist das wichtigste."

Welche Probleme beschäftigen Sie in diesem Augenblick am meisten?

"Erstens, dass ich meine kleine Tochter so selten sehe, sie ist drei, und die ersten fünf Jahre sind doch die wichtigsten in der Entwicklung eines Kindes. Zweitens, die Wahlen am Sonntag in Uruguay, ich habe dort sehr gute Freunde, und ich fürchte für ihr Leben. Drittens, ich habe Angst um meine Stimme, sie ist angegriffen, ich habe in der Sowjetunion dreißig Konzerte in acht Wochen gegeben."

Nächste Pläne?

Eine Schallplatte für Amiga und ein Spielfilm über die Hintergründe des Kennedy-Mordes, der in der Sowjetunion gedreht wird, "bei den sympathischsten Mensche, die ich kenne".

Wer ist Dean Reed, Ehrengast der Leipziger Dokumentarfilmwoche, Schauspieler, Sänger, Weltfriedensratsdelegierter? Einen Abend lang haben wir versucht, Aufschlüsse zu erhalten über ein fremdes Leben, über einen, der sich an unsere Seite gestellt hat. Wir entdeckten revolutionären Geist und wohl auch Unklares, Leidenschaft und wohl auch Sentimentales, Kampfbereitschaft und wohl auch Romantisierung; Ehrlichkeit.

Mehr als eine symbolische Geste

Erklärung

der Delegierten aus den Vereinigten Staaten von Amerika auf der XIV. Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche für Kino und Fernsehen zur Blutspende für die Völker Indochinas

Zu viele sind schon gestorben. Die Reisfelder und die Dörfer sind vom Blut zu vieler Frauen, zu vieler Kinder und zu vieler Männer schon gefärbt worden - als dass dieser kleine Beitrag unseres Blutes mehr Bedeutung hätte als die einer symbolischen Geste an die Völker Südostasiens. Doch für uns bedeutet sie die unabänderliche Verpflichtung, alles einzusetzen - unsere Energie, unser Talent, unsere Freiheit, wenn nötig, unser Leben, für eine Barriere zwischen den Völkern Indochinas und den tollwütigen Völkermördern der Vereinigten Staaten, die die Waffen kontrollieren und die Fabriken, wo sie hergestellt werden.

Die falschen Führer des amerikanischen Volkes widmen sich dem Auslöschen des Menschenlebens. Wir, als Vertreter des "anderen Amerika", widmen uns der Rettung des Menschenlebens.

Es unterzeichneten unter anderen:

Mark Lane, Lester Cole, Alvah Bessie, Dean Reed, Michael Myerson, Gordon Hitchens, Annelise Lane, Diana Macbeth, Victor Grossman, Sonja Jones