Kurt Gossweiler
Bemerkungen zum Anteil des Revisionismus an der Niederlage des Sozialismus in Europa
.
Kurt Gossweiler
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freunde,
in der Ankündigung der heutigen Veranstaltung wurde als mein Forschungsgebiet genannt: Faschismus. Das war es bis zur Konterrevolution, also bis 1989. Seit dieser schlimmsten Ka-tastrophe des katastrophenreichen 20. Jahrhunderts ist es der Revisionismus und dessen Anteil an ihr.
Dass ich diese beiden Forschungsgebiete wählte, hängt mit den beiden schlimmsten Ereignissen meines Lebens zusammen, mit der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland 1933 und mit dem Sieg der Konterrevolution über den Sozialismus in Europa im Jahre 1989.
“Wie konnte das geschehen?” – das war in beiden Fällen die Frage, die mich bewegte und die mich im ersten Fall zum Faschismusforscher werden ließ, im zweiten Fall mich zur anhaltenden Beschäftigung mit der Rolle des Revisionismus veranlasste.
Deshalb habe ich 1955, als ich meine Aspirantur an der Berliner Humboldt-Universität begann, als Gegenstand meiner Dissertation ein Thema gewählt, das den Faschismus und die Ursachen seines Machtantritts in Deutschland behandelte. Die Ergebnisse meiner Faschismusforschungen sind in einigen Büchern und vielen Aufsätzen nachzulesen.
Der Revisionismus wurde ab 1989 mein Hauptforschungsgebiet, beschäftigt hat er mich aber schon seit längerem, genauer gesagt, seit 1956. Warum seit diesem Zeitpunkt? Weil mich schon seit 1953 in immer stärkerem Maße Ereignisse in der Sowjetunion beunruhigten, für die ich keine Erklärung fand und die mit meinem Bild von der Sowjetunion nicht in Übereinstimmung zu bringen waren.
Seit ich politisch zu denken angefangen hatte – dank meiner Mutter und ihres zweiten Mannes, beide waren Mitglied der KPD seit 1927 – , also seit meinem zehnten Lebensjahr, war die Sowjetunion für mich das Land meiner Bewunderung und das Heimatland aller Kommunisten. Aber es war keineswegs so, dass im Laufe der Zeit das Vertrauen in die Sowjetunion und ihre Führung nicht auch Belastungsproben unterworfen gewesen wäre.
Die erste waren für mich wie für meine Genossen aus dem illegalen KJVD die Moskauer Prozesse.
Wir hatten damals auch eine Diskussion mit einem Jugendgenossen, der zu den Trotzkisten abgedriftet war und über die Prozesse schon damals alles das von sich gab, was seit den Chruschtschowschen und Gorbatschowschen Rehabilitierungen der damals Verurteilten nun auch zum Standardrepertoire aller “Erneuerer” und “Reformer” in verschiedenen kommunis-tischen und ehemals kommunistischen, inzwischen umbenannten Parteien gehört: dass alle Verurteilten natürlich unschuldig seien und nur sterben mussten, weil sie Stalins Allmachts-treben im Wege standen.
Auch das heute immer wieder ins Feld geführte angebliche “Testament” Lenins, in dem er vor Stalin gewarnt habe, brachte dieser junge Trotzkist schon damals vor.
Natürlich hatten wir damals keine Möglichkeit, all dies zu überprüfen. Aber dafür, zu über-prüfen, ob unser Vertrauen zur Sowjetunion und zu Stalin gerechtfertigt war, gab es ein sehr einfaches und zugleich überzeugendes Mittel: die Prüfung der Taten der Sowjetunion und Stalins in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus!
Im Sommer 1936 hatte Franco seinen Putsch gegen die Spanische Volksfrontregierung un-ternommen und damit das Startzeichen für die Intervention des faschistischen Deutschland und Mussolini-Italiens zugunsten der Errichtung eines faschistischen Regimes in Spanien gegeben, als Vorspiel zum geplanten großen Krieg.
Damit wurde die Stellung zum Krieg in Spanien zum Prüfstein für die Stellung aller Staaten, Parteien und Einzelpersönlichkeiten zum Faschismus. Wie allen bekannt, gab es nur einen Staat in der ganzen Welt, der die Spanische Republik verteidigen half gegen die Hitler- und Musso-lini- Aggressoren, und dieser Staat war nicht etwa das benachbarte Frankreich mit seiner Volksfrontregierung, es war auch nicht England und es waren auch nicht die USA – sie alle halfen vielmehr durch ihre heuchlerische Nichteinmischungspolitik Franco, Hitler und Mussolini bei der Erwürgung der Spanischen Republik. Allein die Sowjetunion kam dem spanischen Volk und den Freiwilligen in den Interbrigaden mit Waffen und Soldaten zu Hilfe. Sie tat also genau das, was wir von ihr erwarteten. Sie hat unser Vertrauen nicht enttäuscht.
Eine zweite Belastungsprobe stellte im August 1939 der Abschluss des Nichtangriffsvertrages der Sowjetunion mit Hitlerdeutschland dar.
Ich war damals zum Arbeitsdienst eingezogen und in ein RAD-Lager in Pommern verbracht worden. Die meisten der anderen “Arbeitsmänner” stammten aus Pommern und waren, wenn nicht Nazis, so doch auf keinen Fall bewusste Nazigegner. Aber mit mir war noch einer aus Berlin in meinem “Trupp”, und nicht nur das – auch er kam aus einem kommunistischen El-ternhaus, und wir fanden schnell heraus, dass wir beide von der gleichen Farbe waren.
Eines Tages im August erzählte er mir, sein Vater sei am Wochenende zu Besuch hier gewesen und habe ihm eine ganz unwahrscheinliche Ankündigung gemacht. Es werde – so habe er gesagt – in nächster Zeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein Vertrag geschlossen werden, er solle sich schon darauf einstellen. Woher sein Vater das hatte, habe er ihm nicht gesagt. Ich hielt das dennoch für eine ausgesprochene Latrinenparole und sagte das meinem Kumpel auch.
Aber dann kam der 23. August, und da gab es keinen Zweifel mehr: Die Sowjetunion hatte mit Hitlerdeutschland einen Nichtangriffs-Vertrag geschlossen! Und die Nazipresse berichtete so darüber, als handelte es sich dabei um ein gegen die Westmächte gerichtetes Bündnis. Was sollten wir davon halten? Das Wichtigste für uns beide war, den veröffentlichten Wortlaut des Vertrages daraufhin zu untersuchen, ob in ihm irgend eine Passage enthalten war, die über ein Abkommen zum gegenseitigen Nichtangriff hinausging und dem Ganzen Bündnischarakter verliehen hätte. Es gab zu unserer großen Beruhigung keine einzige solche Passage. Bei der Suche nach Gründen, welche die Sowjetunion zu diesem Schritt veranlasst haben könnten, waren wir uns einig, dass die Sowjetunion damit sicher der ja offenkundigen Gefahr vorbeugen wollte, dass die Westmächte etwa mit Hitlerdeutschland ein neues Münchener Abkommen, diesmal aber auf Kosten der Sowjetunion, schließen würden; wir wussten beide sehr gut, dass sie die Aufrüstung Nazideutschlands nicht nur geduldet, sondern gefördert hatten in der Hoffnung, die deutsche Aggression gegen die Sowjetunion lenken zu können. Wenn es der Sowjetunion mit diesem Abkommen gelang, Zeit zu gewinnen, dann konnte uns das nur recht sein. Dass es nur um Zeitgewinn gehen konnte, dessen waren wir uns gewiss; denn soviel wussten wir: das wichtigste Kriegsziel Hitlers und seiner finanzkapitalistischen Hintermänner war die Vernichtung der “bolschewistischen Gefahr”, der Sowjetunion. Wenn sich Deutschland zunächst gegen den Westen wenden würde, dann auch mit der Absicht, sich den Rücken frei zu machen für einen späteren Krieg gegen die SU.
Auch die Besetzung der ostpolnischen Gebiete durch die Rote Armee am 17.September, die noch heutzutage von so genannten “demokratischen Sozialisten” in höchsten Tönen moralischer Entrüstung als grobe Verletzung des Völkerrechts verurteilt wird , – von den gleichen Leuten also, die heute, sobald sie in die so heiß begehrten Regierungsämter gelangt sind, sich zu Bütteln der Durchsetzung der Programme des Kapitals zur Ausplünderung der Wähler hergeben, denen sie vorher die Vertretung ihrer Interessen versprachen, – diese Besetzung zu bejahen und zu begrüßen machte uns überhaupt keine Schwierigkeiten. Zum einen deshalb, weil, wo die Rote Armee Wache hielt, die Wehrmacht nicht weiter vorrücken konnte, die Bevölkerung also davor bewahrt blieb, unter den Stiefel der Faschisten getreten zu werden.
Aber noch viel wichtiger: wir wussten doch, dass dies Gebiete waren, die zu Weißrussland und zur Ukraine gehört hatten und 1920 vom Pilsudski-Regime gewaltsam und völkerrechtswidrig annektiert worden waren. Wir empfanden es als einen Geniestreich Stalins, die gegenwärtigen Verstrickungen der imperialistischen Mächte dazu auszunutzen, friedlich das zurückzuholen, was Sowjetrussland seinerzeit gewaltsam entrissen worden war.
Als ich im Oktober 1940 – jetzt schon als Angehöriger der Wehrmacht – für drei Monate Stu-dienurlaub erhielt, nahm ich natürlich wieder die Verbindung zu den Genossen unserer KJVD-Gruppe auf. Auch sie hatten die genannten Ereignisse genau so beurteilt wie ich und mein Genosse im RAD-Trupp.
Im übrigen war unsere Haltung zur Sowjetunion in dieser komplizierten Zeit, und so abgesperrt, wie wir seit 1933 von Informationen waren, bestimmt von einem durch lange Jahre nie enttäuschten Vertrauen zur sowjetischen Führung. Wir waren auch ganz sicher, dass früher oder später die Wehrmacht den Befehl zum Überfall auf die Sowjetunion erhalten würde, und genau so sicher waren wir auch, dass dies dann der Anfang vom Ende des Hitlerregimes in Deutschland sein würde. Auch darin sollte unser Vertrauen in die Sowjetunion und ihre Füh-rung nicht enttäuscht werden.
Am 21. Juni 1941 war es dann so weit, dass Hitler den Befehl zur Verwirklichung des “Planes Barbarossa” , zum Beginn des Überfalles auf die Sowjetunion gab. Vom ersten Tage an bis zum 14. März 1943, dem Tag meines Übertritts auf die Seite der Roten Armee, war ich gezwun-genermaßen Teilnehmer des “Ostfeldzuges”.
Natürlich war ich nach meinem Übertritt für die sowjetische Seite ein Kriegsgefangener und kam in ein Arbeitslager. Das Leben dort war hart, Arbeit im Torfmoor zur Torfgewinnung als Brennmaterial für ein nahe gelegenes Kraftwerk, mit nur zu oft kaputten Schuhen im Wasser der Entwässerungsgräben. Aber ich wusste, wie sowjetische Kriegsgefangene durch die Deutschen behandelt wurden, hatte selbst erlebt, wie Verwundete einfach abgeknallt wurden, wusste, dass in den “Stalags” in Deutschland sowjetische Kriegsgefangene in Massen durch Arbeit, Hunger und Krankheit vorsätzlich umgebracht wurden. Wir dagegen erlebten, wie sich sowjetische Ärzte bemühten, das Leben verwundeter deutscher Kriegsgefangener zu retten. Die Verpflegung bei uns im Lager war so, dass der Hunger zwar nie völlig gestillt wurde, aber wir wussten auch: der Bevölkerung im nächsten Dorf ging es nicht besser. Wir haben erlebt, dass in einem besonders strengen Winter – ich glaube, das war 1945 auf 1946 – die Leute im Dorf ihren Mahlzeiten Baumrinde beigaben, während wir selbst in den schlechtesten Zeiten in unserem Essen Büchsenfleisch aus den US-Lieferungen fanden. Kurzum, ich erlebte auch als Kriegs-gefangener, dass man sich auf Stalins Wort verlassen konnte: “Wenn sich der deutsche Soldat ergibt, wird er entsprechend den internationalen Abmachungen behandelt!” Das ging – zum großen Ärger vieler “Landser” – so weit, dass auch die Vorschriften eingehalten wurden, die den Offizieren eine Vorzugsbehandlung einräumten.
Nach einigen Monaten wurde ich zusammen mit anderen Kameraden als Kursant auf die zentrale Antifa-Schule in Taliza geschickt, auf der wir – insgesamt zehn Kursanten – nach Absolvierung des Lehrgangs als Assistenten der dort als Lehrer wirkenden Emigran-ten-Genossen arbeiteten. Ich blieb dort bis zu meiner Entlassung nach Deutschland im Sommer 1947. Das waren Jahre angespanntesten Studiums, denn wir mussten uns die Kenntnisse an-eignen, die nötig waren, um Vorlesungen zu halten und Seminare durchzuführen auf den Ge-bieten: Deutsche Geschichte, Geschichte Russlands und der Sowjetunion, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Politische Ökonomie und marxistisch-leninistische Philosophie. Diese Jahre an der Antifa-Schule – sie waren meine eigentliche Universität; und ich übertreibe nicht, wenn ich sage: von dem dort Gelernten zehre ich noch heute, denn ohnedem wäre es mir nicht möglich gewesen, die Chruschtschowerei als Verrat am Marxismus-Leninismus und als feindliche Diversion zu erkennen. Das, was uns dort der stärkste Ansporn war und auch die größte Befriedigung gewährte, war das Bewusstsein, dazu beizutragen, dass Landser, die Hitler dazu missbraucht hatte, die Sowjetunion zu zerstören, als Antifaschisten in die Heimat zu-rückkehrten um zu helfen, das schwere geistige und materielle Erbe des Faschismus zu über-winden und eine neue, antifaschistische Ordnung in ganz Deutschland zu errichten.
Nach meiner Rückkehr in die Heimat im Sommer 1947 arbeitete ich bis zum Jahre 1955 in der Bezirksleitung der SED, um dann 1955 eine Doktor-Aspirantur an der Humboldt-Universität zu beginnen. Am 5. März 1953, also noch in der Zeit meiner Arbeit im Parteiapparat, starb Stalin. Während der gewaltigen Trauerdemonstration, die in Berlin wie in der ganzen Welt stattfand, hörte ich nicht nur einmal die fast verzweifelte Frage: “Was soll denn nun werden? Wie wird es weitergehen?” Ich habe damals gedacht und wohl auch diesem und jenem gesagt: “Wie kann ein Marxist nur so fragen? Es werden andere an seine Stelle treten und seine Sache, die Sache Lenins, weiterführen!”
Nur zu bald sollte ich feststellen, dass ich unrecht, dass ich die Rolle der Persönlichkeit doch unterschätzt hatte. Woher kam das? Mir war noch nicht klar, was ich erst langsam hinzulernte: dass nämlich die Rolle der Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft um vieles be-deutsamer ist, als im Kapitalismus. Im Kapitalismus wäre ganz unmöglich, dass ein Partei- oder Staatsführer durch eine Politik des Verrates an seiner Klasse die kapitalistische Ordnung un-terminieren und Schritt für Schritt und Stück für Stück in eine nicht mehr kapitalistische, in eine sozialistische überführen könnte. Im Sozialismus aber ist ein solcher Weg der Unterminierung der sozialistischen Ordnung und ihre Perestroika in eine kapitalistische mittels einer Politik des Klassenverrates durch die Partei- und Staatsführung nicht nur möglich, sondern von Chruschtschow begonnen und von Gorbatschow zum Erfolg geführt worden. Woran liegt das?
Die Erklärung kennen wir eigentlich alle, aber wir machen sie uns nicht bewusst: Der Kapita-lismus ist ein sich selbst regulierendes System, dessen Gesetzen die Menschen unterworfen sind. Der Sozialismus ist in Theorie und Praxis eine Wissenschaft. Der sozialistische Aufbau muss also auch wissenschaftlich betrieben werden, d.h., der sozialistische Politiker und Ökonom muss die Gesetze der Entwicklung der Gesellschaft und die ökonomischen Gesetze des Sozialismus kennen und darauf seine Politik aufbauen. Oder anders gesagt: Während der Prozess der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus ein spontaner Prozess ist, ist der Prozess der Errichtung und Entwicklung des Sozialismus ein bewusster, organisierter Prozess. Das aber bedeutet, dass die Führungsqualitäten der führenden Persönlichkeiten im Sozialismus eine für das Schicksal des Sozialismus, für das Gelingen oder das Scheitern des sozialistischen Aufbaus, entscheidende Rolle spielen. Das bedeutet aber auch, dass die imperialistischen Politiker über ganz andere und wirkungsvollere Mittel der Einflussnahme auf die politische Entwicklung in den Ländern des Sozialismus verfügen, als umgekehrt. Das sozialistische System kann durch Einschleusung von Agenten des Imperialismus in seinen Herrschaftsapparat oder durch Korrumpierung von Führungskräften paralysiert und sogar zerstört werden, das kapitalistische System nur durch den Kampf der Massen.
Die Bourgeoisie weiß um diese besonders große Bedeutung revolutionärer Persönlichkeiten für den Sieg des Sozialismus offenkundig besser Bescheid, als wir. Daher gehört die Planung von Morden an besonders fähigen, populären und unbestechlichen Führern der kommunistischen Parteien und der antiimperialistischen Bewegungen ebenso zum Alltagsgeschäft der imperia-listischen Geheimdienste wie die Zersetzung revolutionärer Bewegungen und der kommunis-tischen Parteien von innen. Und daher auch ihre besonders großen Hoffnungen auf das Ableben von besonders populären und hervorragenden revolutionären Führern, und die besonders in-tensiven Bemühungen, nach deren Tod auf die Wahl des Nachfolgers Einfluss zu nehmen. Dazu gab es die Einteilung der Führer der kommunistischen Parteien in die “Tauben” die zu fördern und die “Falken”, die zu bekämpfen waren; später taufte man dann die zu Fördernden in die “Antistalinisten” und “Reformer” um, und die zu Bekämpfenden und zu Eliminierenden in “Stalinisten” und “Betonköpfe.”
Schon in den letzten Wochen und Tagen Lenins hoffte man im Westen auf die Schwächung und Zersetzung der Sowjetmacht durch Machtkämpfe um die Nachfolge Lenins nach dessen Tod. Und sie hatten Grund zu solchen Hoffnungen, denn der jahrzehntelange Gegner Lenins, der erst in den letzten Monaten vor der Oktoberrevolution, auf dem VI. Parteitag der Bolschewiki im August 1917, durch Eintritt in die Partei Lenins auf den Zug der von den Bolschewiki vorbe-reiteten und geführten Revolution aufgesprungen war, Trotzki, setzte alles daran, sich als Nachfolger Lenins an die Spitze der Partei zu setzen. Wäre ihm das gelungen, wäre das gleichbedeutend gewesen mit dem Ende der Partei als marxistisch-leninistischer Partei, und damit gleichbedeutend mit dem Ende der Sowjetmacht. Denn im Gegensatz zu Lenin und der Mehrheit der führenden Genossen vertrat Trotzki vehement die These, dass der Sieg und der Aufbau des Sozialismus in einem Lande unmöglich sei.
Lenin hatte 1915 in einem Aufsatz in der Schweizer Zeitung “Sozialdemokrat” erstmals davon gesprochen, dass der Sieg des Sozialismus in einem einzeln genommenen Lande möglich sei. Er schrieb in dem Artikel “Die Vereinigten Staaten von Europa”:
Als selbständige Losung wäre … die Losung Vereinigte Staaten der Welt wohl kaum richtig, denn erstens fällt sie mit dem Sozialismus zusammen, und zweitens könnte sie die falsche Auffassung von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande und eine falsche Auffassung von den Beziehungen eines solchen Landes zu den übrigen entstehen lassen. Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist.” (Nachzulesen ist das in Bd.21, S.345 der Werke Lenins, Berlin 1960).
Sofort meldete sich Trotzki mit einem Gegenartikel zu Wort, in dem er schrieb:
“ Das einzige einigermaßen konkrete historische Argument gegen die Losung der Vereinigten Staaten wurde im schweizerischen ‚Sozialdemokrat’ in folgendem Satz formuliert: ‚Die Un-gleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus.’ Daraus zog der ‚Sozialdemokrat’ den Schluss, dass der Sieg des Sozialismus in einem Lande möglich sei.” Dem widersprach Trotzki mit der Feststellung, es wäre aussichtslos, zu glauben, “dass zum Beispiel ein revolutionäres Russland einem konservativen Europa ge-genüber sich behaupten … könnte.” (In: Trotzki, Schriften, Bd. III, Teil I, S.89).
Nach dem Sieg der Oktoberrevolution hofften natürlich alle Revolutionäre in Russland, dass ihrem Beispiel die Arbeiter in anderen Ländern, vor allem in Deutschland folgen würden. Als sich dann nach dem Abklingen der revolutionären Welle herausstellte, dass Sowjetrussland zunächst allein in einer kapitalistischen Umkreisung leben müsse, waren Lenins Worte von 1915 von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande, noch dazu einem Lande wie Russland, das gewissermaßen einen eigenen Kontinent darstellte, der Leitfaden für das Handeln der wirklichen Bolschewiki.
Trotzki dagegen hielt an seiner These von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande fest und verkündete, ohne den Sieg der Weltrevolution sei die Sowjetunion zum Untergang verurteilt. Die Revolution müsse deshalb “permanent” gemacht werden und nöti-genfalls mit den Bajonetten der Roten Armee nach Westen getragen werden – oder sie werde “auf dem Halm verfaulen”. Trotzkis “Theorie der permanenten Revolution” verbarg in Wahrheit unter “revolutionärem” Etikett eine Theorie der Kapitulation für den Fall, dass die “Weltrevolution” nicht baldigst die russische Revolution aus der Isolierung befreien würde. Diese Theorie war zugleich abenteuerlich und defätistisch, und auf jeden Fall konterrevoluti-onär. Der Kampf gegen sie war deshalb ein Kampf, von dessen Ausgang die Existenz der Sowjetmacht abhing.
Weil Stalin am entschiedensten gegen Trotzkis Untergangsthese von der “Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande” Lenins These von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande, in der Sowjetunion, verteidigte, konzentrierten Trotzki und die Seinen das Hauptfeuer auf Stalin. Sie haben immerhin erreicht, dass die meisten Leute heute glauben, Stalin sei der “Erfinder der Theorie von der Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande” gewesen und keine Ahnung davon haben, dass diese Theorie von Lenin stammt, noch davon, mit welchen Argumenten Stalin diese Leninsche Theorie verteidigte und begründete. Deshalb sei hier vorgetragen, was Stalin dazu in seiner Arbeit “Zu den Fragen des Leninismus” 1926 geschrieben hat:
“Was bedeutet die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande?
Das bedeutet die Möglichkeit, die Gegensätze zwischen Proletariat und Bauernschaft mit den inneren Kräften unseres Landes zu überwinden, die Möglichkeit, dass das Proletariat die Macht ergreifen und diese Macht zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in unserem Lande ausnutzen kann, gestützt auf die Sympathien und die Unterstützung der Proletarier der anderen Länder, aber ohne vorherigen Sieg der proletarischen Revolution in anderen Ländern.
Was bedeutet die Unmöglichkeit des vollen, endgültigen Sieges des Sozialismus in einem Lande ohne den Sieg der Revolution in anderen Ländern? Das bedeutet die Unmöglichkeit einer vollständigen Garantie gegen die Intervention und folglich gegen die Restauration der bür-gerlichen Ordnung, wenn die Revolution nicht wenigstens in einer Reihe von Ländern gesiegt hat.” (Nachzulesen in Band 8, S.58 der Stalin-Werke.)
Nicht wenige Leute meinen heute, der Untergang der Sowjetunion beweise, dass Trotzki mit seiner These von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande doch gegen Stalin recht behalten habe. Sie übersehen dabei jedoch erstens, dass die Sowjetunion nicht unterging, als sie noch der einzige sozialistische Staat der Erde war, sondern nachdem es sozialistische Staaten und Staaten sozialistischer Orientierung schon in allen Erdteilen außer Australien gab, die in den Jahren von 1948/49 an bis 1960, bis zum von Chruschtschow bewerkstelligten Bruch mit der Volksrepublik China und Albanien, eine sozialistische Staatengemeinschaft gebildet hatten, die bereits ein Drittel des Erdballs ausmachte. Das Problem des Sozialismus in einem Lande war damit gegen Trotzki im Sinne Lenins und Stalins gelöst. Und diese Leute vergessen nun ganz und gar, dass allein das bisherige Überleben des sozialistischen Winzlings Kuba im Würgegriff seines übermächtigen Nachbarn USA nach dem Untergang seiner wichtigsten Unterstützer die Trotzki-Theorie von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande der Lächerlichkeit preisgibt und beweist, dass Trotzki nie begriffen hat, wo die Wurzeln der Überlebenskraft der proletarischen Revolution liegen. Noch vor Lenins Tod begann er den Kampf um die Macht. Selbst in der nach dem XX. Parteitag “entstalinisierten” “ Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion” aus dem Jahre 1970 (erschienen in Berlin 1971), wurde dies noch wahrheitsgemäß berichtet:
“Trotzki machte sich den Umstand zunutze, dass der Führer der Partei, W.I. Lenin, infolge seiner schweren Erkrankung aus der Arbeit ausgeschieden war, und nahm den Kampf gegen die Partei erneut auf. Er hoffte, dass die Schwierigkeiten im Lande seine Pläne begünstigen würden, die Führung der Partei an sich zu reißen und eine Linie durchzusetzen, die letztlich zur Restauration des Kapitalismus geführt hätte.” (S.423).
Dabei setzte er vor allem auf Lenins Aufzeichnungen vom 23./24./25. Dezember 1922 und 4. Januar 1923, die als Brief an den bevorstehenden XIII Parteitag gedacht waren. Aus diesen Aufzeichnungen spricht die große Sorge Lenins, die Auseinandersetzungen in der Partei, vor allem zwischen Trotzki und Stalin, könnten zur Spaltung der Partei führen. Er gab in diesen Aufzeichnungen auch eine kurze Charakteristik der wichtigsten Genossen der Führung der Partei, – Trotzki, Stalin, Sinowjew, Kamenjew, Bucharin und Pjatakow, wobei er deren Vorzüge und Mängel benannte. Dabei war Stalin der einzige, bei dem er an seiner politischen Haltung nichts auszusetzen hatte, wohl aber an, wie er sie nannte, Stalins Grobheit in den in-nerparteilichen Auseinandersetzungen.
“Stalin ist zu grob”, schrieb er am 4. Januar 1924, “und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Gene-ralsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit, oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann.” (Die genannten Aufzeichnungen vom 22. 12. 1923 bis zum 4. 1. 1924 sind nachzulesen in Band 36, S.577-580, Berlin 1964 der Lenin-Werke).
Die trotzkistische Propaganda behauptet bis zum heutigen Tage, Stalin habe diese Kritik Lenins vor der Partei verheimlicht. Wie es sich wirklich verhielt, das wird in einem 1995 in Moskau erschienenen und natürlich antikommunistischen Buch mit dem Titel: Stalin. Briefe an Molotow 1925-1936, in Deutschland 1996 im Siedler Verlag herausgebracht, von einem der Herausgeber wie folgt beschrieben:
“ Nur Nadeschda Krupskaja, Lenins Frau, kannte den vollen Inhalt des Dokuments, das sie nach Lenins Tod Anfang 1924 zusammen mit anderen Papieren dem Zentralkomitee übergab. Die Parteiführung entschied, Lenins Brief nicht in das offizielle Protokoll des bevorstehenden XIII. Parteitages aufzunehmen, sondern es den einzelnen Delegationen vertraulich zu verlesen. Stalin bot seinen Rücktritt als Generalsekretär an, dies wurde aber nicht akzeptiert. Der Brief selbst wurde nicht veröffentlicht.” (S.33 des angegebenen Buches).
Veröffentlicht wurde jedoch Stalins Rede über “Die trotzkistische Opposition früher und jetzt” vom 23. Oktober 1927, in der Stalin auf die so genannte “Eastman-Affäre” einging und dann ausführte:
“Man sagt, Genosse Lenin habe in diesem “Testament” dem Parteitag vorgeschlagen, man solle sich im Hinblick auf Stalins ‚Grobheit’ überlegen, ob man nicht Stalin als Generalsekretär durch einen anderen Genossen ersetzen solle. Das stimmt durchaus. Ja, Genossen, ich bin grob gegen diejenigen, die grob und verräterisch die Partei zersetzen und spalten. Ich habe das nicht verheimlicht und verheimliche es nicht. Möglich, dass hier eine gewisse Milde gegenüber den Spaltern erforderlich ist. Aber das bringe ich nicht fertig. Gleich in der ersten Sitzung des ZK-Plenums nach dem XIII. Parteitag ersuchte ich das Plenum des ZK, mich von der Funktion des Generalsekretärs zu entbinden. Der Parteitag selbst behandelte diese Frage. Jede Delegation behandelte diese Frage, und alle Delegationen, unter ihnen auch Trotzki, Kamenew, Sinowew, verpflichteten Stalin einstimmig, auf seinem Posten zu bleiben.
Was konnte ich tun? Von meinem Posten davonlaufen? Das ist nicht meine Art, ich bin niemals von irgendeinem Posten davongelaufen, und ich habe kein Recht, davonzulaufen, denn das wäre Desertion… Ein Jahr danach richtete ich erneut einen Antrag an das Plenum, mich von meiner Funktion zu entbinden, aber man verpflichtete mich erneut, auf meinem Posten zu bleiben. Was konnte ich weiter tun?
Was die Veröffentlichung des ‚Testaments’ angeht, so beschloss der Parteitag, es nicht zu veröffentlichen, da es an den Parteitag gerichtet und nicht für die Presse bestimmt war.”
(Zu finden in: Stalin, Werke, Bd. 10, S.153, Berlin 1953).
In der Tat hatte nicht Stalin, sondern hatten andere eine Veröffentlichung zu fürchten, hatte Lenin doch Trotzki “Nichtbolschewismus” bescheinigt, von Kamenew und Sinowjew gesagt, “dass die Episode im Oktober natürlich kein Zufall war” – (im Oktober 1917 hatten die beiden der bürgerlichen Presse den in der Parteiführung beschlossenen Termin für den Beginn des bewaffneten Aufstandes zugespielt, weshalb Lenin damals für diesen Verrat ihren Ausschluss aus der Partei verlangt hatte); und hatte Lenin doch von Bucharin gesagt, “ er gilt mit Recht als Liebling der ganzen Partei, aber seine theoretischen Anschauungen können nur mit sehr großen Bedenken zu den völlig marxistischen gerechnet werden”.
Trotzki aber benutzte das “Testament” mit der Empfehlung , Stalin als Generalsekretär durch einen anderen zu ersetzen, dazu, der Parteiöffentlichkeit zu suggerieren, Lenin habe als seinen Nachfolger an der Spitze der Partei ihn, Trotzki, im Auge gehabt. Dabei gab ihm das 1925 herausgebrachte Buch eines amerikanischen Journalisten und Trotzki-Sympathisanten, Max Eastman, mit dem Titel: “Since Lenin Died”, kräftige Hilfestellung. Zu diesem Eastman und seinem Buch hatte Stalin in der erwähnten Rede ausgeführt:
”Es gibt da einen gewissen Eastman, einen ehemaligen amerikanischen Kommunisten, der dann aus der Partei hinausgeworfen wurde. Nachdem sich dieser Herr eine Zeitlang in Moskau unter Trotzkisten herumgetrieben und verschiedene Gerüchte und Verleumdungen in Bezug auf Lenins ‚Testament’ gesammelt hatte, fuhr er ins Ausland und gab unter dem Titel ‚Nach Lenins Tod’ ein Buch heraus, in dem er nicht an Farben spart, um die Partei, das Zentralkomitee und die Sowjetmacht zu verleumden, und in dem alles darauf aufgebaut ist, dass das ZK unserer Partei angeblich das ‚Testament’ Lenins ‚verheimlicht’. Da dieser Eastman eine Zeitlang mit Trotzki in Verbindung stand, forderten wir, die Mitglieder des Politbüros, Trotzki auf, sich von Eastman abzugrenzen, der dadurch, dass er sich an Trotzki klammert und sich auf die Opposition beruft, Trotzki für die Verleumdungen unserer Partei hinsichtlich des ‚Testaments’ verantwortlich macht. Da die Frage so offenkundig war, grenzte sich Trotzki wirklich von Eastman ab und gab eine entsprechende Erklärung an die Presse. Sie wurde im September 1925 in Nummer 16 des ‚Bolschewik’ veröffentlicht..”
Dieses Buch war eine unverhohlene Hilfestellung für Trotzki in dessen Kampf um die Nach-folge Lenins. Was von Eastmans “Enthüllungen” zu halten ist, schildert der Mitherausgeber der oben erwähnten Dokumentation der Stalin-Briefe an Molotow aus dem Jahre 1995 wie folgt:
“Frühere westliche Interpretationen sind stets davon ausgegangen, dass Eastmans Buch »lange Auszüge«‚ des Testaments »korrekt wiedergibt«. Als ich Testaments »Since Lenin Died« las, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass dies weit von der Wahrheit entfernt ist. Eastman gibt das Testament nicht nur stark entstellt wieder. Vielmehr dienen seine Entstellungen alle ganz offensichtlich einem politischen Zweck, der im Schlusssatz des Buches unzweideutig formuliert ist: Die Revolutionäre anderer Länder sollten sich daran erinnern, dass »sie nicht gelobt haben, im Namen des ‚Leninismus’ die internationale Autorität einer Gruppe zu akzeptieren, vor der Lenin in seinen letzten Worten warnt und die wesentlichen Texte Lenins unterschlagen hat, um diese Autorität aufrechtzuerhalten«.
Eastman interpretiert das Testament als eine »direkte Bestätigung von Trotzkis Ansehen«. Um zu dieser Schlussfolgerung zu kommen, musste er die positiven Äußerungen über andere Führungspersönlichkeiten und die negativen Bemerkungen über Trotzki weglassen. Die Schuld für diese Fehler ist nicht in erster Linie Eastman anzulasten, der sich auf »drei verantwortliche hochgestellte Kommunisten in Russland« berief, die das Testament gelesen und »sich seine wichtigsten Sätze eingeprägt« hatten. In seinen Memoiren, die 1964 erschienen, erinnert sich Eastman, dass Trotzki auf dem XIII. Parteitag im Jahre 1924 »mich in eine verborgene Ecke des Palastes zog und mir dort die wichtigsten Sätze aus Lenins ‚Testament’ mitteilte«. (In einem Memorandum an Stalin,… deutet Trotzki an, er habe Eastman während dieser Zeit nicht ge-troffen.) Vor der Veröffentlichung zeigte Eastman sein Manuskript Christian Rakowski, einem Gefolgsmann Trotzkis, der damals in Frankreich tätig war. Rakowski stimmte der Veröffent-lichung zu. Die Verantwortung für die Entstellungen scheint deshalb bei der Trotzki-Gruppe selbst zu liegen.” (S.34/35)
Damit aber hatte die Trotzki eine Grube gegraben, in die Stalin stürzen sollte, in die er aber nun selber fiel. Er konnte nicht anders, als der Forderung des Politbüros nachzukommen und sich von den Lügen und Verleumdungen Eastmans in dem von Stalin erwähnten Artikel zu distan-zieren. In seiner Rede über die trotzkistische Opposition zitierte Stalin eine lange Passage aus diesem Artikel Trotzkis. Trotzki hatte darin festgestellt:
“Es versteht sich von selbst, dass alle diese Briefe und Vorschläge (Lenins) stets bestim-mungsgemäß weitergeleitet, den Delegierten des XII. und XIII. Parteitags zur Kenntnis gebracht wurden und selbstverständlich immer entsprechenden Einfluss auf die Beschlüsse der Partei ausübten, und wenn nicht alle diese Briefe veröffentlicht wurden, so deshalb, weil sie von ihrem Verfasser nicht für die Presse bestimmt waren…. Alle Redereien über ein verheimlichtes oder verletztes ‚Testament’ sind böswillige Erfindungen und sind ganz und gar gegen den faktischen Willen Wladimir Jljitschs sowie gegen die Interessen der von ihm geschaffenen Partei gerichtet.”
Das kam einer Selbstentlarvung gleich, denn jedem musste klar sein, dass die Quelle für Eastmans “Enthüllungen” nur Trotzki selbst und seine Gruppe sein konnte. Die “East-man-Affäre” dürfte daher mit dazu beigetragen haben, dass der Versuch, Lenins Tod dazu auszunutzen, durch Entfesselung eines Machtkampfes die KPdSU zu schwächen und füh-rungsunfähig und dadurch den Weg für eine kapitalistische Restauration frei zu machen, kläg-lich scheiterte. Das Hauptverdienst dafür kam Stalin zu. Es war ein Glücksfall für die KPdSU und für die Sowjetunion, dass nach Lenins Tod ein Mann wie Stalin bereitstand, der Lenins Ideen wie kein zweiter sich zu eigen gemacht hatte und die notwendige Elastizität und Härte besaß, die notwendig war im Überlebenskampf der Sowjetunion gegen die feindlichen Um-kreisung, besonders, nachdem der Imperialismus die Sowjetunion mit dem Überfall des fa-schistischen Deutschland bedrohte.
Ich habe diese weit zurückliegende Geschichte so ausführlich erzählt, weil sie nach Stalins Tod – 5.März 1953 – wieder hervorgeholt wurde, um zu dem gleichen Zweck eingesetzt zu werden, zu dem sie damals von Trotzki und den Seinen eingesetzt worden war. Wieder erhofften sich die Imperialisten vom Tode des verhassten und gefürchteten Bolschewikenführers eine Chance, in die unvermeidliche Situation der Unsicherheit während der Herausbildung der neuen Führung zu ihren Gunsten eingreifen und Leute ihrer Wahl an die Spitze bringen zu können. Hätte ich damals, 1953, schon das westdeutsche “Keesings Archiv der Gegenwart” gekannt und dessen Veröffentlichungen verfolgt, es wäre mir schneller gelungen, dahinter zu kommen, dass man in London und Washington mit der neuen Moskauer Führung sehr zufrieden war und große Hoffnungen auf sie setzte. Ich hätte dann nämlich folgende Berichte lesen können:
Der neue USA-Präsident Eisenhower hielt am 16.April 1953 eine Rede, in der er sagte:
“Die Welt weiß, dass mit dem Tode Stalins eine Epoche zu Ende ging… Jetzt ist eine neue Führergeneration in der Sowjetunion an die Macht gekommen. Die sie mit der Vergangenheit verknüpfenden Bande mögen auch noch so stark sein, sie bedeuten jedoch keine feste Bindung für sie.” (Zwischenfrage: Woher wussten die das?) Eisenhower fuhr fort: “Die Gestaltung der Zukunft hängt weitgehend von ihrem Willen ab… Die neuen sowjetischen Führer haben somit eine einmalige Gelegenheit, sich … darüber klar zu werden, welchen Grad der allgemeinen Gefährdung wir erreicht haben, und dass sie das ihre tun müssen, den Lauf der Geschichte zu wenden.”
Churchill am 11. Mai 1953 im Unterhaus:
“Das wichtigste Ereignis ist natürlich die Änderung der Haltung und, wie wir alle hoffen, des Geistes, die im Sowjetbereich und insbesondere im Kreml seit dem Tode Stalins stattgefunden hat…. Es ist die Politik der (britischen) Regierung, es durch jedes Mittel in ihrer Macht zu vermeiden, etwas zu tun oder zu sagen, das irgendeine günstige Reaktion hemmen könnte, die sich ergeben könnte, sowie jedes Zeichen einer Verbesserung in unseren Beziehungen zu Russland zu begrüßen.”
Hätte ich das damals schon zu lesen bekommen, ich hätte mich bestimmt gefragt: Was ist denn da los? Woher auf einmal soviel Hoffnung auf und Wohlwollen gegenüber dieser neuen Kreml-Führung? Haben die da etwa einen Vertrauensmann drin? Ich hatte es aber nicht gelesen und brauchte deshalb viel länger, bis ich wegen einer Abfolge von Ereignissen zwischen 1953 und 1956 schließlich doch auch auf die gleiche Frage gestoßen wurde. Die Ereignisse, die das waren, kann ich aus Zeitmangel hier nur benennen. Was es war, das mich stutzig und miss-trauisch machte, habe ich in der Einleitung meines Buches (Die Taubenfuß-Chronik oder Die Chruschtschowiade 1953 bis 1964, Bd. I 1953 bis 1957, S. 9-26) einigermaßen ausführlich genannt, und vielleicht haben wir in der Diskussion noch Zeit, darauf zurückzukommen.
Der erste Anlass dafür, dass ich mich fragte, warum die Freunde in Karlshorst so etwas zuließen oder vielleicht sogar die Anweisung dafür gegeben haben, war das Kommuniqué der SED-Parteiführung über den “Neuen Kurs” , das am 11. Juni 1953 veröffentlicht wurde. (Ausführliches kann man dazu in meinem Buch “Wider den Revisionismus” in dem Artikel über den 17. Juni 1953 nachlesen.)
Das zweite Ereignis, das mich überraschte und mir den Eindruck vermittelte, dass da drüben in der SU etwas nicht mehr ganz rund lief, war die Mitteilung im Dezember 1953 über die Er-schießung Berijas, – nach Stalins Tod zusammen mit Malenkow, Molotow und Chruschtschow prominentes Mitglied der neuen “kollektiven Führung” der KPdSU, nun zum Tode verurteilt mit der Beschuldigung, seit dem Bürgerkrieg schon ein imperialistischer Agent gewesen zu sein.
Als Drittes dann im Mai 1955 Chruschtschows Totalrehabilitierung Titos mit der Erklärung, alle 1948 und danach gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien Erfindungen von Staatsfeinden und imperialistischen Agenten gewesen, – eine Behauptung, die ganz offenkundig falsch war und die Frage aufwarf, was eigentlich mit dieser Geschichtslüge bezweckt wurde. Schließlich wusste ja alle Welt, dass Tito Jugoslawien in den Balkanpakt geführt hatte, dessen weitere Mitglieder die NATO-Staaten Türkei und Griechenland waren und der zum USA-geführten, gegen die Sowjetunion gerichteten Bündnissystem gehörte. Nicht weniger bekannt war, dass die USA, die ein striktes Waffenausfuhrverbot in die sozialistischen Staaten erlassen hatten, keinerlei Bedenken trugen, Tito-Jugoslawiens Armee mit Waffen auszurüsten.
Als Viertes und bislang Verwirrendstes – Chruschtschows Stalin-Verdammungsrede auf dem XX. Parteitag im Februar 1956. Sie schlug nicht nur allem ins Gesicht, was wir bisher aus der Sowjetunion über Stalin gehört, gelesen und in Filmen gesehen hatten, und es war das auch so sehr das Gegenteil dessen, was bisher Chruschtschow selbst über Stalin gesagt hatte, vor allem aber enthielt diese Rede nicht wenige ganz offenkundige Unwahrheiten, dass ich mich nunmehr ernsthaft fragte: Wer ist denn dieser Chruschtschow wirklich? Kann man ihm tatsächlich wei-terhin voll vertrauen?
Und dann geschah schließlich im Herbst des Jahres 1956, in den Tagen der Konterrevolution in Ungarn, das absolut Unbegreifliche und Unverzeihliche: Die Rote Armee stand mit ihren Panzern im Lande und griff tagelang nicht ein, als das ungarische Faschistengesindel wie in den Tagen der Liquidierung der Räterepublik in Ungarn im Jahre 1919 die Kommunisten jagte und an den Bäumen aufknüpfte. Die Verantwortung dafür konnte nur bei der Spitze, bei Chruschtschow liegen.
Was aber sollte man von einem Manne halten, der einen Liebling des Imperialismus, wie Tito, trotz erwiesener Feindschaft gegen die Sowjetunion und ebenso erwiesener Mitgliedschaft im USA-geführten Paktsystem rehabilitierte und einen “Teuren Genossen” nannte – gleichzeitig aber den Rotarmisten in Ungarn den Befehl gab, tagelang tatenlos zuzusehen, wie die ungari-schen Genossen ermordet wurden?
In meinem Buche (ebenda, S. 20) schildere ich, wie ich schließlich zu der Gewissheit gelangte, dass mit Chruschtschow als Generalsekretär der KPdSU das Undenkbare Wirklichkeit ge-worden war – dass nämlich ein als Marxist-Leninist getarnter Feind an die Spitze der Partei Lenins gelangt war. Diese Feststellung klingt manchem noch heute ungeheuerlich, aber nach den Erfahrungen mit einem Gorbatschow als KPdSU-Chef wohl nicht mehr so ganz unwahr-scheinlich und abenteuerlich, weil sich das Undenkbare nun doch vor aller Augen als nicht nur denkbar, sondern als traurige Wirklichkeit erwiesen hat.
Umso dringlicher aber stellt sich die Frage: Wie war das möglich? Bis wir imstande sein werden, darauf eine umfasssende Antwort zu geben, wird noch viel Zeit vergehen, weil es noch lange dauern wird, bis wir Zugang auch zu den Archiven bekommen, in denen ein Teil der Antwort verborgen ist. Aber Wesentliches zum Aufkommen und Wuchern des Revisionismus können wir doch schon heute sagen.
I. Gemeinsamkeiten und Unterschiede des “alten” und des “modernen” Revisionismus in den sozialistischen Ländern.
In der Zielsetzung:
Als “alten Revisionismus” bezeichne ich den Revisionismus , der Ende des 19. Jahrhunderts in den Parteien der Sozialdemokratie aufkam, als , “moderner Revisionismus” wurde der seit Ende der vierziger Jahre in der kommunistischen Bewegung aufkommende Revisionismus in den Dokumenten der internationalen Beratungen der kommunistischen und Arbeiterparteien bezeichnet. Beide sind Agenturen der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung. Aber der alte wirkt im Kapitalismus, der moderne vor allem im Sozialismus, aber auch in den kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder. Wir beschäftigen uns hier mit der Rolle des Revisionismus im Sozialismus.
Der alte Revisionismus will die Revolution verhindern, um den Kapitalismus zu erhalten. Der moderne will die Revolution rückgängig machen, um den Kapitalismus zu restaurieren.
Bei der Entstehung:
Der alte Revisionismus ist das Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus zum Monopolka-pitalismus, zum Imperialismus und des Entstehens der Arbeiteraristokratie, der vom Imperia-lismus korrumpierten Arbeiterschichten. Er ist der theoretische Ausdruck der Haltung der mit Brosamen der Extraprofite des Monopolkapitals korrumpierten Arbeiterschichten, die ihren Frieden mit einem “reformierten” Kapitalismus gemacht haben. Zu Beginn des Imperialismus war das auch in den Hauptländern des Kapitals eine mehr oder weniger dünne Oberschicht, heute stellt sie in diesen Ländern eine sehr breite Schicht dar, deren Ideologie gegenwärtig zur Ideologie der großen Mehrheit der Arbeiterklasse geworden ist.
Der moderne Revisionismus entstand auf andere Weise, ist nicht “von unten gewachsen”. Den Begriff des “modernen Revisionismus” gab es in der Sowjetunion der Vorkriegszeit nicht, weil es das, was ihn ausmacht, noch nicht gab. Es gab den Trotzkismus als “linke” Abweichung, und es gab rechte, opportunistische Abweichungen von der marxistisch-leninistischen Generallinie der Partei, aber sie besaßen noch keine durch bestimmte Inhalte gekennzeichnetes program-matische Ausprägung.
Das treffen wir erst nach dem Zweiten Weltkrieg an, aber nicht zuerst in der Sowjetunion, sondern in Titos Jugoslawien.
Eines der Merkmale des modernen Revisionismus ist die Geringschätzung der Rolle der Partei, das Bestreben, sie in einer klassenübergreifenden nationalen oder Volksfront aufgehen zu lassen. Genau diese Linie verfolgte Tito in Jugoslawien. In einer Rede, die er 1947 auf dem II. Kongress der Volksfront Jugoslawiens hielt und die 1947 von einem westberliner Verlag in großer Auflage unter dem Titel “ Marschall Tito: Wie wir es machen” verbreitet wurde, sagte er:
“Besitzt die Kommunistische Partei außerhalb der Volksfront irgendein anderes Programm? Nein! Die Kommunistische Partei hat kein anderes Programm. Das Programm der Volksfront ist auch ihr Programm.”
Ein weiteres Merkmal des Tito-Revisionismus war die Leugnung der Einteilung der Welt in ein Lager des Imperialismus und ein Lager des Sozialismus. Die Dokumente der Tito-Partei kennen eine solche Teilung nicht, sondern sprechen stets von der Einteilung der Welt in “entge-genstehende militärische Blöcke.” Trotz ihrer Zugehörigkeit zum imperialistischen Bündnis-system behaupteten sie von sich, “blockfrei” zu sein und traten als Organisatoren eines Blocks der “Blockfreien” auf.
Die Propagierung der “Blockfreiheit” – bedeutete jedoch und hatte zum Ziel und Ergebnis die Länder der nationalen Befreiungsbewegungen von einem Bündnis mit ihren natürlichen Ver-bündeten im Kampf um nationale Unabhängigkeit, mit den sozialistischen Ländern fernzu-halten. Während Fidel Castro innerhalb der Bewegung der “Blockfreien” immer wieder für ein solches Bündnis eintrat, stellte sich ihm Tito stets mit der Forderung entgegen, die “Block-freien” müssten ”gleichen Abstand zu beiden Blöcken” halten. Das war eine raffiniert ver-schleierte Hilfestellung für den USA-Imperialismus.
Was wir in Jugoslawien als Tito-Revisionismus vorfinden, war aber nicht dort entstanden, sondern hatte seinen Ursprung in den USA, genauer: der Schöpfer der Urform des modernen Revisionismus war Earl Browder, langjähriger Generalsekretär der KP der USA. Ab 1942, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, schlug er einen opportunistischen Kurs ein, löste die Partei auf und verwandelte sie in eine Art Propaganda-Verein, befürwortete das Aufgehen der Partei in einer breiten, alle Klassen umfassenden antifaschistischen Front, die Preisgabe des Kampfes der Kommunisten um den Sozialismus in den USA, und verkündete, die USA hätten ihre Absicht, den Sozialismus in der Sowjetunion zu beseitigen, aufgegeben, künftig werde ein dauerhafter Frieden durch die Zusammenarbeit der USA mit der UdSSR gesichert und die Sowjetunion solle ihre zerstörten Gebiete mit USA-Krediten wieder aufbauen. Diese revisio-nistischen Ideen fasste er in einer Schrift zusammen.
Diese Schrift wurde während des Krieges in deutscher und französischer Sprache in der Schweiz unter den kommunistischen Emigranten verschiedener Länder – vor allem deutscher, ungarischer und jugoslawischer – verbreitet und in Schulungen breit popularisiert. Der Mann, der die Übersetzung, den Druck und die Verbreitung dieser Urschrift des modernen Revisio-nismus betrieb, war Noel Field. Er war mit Browder befreundet .Als Beamter des US-Außenministeriums war er im Völkerbund tätig gewesen, war während des Verteidi-gungskrieges der spanischen Republik gegen die faschistische Intervention in Spanien, gehörte nach dem Abzug der Interbrigadisten und deren Einweisung in Lager in Frankreich der Kommission an, die alle Freiwilligen der Internationalen Brigaden namentlich registrierte. In Frankreich und der Schweiz übernahm er die Leitung einer Hilfsorganisation und knüpfte dadurch Beziehungen zu den kommunistischen Emigranten vieler Länder an. Gleichzeitig arbeitete er mit dem in Bern residierenden Chef des US-Geheimdienstes OSS, Allan Dulles zusammen.
In Bezug auf die Entstehung des alten und des neuen Revisionismus können wir also kurz zuammenfassend sagen: Der sozialdemokratische Revisionismus ist gewissermaßen aus den Oberschichten der Arbeiterklasse herausgewachsen. Der “moderne” Revisionismus ist als imperialistische Zersetzungsideologie von außen in die kommunistische Bewegung einge-schleust worden .
Wie und warum aber konnte er dort Wurzeln schlagen und schließlich über den Marxis-mus-Leninismus in der Sowjetunion und ihren europäischen Verbündeten den Sieg davontragen?
Auf den Beratungen der Kommunistischen und Arbeiterparteien Parteien 1957 und 1960 wurde der moderne Revisionismus zur Hauptgefahr erklärt und werden seine Hauptbestandteile auf-gezählt. So lesen wir in der Erklärung der Beratung von 1957:
“Der moderne Revisionismus ist bemüht, die große Lehre des Marxismus-Leninismus in Verruf zu bringen, er erklärt sie für ‚veraltet’, behauptet, sie habe heute ihre Bedeutung für die ge-sellschaftliche Entwicklung verloren. Die Revisionisten sind bestrebt, die revolutionäre Seele des Marxismus auszumerzen und den Glauben der Arbeiterklasse und des schaffenden Volkes an den Sozialismus zu erschüttern. Sie wenden sich gegen die historische Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, sie leugnen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei, sie lehnen die Prinzipien des proletarischen Internationalismus ab, sie fordern Verzicht auf die grundlegenden Leninschen Prinzipien des Parteiaufbaus und vor allem auf den demokratischen Zentralismus, sie fordern, dass die kommunistische Partei aus einer revolutionären Kampforganisation in eine Art Diskutierklub verwandelt wird.”
Das ist ein sehr hilfreicher, aber nicht einmal vollständiger Katalog der Kennzeichen des mo-dernen Revisionismus. Es fehlt ein ganz wichtiges Merkmal:
Die Verschleierung des unheilbar friedensfeindlichen Charakters des Imperialismus und seiner unversöhnlichen Feindschaft gegenüber dem Sozialismus, die Verbreitung der Illusion, der Imperialismus könne dazu gebracht werden, auf Dauer mit dem Sozialismus friedlich zusam-menzuleben und zusammenzuarbeiten.
Diese Aufzählung ist sehr nützlich, hat aber auch einen großen Mangel: Es fehlt die klare Aussage darüber, wer ist Träger dieser Auffassungen. Es werden zwar die inhaltlichen Merkmale des Revisionismus beim Namen genannt, aber über Namen und Adressen der füh-renden Revisionisten wurde geschwiegen. Hätte man diese benannt, hätte zusammen mit Tito Chruschtschows Name genannt werden müssen.
Er hat auf dem XX. Parteitag den Marxismus-Leninismus für veraltet erklärt, indem er ver-kündete, jetzt sei auch der parlamentarische Weg zum Sozialismus möglich!
Er hat den Glauben an die Gerechtigkeit des Sozialismus, des eigenen Werkes erschüttert, indem er auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Geschichte der Sowjetunion als die Geschichte eines Landes darstellte, das seit 1924 von einem Verbrecher und Massenmörder geleitet wurde.
Er hat für die Gegenwart die proletarische Revolution und in der Sowjetunion die Diktatur des Proletariats für entbehrlich erklärt, als er verkündete, sie sei in der Sowjetunion von der “Herrschaft des Volkes” abgelöst worden.
Er erklärte solche Revisionisten, wie Tito und Gomulka, die die Notwendigkeit der führenden Rolle der Kommunistischen Partei beim Aufbau des Sozialismus leugneten, zu zuverlässigen Marxisten-Leninisten.
Er erklärte den Verzicht auf die Prinzipien des proletarischen Internationalismus, als er 1955 zusammen mit Tito die jugoslawisch-sowjetische Belgrader Deklaration unterzeichnete, in der es u.a. heisst: “die Fragen der inneren Ordnung, des Unterschieds zwischen den konkreten Formen der Entwicklung des Sozialismus sind ausschließlich Sache der einzelnen Länder”. Das war Chruschtschows Segen zum Tito-revisionistischen sog. “Nationalkommunismus!”
Aber er blieb ungenannt, konnte sich vielmehr auf beiden Tagungen als Vorkämpfer gegen den Revisionismus aufspielen.
Auf der Tagung von 1960 wurde die Anonymität des Revisionismusvorwurfes durchbrochen, indem eine scharfe Kennzeichnung und Verurteilung des Tito-Revisionismus in die Ab-schlusserklärung aufgenommen wurde:
“Die kommunistischen Parteien haben die jugoslawische Spielart des internationalen Op-portunismus, die einen konzentrierten Ausdruck der ‚Theorien’ der modernen Revisionisten darstellt, einmütig verurteilt. Die Führer des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, die den Marxismus-Leninismus verrieten, indem sie ihn für veraltet erklärten, haben der Erklärung von 1957 ihr antileninistisches revisionistisches Programm – (das “Laibacher Programm” von 1958,K.G.) – entgegengestellt. Sie haben den BdKJ der gesamten kommunistischen Weltbe-wegung entgegengestellt, ihr Land vom sozialistischen Lager losgerissen, es von der so ge-nannten Hilfe der amerikanischen und anderen Imperialisten abhängig gemacht und damit die Gefahr heraufbeschworen, dass das jugoslawische Volk seiner im heroischen Kampf erzielten revolutionären Errungenschaften verlustig geht. Die jugoslawischen Revisionisten betreiben eine Wühlarbeit gegen das sozialistische Lager und die kommunistische Weltbewegung. Unter dem Vorwand einer blockfreien Politik entfalten sie eine Tätigkeit, die der Einheit aller friedliebenden Kräfte und Staaten Abbruch tut. Die weitere Entlarvung der Führer der jugoslawischen Revisionisten und der aktive Kampf dafür, die kommunistische Bewegung wie auch die Arbeiterbewegung gegen die antileninistischen Ideen der jugoslawischen Revisionisten abzu-schirmen, ist nach wie vor eine unerlässliche Aufgabe der marxistisch-leninistischen Parteien.”
Diese Forderung war nur zu sehr berechtigt, aber sie kam viel zu spät. Was hier verlangt wurde – Entlarvung Titos als Revisionist, und Abschirmung der kommunistischen Bewegung gegen die antileninistischen Ideen der jugoslawischen Revisionisten – das hatten die Parteien des Kommunistischen Informationsbüros – KPdSU, Polnische Arbeiterpartei, Ungarische Partei der Werktätigen, KP der CSR, Bulgarische Arbeiterpartei, KP Frankreichs und KP Italiens – schon 12 Jahre vorher mit ihrer Resolution vom Juni 1948 “Über die Lage in der kommunistischen Partei Jugoslawiens” getan. Aber wir hatten ja schon gesehen, dass Chruschtschow 1955 mit seiner Totalrehabilitierung Titos diese – wie von der Beratung 1960 so nachdrücklich bestätigt – notwendige Schutzimpfung der ganzen kommunistischen Bewegung unwirksam gemacht hatte. Tito wurde von Chruschtschow zum Opfer von Verleumdungen von Parteifeinden und imperialistischen Agenten, fast zu einem unschuldig verfolgten Heiligen erklärt. Stalin aber, der genau das getan hatte, was in der Erklärung von 1960 verlangt wurde, – Stalin wurde auch dafür von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag als Verfolger des unschuldigen Tito verdammt.
Chruschtschow hatte – nach dem Zeugnis von Enver Hoxha in seinem Buch ”Die Chruscht-schowianer” (S.502) – erklärt: “Das Dokument war ein Kompromiss, und Kompromisse haben ein kurzes Leben.” Er hat damit zum Ausdruck gebracht, dass er nicht im mindesten daran dachte, sich an das zu halten, was ihm an diesem Dokument nicht passte. Wiederum blieb der gefährlichste aller Revisionisten, Chruschtschow, ungenannt.
Und wie erfüllte Chruschtschow nun, 1960, die Forderung der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien? Überhaupt nicht! Er tat das genaue Gegenteil! Er führte den Bruch mit den konsequentesten Kämpfern gegen den Tito-Revisinismus, mit China und Albanien, herbei und entfesselte ein beispiellose Hetzkampagne gegen diese beiden sozialistischen Bruderländer! Bereits auf dem Kongress von 1960 griff er Albanien und China massiv an. Von ihm war der Verlauf des Kongresses ganz anders geplant: Er hatte eine Anklageschrift gegen die KP Chinas verfasst, die vor Beginn der Konferenz an alle Delegationen verteilt wurde. Er wollte einen Kongress, der Jugoslawien erneut volle Rehabilitation gewährt und dafür Volkschina auf die Anklagebank setzt. Das ist ihm gründlich misslungen! Statt dessen wurde daraus ein Kongress, der seinen Schützling Tito verurteilte. Das war für ihn ein Betriebsunfall, der schnellstens korrigiert werden musste: Keine weiteren Entlarvungen der Tito-Revisionisten, sondern volles Feuer gegen Mao und Enver Hodscha, gegen Volks-China und Albanien!
Warum kam er damit durch?
Ein wesentlicher Grund war: Chruschtschow gelang es, wie schon auf der Beratung von 1957, durchzusetzen, dass in dem Dokument der Beratung der XX. Parteitag und seine Festlegungen als richtig bestätigt wurden.
Dazu schrieb die KP Chinas in ihrem Dokument vom 14. Juni 1963 :”Ein Vorschlag zur Ge-nerallinie der internationalen kommunistischen Bewegung” : “Viele der falschen Ansichten im Erklärungsentwurf der Führung der KPdSU wurden abgelehnt… Auch die Delegation der KP Chinas und die Delegationen einiger anderer Parteien machten gewisse Zugeständnisse, nachdem die Führer der KPdSU damit einverstanden waren, ihre falschen Ansichten fallen zu lassen und die richtigen Ansichten der Bruderparteien anzunehmen. So zum Beispiel gingen unsere Meinungen über die Frage des XX. Parteitages der KPdSU… auseinander, aber mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der KPdSU und einiger anderer Bruderparteien gaben wir unsere Zustimmung, in diesen …Fragen die gleiche Formulierung wie in der Deklaration von 1957 zu gebrauchen.” (In: Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung, hgg. von der KAZ 1993, Nachdruck der Ausgabe des Oberbaumverlages, Berlin 1971). Diese Formulierung lautete:
“Die historischen Beschlüsse des XX. Parteitages der KPdSU haben nicht nur für die KPdSU und den kommunistischen Aufbau in der UdSSR große Bedeutung, sondern leiteten auch in der internationalen kommunistischen Bewegung eine neue Etappe ein und trugen zu deren weiterer Entwicklung auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus bei.”
Um der Erhaltung der Einheit willen gingen damals die Parteien, die auf unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Standpunkten standen, eine Art Handel ein: Lässt Du meine Formulierung an dieser Stelle zu, dann lasse ich auch Deine an jener Stelle zu.
In Wahrheit wurde damit aber nicht die Einheit erhalten, sondern eine nicht vorhandene Einheit nach außen hin vorgezeigt – ein Vorgehen, dass der Forderung Lenins nicht gerecht wurde, sondern sie missachtete: vorhandene Gegensätze in grundsätzlichen Fragen müssen ausgetragen und dürfen nicht verkleistert werden!
Diese Illusion ist lebensgefährlich für den Sozialismus, weil sie zur duldenden Hinnahme einer Politik der freiwilligen Entwaffnung und schließlichen Selbstauslieferung an den Todfeind führen kann und tatsächlich ja auch geführt hat.
Die Verbreitung einer solchen Illusion auch in der kommunistischen Bewegung und in der Sowjetunion fand nach dem Ende des zweiten Weltkrieges einige günstige Bedingungen vor:
Solche waren z.B.
1. Die Anti-Hitler-Koalition erleichterte Illusionen über eine Wandlung des Imperialismus und über das Verschwinden des antagonistischen Gegensatzes zwischen Imperialismus und Sozialismus.
2. Kriegsmüdigkeit, Friedenssehnsucht der Menschen
3. Die Existenz der Atomwaffen: das revisionistische Argument erschien jetzt besonders einleuchtend: der Frieden kann nicht gegen, sondern nur zusammen mit dem Imperia-lismus gesichert werden.
Vortrag, gehalten auf Einladung von Mitgliedern der KPÖ in Wien und Linz am 19. und 20 April 2002,
bisher nicht gedruckt veröffentlicht.