Ulla Plener

Die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Lenin über die nationale Frage 1903 – 1918 – Teil 1

Quelle: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung
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Foto: Martin Pulaski – flickr.com – CC BY 2.0

Die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Lenin 1903 – 1918 um das nationale Selbstbestimmungsrecht der Völker erweist sich im 21. Jahrhundert angesichts der Auseinandersetzungen und Kämpfe wie die der Kurden in der Türkei, der Palästinenser in Israel, der Katalanen und Basken in Spanien, um ihre nationale Selbstbestimmung bis hin zur eigenen Staatlichkeit als erstaunlich aktuell. Deshalb soll an sie erinnert werden, nicht zuletzt auch mit Blick auf diese Debatte selbst: Ging es dabei um einen grundsätzlichen Konflikt, gar um einen Gegensatz zwischen Rosa Luxemburg und Lenin? Und 2016: Hat Putin wirklich Grund, den Zerfall der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre Lenin anzulasten? Allgemeiner gefragt: Was bleibt 100 Jahre nach dem Disput der beiden herausragenden Politiker und Theoretiker der damaligen revolutionären Arbeiterbewegung für den politischen Kampf der demokratischen Kräfte im 21. Jahrhundert?

Zu erinnern ist zunächst an grundlegende Gemeinsamkeiten von Rosa Luxemburg und Lenin in dieser Debatte:

  • Die marxistische Geschichtsauffassung – die Lehre vom Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie im Kapitalismus;
  • das Verständnis der Nation als klassengespalten;
  • die demokratischen Aufgaben der Arbeiterklasse in Russland – Sturz des Zarismus und bürgerlich demokratische Freiheiten als Voraussetzung für die Lösung der nationalen Frage;
  • der konsequente Kampf gegen den Nationalismus der im Kapitalismus Herrschenden;
  • die internationale Verbundenheit der Arbeiter aller Länder, aller Nationalitäten, auch und gerade in Russland;
  • der Arbeiterklasse ist das Nationale nicht fremd, aber es ist dem Klassenkampf untergeordnet.

Die Debatte wurde ausgelöst von Rosa Luxemburgs Widerspruch gegen Art. 9 (vormals 7) des auf dem II. Parteitag 1903 angenommenen Programms der SDAPR. Darin hieß es: Die SDAPR stelle sich als „die zunächst zu lösende politische Aufgabe die Niederwerfung der zaristischen Selbstherrschaft und ihre Ersetzung durch eine demokratische Republik, deren Verfassung sicherstellen (garantieren) würde“ … Es folgen 14 demokratische Forderungen, darunter:

  1. Selbstherrschaft des Volkes, d.h. Konzentration der obersten Staatsmacht bei der gesetzgebenden Versammlung, die aus den Vertretern des Volkes besteht und eine Kammer bildet.
  2. Allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht bei den Wahlen sowohl in die gesetzgebende Versammlung als auch in alle örtlichen Organe der Selbstverwaltung für alle Bürger und Bürgerinnen, die das 20. Lebensjahr erreicht haben; geheime Stimmabgabe bei Wahlen; das Recht jedes Wählers, in alle Vertretungsorgane gewählt zu werden; Zweijahresparlamente; Gehälter für die Volksvertreter.
  3. Breite örtliche Selbstverwaltung; Gebietsselbstverwaltung für die Gegenden, die sich durch besondere Alltagsbedingungen und Zusammensetzung der Bevölkerung unterscheiden. (…)
  4. Abschaffung der Stände und volle Gleichberechtigung der Bürger, unabhängig von Geschlecht, Religion, Rasse und Nationalität. 8. Das Recht der Bevölkerung, in der Muttersprache unterrichtet zu werden, indem auf Kosten des Staates und der Selbstverwaltungsorgane die dafür notwendigen Schulen geschaffen werden; das Recht jedes Bürgers, sich in Versammlungen in der Muttersprache zu äußern; Einführung der Muttersprache neben der Staatssprache in allen örtlichen gesellschaftlichen Organisationen und Staatsorganen…
  5. Das Recht auf Selbstbestimmung für alle zum Staat gehörenden Nationen.
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Die Position Rosa Luxemburgs

In ihrem Kommentar zum Programm der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens „Was wollen wir?“ von 1906 schrieb Rosa Luxemburg: Das Proletariat sei berufen, die kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen. Sie betonte die Einheit der Klasseninteressen der Arbeiter verschiedener Nationalitäten: Die „allen gemeinsame Rechtlosigkeit und Klassenunterdrückung schuf die Interessengemeinschaft der Arbeiterklasse aller Nationalitäten im russischen Reiche. Der Sturz des Zarismus und die Eroberung der politischen Freiheiten ist gleichermaßen für das polnische Proletariat wie auch für das russische die dringendste Notwendigkeit. Im politischen Kampfe stellen folglich die polnischen Arbeiter mit den russischen ein gemeinsames Ganzes dar, eine politische Klasse mit einem politischen Programm.“ Zur nationalen Frage hieß es – übereinstimmend mit dem Programm der SDAPR, Art. 8, – nach „1. die Proklamierung der Republik im ganzen russischen .Reich“: „2. Die Gleichberechtigung aller Nationalitäten, die das russische Reich bewohnen; Zusicherung der Freiheit ihrer kulturellen Entwicklung: Nationalschule und Freiheit im Gebrauch der Muttersprache; Landesselbstverwaltung, das heißt Autonomie für Polen“

Das im Programm der SDAPR in Art.9 formulierte Recht der Nationen auf Selbstbestimmung enthielt das Recht auf politische – auch staatliche – Selbständigkeit bis hin zur Trennung vom Großstaat, in diesem Fall von Russland. Dieser Punkt rief den Widerspruch Rosa Luxemburgs hervor, denn sie war gegen die Trennung Polens von Russland. Ihre Argumente formulierte sie ausführlich in ihrer Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“, entstanden und veröffentlicht 1908/1909:

  • die Forderung vertrete das bürgerliche, nicht das proletarische Interesse, sie diene dem Nationalismus;
  • sie sei gegen die progressive Tendenz der Entwicklung zu Großstaaten gerichtet – also reaktionär;
  • sie sei nur im Sozialismus realisierbar – unter kapitalistischen Bedingungen utopisch;
  • sie enthalte keine praktische Lösung, sei „eine metaphysische Phrase“.

Die Klassenpartei des polnischen Proletariats müsse in der nationalen Frage „ein ganz klar bestimmtes Programm haben…, welches nicht mehr dem Willen der ‚Nation’ entspricht, sondern lediglich dem Willen und den Interessen des polnischen Proletariats“. Solche Formulierungen könnten als Negation der nationalen Interessen des Proletariats ausgelegt werden – im Widerspruch zur Position, die Rosa Luxemburg drei Jahre zuvor 1905 im Vorwort zum Sammelband „Die polnische Frage und die sozialistische Bewegung“ vertrat, in dem sie u.a. schrieb: „Der Arbeiterklasse ist die nationale Sache bei uns nicht fremd und kann es nicht sein, es kann ihr die in ihrer Barbarei unerträglichste Unterdrü- ckung nicht gleichgültig sein, da sie gegen die geistige Kultur der Gesellschaft gerichtet ist… Unser Proletariat als Klasse, … als revolutionäre Klasse, muss die nationale Unterdrückung als brennende Wunde, als Schande empfinden und empfindet sie so… (U)nser Proletariat kann und muss für die Verteidigung der Nationalität als einer besonderen geistigen Kultur kämpfen, die ihr Recht auf Dasein und Entwicklung hat.“ Und: Gerade die Klassenbewegung des polnischen Proletariats sei „die beste und gleichzeitig einzige Bürgschaft dafür, zugleich mit der politischen auch die national-kulturelle Freiheit, bürgerliche Gleichheit und Selbstverwaltung für unser Land zu erreichen.“5 Die Bewegung der Arbeiterklasse müsse also „als patriotischer, nationaler Faktor im besten und wahrsten Sinne dieses Wortes aufgefasst werden“

Im Kommentar von 1906 zu „Was wollen wir?“ hob Rosa Luxemburg die Gemeinsamkeit der Interessen des polnischen und des russischen Proletariats hervor. Sie schrieb: Der zaristische „Despotismus war ebenso der Todfeind des russischen arbeitenden Volkes wie auch des polnischen. So muss das bewusste russische Proletariat im eigenen Interesse gemeinsam mit dem polnischen die Beseitigung jeglicher nationalen Unterdrückung im russischen Staat anstreben. Folglich ist auch der Kampf um die Freiheit der nationalen Kultur keine besondere Aufgabe des polnischen Arbeiters, sondern eine gemeinsame Klassenaufgabe des polnischen und des russischen Proletariats.“

Rosa Luxemburgs Gegenforderung zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen hieß: national-kulturelle Autonomie. Im Einzelnen schrieb sie dazu im zitierten „Kommentar“ von 1906: „Da unser Land innerhalb des russischen Reiches gewissermaßen eine besondere Einheit darstellt, die sich im kulturellen Leben und teilweise auch in sozialökonomischer Beziehung von den anderen Teilen des Reiches unterscheidet, fordert die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens außer der allgemeinen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung aller Nationen die Landesselbstverwaltung, das heißt Autonomie, für Polen. Das würde bedeuten, dass alle Angelegenheiten, die speziell unser Land betreffen, vom Volk unseres Landes mit Hilfe eigener Beamter und eines eigenen Landesparlaments erledigt werden würden, das von der gesamten erwachsenen Bevölkerung in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen gewählt werden müsste, und dass bei uns polnische Schulen, Gerichte und andere notwendige Institutionen eingeführt würden, die in ihrer Tätigkeit dem polnischen Sejm unterstehen. Die Landesselbstverwaltung ist unerlässlich sowohl für die Garantie einer genügenden Freiheit der kulturellen Entwicklung unserer Nationalität als auch für die wirksame Verteidigung der Klasseninteressen des polnischen Proletariats. Da das polnische Proletariat trotz nationaler Unterschiede nur ein Bestandteil der einen Arbeiterklasse im russischen Reiche darstellt, muss das polnische Proletariat vor allem mit den russischen Arbeitern gemeinsame politische Rechte und republikanische Freiheiten im ganzen Staat fordern, um sie gemeinsam im unermüdlichen Klassenkampf gegen die Ausbeutung und die Herrschaft der verbündeten polnischen und russischen Bourgeoisie zu nutzen.“

Autonomie ist also nach Rosa Luxemburg Landesselbstverwaltung. Autonomie heißt (griechisch) Eigengesetzlichkeit, d.h.: Unabhängigkeit/Selbstbestimmung. Ein Vergleich mit den Aussagen des Programms der SDAPR von 1903 (s.o. Art. 3 und 8 des Programms) weist aus: Diese stimmten mit Rosa Luxemburgs Forderungen – ebenso wie alle anderen politischen Forderungen – vollkommen überein. So auch mit den entsprechenden Erläuterungen Lenins.
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Lenins Position

Noch bezogen auf den Programmentwurf hatte Lenin in der „Iskra“ Nr. 44 vom 15. Juli1903 hervorgehoben, es sei darin „die Forderung einer Republik mit demokratischer Verfassung aufgestellt, die unter anderem auch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, die zum Staate gehören, gewährleistet“. Und er erläuterte: „Die Sozialdemokratie wird stets jeden Versuch bekämpfen, durch Gewalt oder Ungerechtigkeit, welcher Art auch immer, die nationale Selbstbestimmung von außen her zu beeinflussen. Doch die bedingungslose Anerkennung des Kampfes für die Freiheit der Selbstbestimmung verpflichtet uns keineswegs, jede Forderung nach nationaler Selbstbestimmung zu unterstützen. Die Sozialdemokratie sieht als Partei des Proletariats ihre positive und wichtigste Aufgabe darin, die Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats innerhalb jeder Nationalität zu fördern. Wir müssen stets und unbedingt die engste Vereinigung des Proletariats aller Nationalitäten anstreben, und nur in einzelnen Ausnahmefällen können wir Forderungen, die auf die Schaffung eines neuen Klassenstaates oder auf die Ersetzung der völligen politischen Einheit eines Staates durch eine lose föderative Einheit usw. hinauslaufen, aufstellen und aktiv unterstützen.“ Und – als Entgegnung auf die nationalistischen Forderungen der PPS (Polnische Sozialistische Partei), gegen die auch Rosa Luxemburg entschieden polemisierte: Im Interesse des Klassenkampfs des Proletariats sei die Forderung der nationalen Selbstbestimmung diesem Kampf unterzuordnen. Lenin verwies auch – wie Rosa Luxemburg – auf die im Vergleich zum 19. Jahrhundert, als sich Marx und Engels mit der „polnischen Frage“ befasst hatten, veränderten Bedingungen hin: „Zweifellos steht die polnische Frage heute wesentlich anders als vor fünfzig Jahren. Man darf jedoch diesen gegenwärtigen Stand nicht als ewig betrachten. Zweifellos hat der Klassenantagonismus die nationalen Fragen jetzt weit in den Hintergrund gedrängt, doch darf man nicht, ohne Gefahr zu laufen, in Doktrinarismus zu verfallen, kategorisch behaupten, es sei unmöglich, dass diese oder jene nationale Frage vorübergehend in den Vordergrund des politischen Geschehens tritt.“ Die Wiederherstellung Polens vor dem Sturz des Kapitalismus sei äußerst unwahrscheinlich, „aber man kann nicht sagen, dass sie ganz unmöglich sei… Die russische Sozialdemokratie bindet sich daher in keiner Weise die Hände. Sie rechnet mit allen möglichen und sogar mit allen überhaupt denkbaren Wechselfällen, wenn sie in ihrem Programm die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen verkündet. Dieses Programm schließt keineswegs aus, dass das polnische Proletariat die freie und unabhängige polnische Republik zu seiner Losung macht… Dieses Programm fordert lediglich, dass eine wirklich sozialistische Partei das proletarische Klassenbewusstsein nicht trübe, den Klassenkampf nicht verdunkle, die Arbeiterklasse nicht durch bürgerlich-demokratische Phrasen betöre und die Einheit des heutigen politischen Kampfes des Proletariats nicht störe.“ Die russischen Sozialdemokraten werden „dem polnischen Arbeiter stets sagen: Nur das vollständige und engste Bündnis mit dem russischen Proletariat ist imstande, den Anforderungen des politischen Tageskampfes gegen die Selbstherrschaft gerecht zu werden,  nur ein solches Bündnis gibt die Gewähr für eine völlige politische und wirtschaftliche Befreiung.“ – „Das, was wir über die polnische Frage gesagt haben, lässt sich voll und ganz auch auf jede andere nationale Frage anwenden.“

Die völlige Übereinstimmung zwischen Lenin und Rosa Luxemburg in der nationalen Frage schlug sich auch zehn Jahre später in der von Lenin formulierten Resolution des ZK der SDAPR zu dieser Frage, angenommen auf der Funktionärstagung der Partei in der letzten Septemberwoche 1913 im polnischen Poronin, unweit von Krakau (aus konspirativen Gründen Sommertagung genannt) nieder. Da hieß es u.A.: „Soweit in der kapitalistischen Gesellschaft … ein nationaler Frieden möglich ist, ist er nur bei einer konsequenten, restlos demokratischen, republikanischen Staatsordnung erreichbar, die die völlige Gleichberechtigung aller Nationen und Sprachen gewährleistet und keine obligatorische Staatssprache festlegt, der Bevölkerung Schulen garantiert, in denen in allen im betreffenden Ort vertretenen Sprachen unterrichtet wird. Und in die Verfassung ein grundlegendes Gesetz aufnimmt, wonach alle wie immer gearteten Privilegien der einen oder anderen Nation und alle wie immer gearteten Verstöße gegen die Rechte einer nationalen Minderheit für ungesetzlich erklärt werden. Besonders notwendig ist dabei eine weitgehende Gebietsautonomie und eine völlig demokratische lokale Selbstverwaltung unter Festlegung der Grenzen der sich selbst verwaltenden und autonomen Gebiete auf Grund der von der örtlichen Bevölkerung selbst festzustellenden Wirtschafts- und Lebensverhältnisse, der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung usw.“ – „Für das Recht der von der Zarenmonarchie unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, d.h. auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates, muss die sozialdemokratische Partei unbedingt eintreten. Das verlangen sowohl die Grundprinzipien der internationalen Demokratie im Allgemeinen als auch im Besonderen die unerhörte nationale Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung Russlands durch die Zarenmonarchie, die, verglichen mit den Nachbarstaaten in Europa und Asien, die reaktionärste und barbarischste Staatsordnung darstellt. Das verlangt ferner die Sache der Freiheit der großrussischen Bevölkerung selbst, die nicht imstande sein wird, einen demokratischen Staat zu errichten, solange nicht der großrussische Schwarzhunderternationalismus ausgerottet ist…“ Und auch jetzt wieder die Einschränkung: Die Frage des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung dürfe nicht „verwechselt werden mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Lostrennung dieser oder jener Nation“. Die letztere Frage müsse „in jedem einzelnen Fall vollkommen selbständig vom Standpunkt der Interessen der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung und der Interessen des Klassenkampfes des Proletariats für den Sozialismus gelöst werden“

Im ebenfalls von Lenin im Mai 1913 formulierten „Entwurf einer Plattform für den IV. Parteitag der Sozialdemokratie Lettlands“ waren im Abschnitt „Die nationale Frage“ die eben zitierten Gedanken enthalten und hinzugefügt worden: „Die Sozialisten kämpfen gegen alle und jedwede Erscheinungsformen des bürgerlichen Nationalismus, gegen die plumpen wie gegen die raffinierten“ – und eine solche Erscheinungsform sei „die Losung der ‚national-kulturellen Autonomie’, die das Proletariat und die Bourgeoisie einer Nation vereinigt und die Proletarier der verschiedenen Nationen voneinander trennt“.15 Ende Dezember 1913 schrieb Lenin „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“. Er betonte wieder: „Das nationale Programm der Arbeiterdemokratie ist: absolut keine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d.h. ihrer staatlichen Lostrennung auf völlig freiem, demokratischem Wege; Erlass eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jede beliebige Maß- nahme (der Semstwos, der Städte, der Gemeinden usw. usf.), die in irgendwelcher Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte einer nationalen Minderheit verletzt, für ungesetzlich und ungültig erklärt wird – und jeder beliebige Staatsbürger berechtigt ist zu verlangen, dass eine solche Maßnahme als verfassungswidrig aufgehoben wird und diejenigen, die sie durchsetzen wollen, strafrechtlich belangt werden.“ Und: Die Forderung der Arbeiterdemokratie sei: „…unbedingte Einheit und restlose Verschmelzung der Arbeiter aller Nationalitäten in allen Gewerkschafts-, Genossenschafts-, Konsum-, Bildungs- und allen anderen Arbeiterorganisationen als Gegengewicht gegen jeden bürgerlichen Nationalismus. Nur bei einer solchen Einheit, einer solchen Verschmelzung kann die Demokratie behauptet werden, können die Interessen der Arbeit gegen das Kapital – das bereits international wird und es immer mehr wird – behauptet, können die Interessen der Entwicklung der Menschheit zu einer neuen Lebensform, der jedes Privileg und jede Ausbeutung fremd sind, behauptet werden.“16 Über die nationale Kultur schrieb Lenin hier: „Die Losung der nationalen Kultur ist ein bürgerlicher Betrug… Unsere Losung ist die internationale Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt.“ Aber: Die internationale Kultur sei nicht unnational. – „In jeder nationalen Kultur gibt es – seien es auch unentwickelte – Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von ‚Elementen‘‚ sondern als herrschende Kultur. Wenn wir die Losung der ‚internationalen Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt‘ aufstellen, so entnehmen wir jeder nationalen Kultur nur ihre demokratischen und ihre sozialistischen Elemente; entnehmen sie nur und unbedingt als Gegengewicht zur bürgerlichen Kultur, zum bürgerlichen Nationalismus jeder Nation.“17 Wie Rosa Luxemburg lehnte Lenin in den „Bemerkungen…“ Föderalismus und Dezentralisation der Staaten ab, „…weil der Kapitalismus für seine Entwicklung möglichst große und möglichst zentralisierte Staaten verlangt. Unter sonst gleichbleibenden Umständen wird das klassenbewusste Proletariat stets für einen größeren Staat eintreten … wird stets den möglichst engen wirtschaftlichen Zusammenschluss zu großen Territorien begrüßen, auf denen sich der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie breit entfalten kann… Ein zentralisierter Großstaat ist ein gewaltiger historischer Schritt vorwärts auf dem Wege von der mittelalterlichen Zersplitterung zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt, und einen anderen Weg zum Sozialismus als über einen solchen (mit dem Kapitalismus unlösbar verknüpften) Staat gibt es nicht und kann es nicht geben.“

Im Sinne der von ihm erläuterten nationalen Frage war Lenin auch in der politischen Praxis tätig: Im März 1914 wurde im Organ der Bolschewiki „Put’ prawdy“ der von ihm formulierte „Gesetzentwurf über die Aufhebung sämtlicher Beschränkungen der Rechte der Juden und überhaupt aller Beschränkungen, die mit der Abstammung oder mit der Zugehörigkeit zu irgendeiner Nationalität verbunden sind“ veröffentlicht, den die Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Russlands in der Reichsduma einzubringen beschlossen hatte. Im Mai d.J. folgte der „Gesetzentwurf über die Gleichberechtigung der Nationen und über den Schutz der Rechte der nationalen Minderheiten“.  Lenin schrieb dazu, es leuchte ein, dass die Duma ein solches Gesetz nicht annehmen werde. – „Aber die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihre Stimme zu erheben. Und besonders laut muss die Stimme des russischen Arbeiters gegen die nationale Unterdrückung ertönen.“ Es gelang der Fraktion nicht, die Gesetzentwürfe in die Duma einzubringen. Lenin forderte, den Nationalismus der unterdrückenden Nation von dem der unterdrückten Nation zu unterscheiden.

Im April-Juni 1914 veröffentlichte Lenin seine Schrift „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in der er sich mehrfach auf Rosa Luxemburg bezog, gegen sie polemisierte und gewissermaßen seine Position zusammenfasste. Es ging um die bekannte Definition des Selbstbestimmungsrechts der Nationen; um die historisch-konkrete Fragestellung dazu, also auch um die „konkreten Besonderheiten der nationalen Frage in Russland und seine bürgerlich-demokratische Umgestaltung“; um den „Praktizismus“ in der nationalen Frage, wobei zwischen dem Nationalismus der unterdrückten und dem der unterdrückenden Nation zu unterscheiden sei; um Standpunkte der liberalen Bourgeoisie und der „sozialistischen Opportunisten“ in der nationalen Frage, um das Beispiel der friedlichen Trennung Norwegens von Schweden 1905 u.a.m. Die Leugnung des Rechts auf Selbstbestimmung bedeute in der Praxis „notwendigerweise Unterstützung der Privilegien der herrschenden Nation“

Zu Rosa Luxemburgs Forderung nach dem „Praktischen“ in der nationalen Frage: Jeder bürgerliche Nationalismus einer unterdrückten Nation habe einen allgemein demokratischen Inhalt, der sich gegen die Unterdrückung richtet, „und diesen Inhalt unterstützen wir unbedingt, wobei wir das Streben nach eigener nationaler Exklusivität streng ausschalten, das Bestreben des polnischen Bourgeois, den Juden zu unterdrücken usw. usf., bekämpfen“. Das sei „unpraktisch“ vom Gesichtspunkt des Bourgeois und des Kleinbürgers aus. „Das ist aber die einzig praktische und prinzipielle, die Demokratie, die Freiheit und den proletarischen Zusammenschluss tatsächlich fördernde Politik in der nationalen Frage.“ Die wichtigste praktische Aufgabe sowohl des russischen als auch des Proletariats der anderen Nationalitäten sei „die Aufgabe der tagtäglichen Agitation und Propaganda gegen alle nationalen staatlichen Privilegien, für das Recht, das gleiche Recht aller Nationen auf einen eigenen Nationalstaat. Diese Aufgabe ist (gegenwärtig) unsere wichtigste Aufgabe in der nationalen Frage, denn nur auf diese Weise verfechten wir die Interessen der Demokratie und des auf Gleichberechtigung beruhenden Zusammenschlusses aller Proletarier aller Nationen.“

Das Selbstbestimmungsrecht habe für die polnischen Sozialdemokraten nicht so große Bedeutung wie für die russischen. – Keinem einzigen Marxisten Russlands sei es „je in den Sinn gekommen, den polnischen Sozialdemokraten einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie gegen die Lostrennung Polens sind. Einen Fehler begehen diese Sozialdemokraten nur dann, wenn sie – wie Rosa Luxemburg – zu bestreiten suchen, dass das Programm der Marxisten Russlands die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts enthalten muss.“  Abschließend betonte Lenin noch einmal: „Die Lage der Dinge stellt das Proletariat Russlands vor eine zweifache oder, richtiger zweiseitige Aufgabe: Kampf gegen jeden Nationalismus und in erster Linie gegen den groß-russischen Nationalismus; Anerkennung nicht nur der vollen Gleichberechtigung aller Nationen im allgemeinen, sondern auch der Gleichberechtigung hinsichtlich der staatlichen Konstituierung, d.h. des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung, auf Lostrennung; und gleichzeitig damit, eben im Interesse des erfolgreichen Kampfes gegen jeglichen Nationalismus aller Nationen, Verteidigung der Einheit des proletarischen Kampfes und der proletarischen Organisationen, ihrer engsten Verschmelzung in einer internationalen Gemeinschaft, entgegen den bürgerlichen Bestrebungen nach nationaler Absonderung. – Volle Gleichberechtigung der Nationen; Selbstbestimmungsrecht der Nationen; Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen – dieses nationale Programm lehrt die Arbeiter der Marxismus, lehrt die Erfahrung der ganzen Welt und die Erfahrung Russlands.“

Morgen erscheint der zweite Teil.

Dieser Artikel wurde von Ulla Plener geschrieben und erschien in der neusten Ausgabe der Zeitschrift „Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung“. Der zweite Teil des Artikels beschäftigt sich mit der Position Lenins.

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