Martin Emko
242.000 Leute demonstrierten am Sonntag nach Veranstalter-Angaben in Berlin unter der sie einigenden Kurzformel #unteilbar.
Dass sehr viele Menschen aus ehrlichen Beweggründen gegen den Rassismus von AfD & Co. auf die Straße gingen, ist gut. Dass Klassenpositionen dort aber deutlich zu vermissen waren, ist schmerzlich und führte von Beliebigkeit über Unklarheiten über den Adressaten bishin zum unhinterfragten Auftreten der terroristischen „syrischen“ „Opposition“. Und es führte auch dazu, dass mit Andrea Nahles und Heiko Maas Leute diese Demo unterstützten, deren Partei selbst mitverantwortlich ist für die soziale Zuspitzung im Land – und damit auch den zunehmenden Rassismus.
Es war die SPD-Vorsitzende Nahles selbst, die im Mai 2018 tönte: „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen„. Dieser Satz scheint für BRD-Bürger – oberflächlich angehört – fast „selbstverständlich“ und wird häufig zitiert. Doch ist er bei genauerer Betrachtung rechts und nicht links, sondern nur link und hinterhältig. Dazu möge z.B. genügen: In der Klassengesellschaft der BRD gibt es kein „wir / uns“ – allein mit diesen zwei Pronomen wird bereits ausgespielt, „wir“ gegen andere, gegen die da, „alle“. Also „alle“? Dieses Wort ist in seiner Tendenziösität geeignet, Angst und Abwehr zu erzeugen: Ende des Jahres 2017 waren 68,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Sie „alle“ wollen also in die BRD? Solch vernebelnder Unfug treibt Leute nach rechts; ein andermal mehr dazu.
Wichtig sollte uns sein, auf der Basis von Klassenpositionen auf Leute zuzugehen und mit ihnen zu diskutieren. Als ersten Baustein hierzu sei ein Artikel empfohlen, in dem Andreas Grünwald untersucht, welche Positionen die marxistischen Klassiker zur Migration vertraten. Der Artikel läuft auf folgende Zusammenfassung hinaus:
1. Migration, Aus- und Einwanderung sind unter imperialistischen Bedingungen ein Prozess zu dem die Migranten durch die imperialistische Herrschaft und die verschärfte Ausbeutung der abhängigen Länder gezwungen sind. Er vollzieht sich unabhängig vom Willen des Einzelnen.
2. Die Bourgeoisie in den kapitalistischen Kernländern nutzt die Migration, um die Löhne, die sozialen Standards, das allgemeine Niveau des Lebens weiter zu senken, also um auch die bisherigen Arbeitskräfte im eigenen Land noch besser auszubeuten.
3. Sie befördert damit und mit entsprechenden Ideologien gleichzeitig die Spaltung der Arbeiterklasse auch in den kapitalistischen Kernländern und mindert so auch dort ihre Kampfkraft.
4. Sozialisten können auf diesen Prozess nicht in der Weise reagieren, in dem sie sich ihrerseits zu Fürsprechern möglicher Einwanderungsbeschränkungen machen. Warum nicht: weil sie sich damit selbst der Ideologie der Herrschenden ausliefern.
5. Internationale Solidarität mit den Migranten muss vor allem darin bestehen, für eine Verbesserung der Arbeits- und Kampfbedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern einzutreten und diesen Kampf, der dort in der Form ein nationaler Kampf ist, solidarisch durch internationale Aktion zu unterstützen. Das ist die eine Seite der Internationalen Solidarität. Die andere besteht darin, in den kapitalistischen Kernländern selbst Kolonalisierung politisch zu bekämpfen.
6. Um im eigenen Land wirksam zu kämpfen, um demokratische Reformen, ökonomische Kämpfe erfolgreich zu bestehen, um Prozesse der sozialen Revolution einzuleiten, muss alles dafür getan werden, dass auch die eingewanderten Arbeiter gleiche Rechte haben. Für den eigenen Kampf müssen sie als gleichberechtigter Teil in den Formierungsprozess gewerkschaftlicher und politischer Bewegungen einbezogen werden.
7. Die Kapitalisten versuchten, die immigrierten Arbeiter zum Drücken der Löhne und zur Spaltung der Arbeiterklasse zu benutzen. Aber für Sozialisten ist das nicht als „Schwäche“ des „kulturell minderwertigen immigrierenden Arbeiters“ hinzustellen, sondern als objektive Funktion, die die Bourgeoisie ihnen zudenkt. Dies kann nur durchkreuzt werden, wenn auch das inländische Proletariat den Kampf um gleiche Rechte für die ausländischen Arbeiter mit aufnimmt und sich mit ihnen verbindet.
Andreas Grünwald
Migration, Ein- und Zuwanderung bei Marx, Engels, Lenin …
Eine durchaus berechtigte Angst, weshalb eine offene Debatte dazu dringend erforderlich ist. Die geschieht nicht zum Selbstzweck, sondern natürlich mit dem Ziel die eigene Handlungsfähigkeit nach Möglichkeit zu optimieren.
Für mich als Marxisten gehört dazu auch (nicht nur!) der Blick in die Klassiker, denn Flucht, Migration und Einwanderung sind keine neuen Erscheinungen, sondern im Kapitalismus ein sich immer wieder wiederholendes Phänomen. Diesen Blick will ich hier ein wenig entwickeln.
Es ist das Verdienst von Karl Marx, Friedrich Engels und anderer Theoretiker des wissenschaftlichen Sozialismus in einer Vielzahl von Werken die objektiven Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft aufzuzeigen. Dazu gehört auch die Migration. Zunächst die vom Land in die Stadt, die in der Phase der Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaft schon vor 200 oder 300 Jahren eine besondere Rolle spielte. Aus der Sicht des Kapitals ein notwendiger Prozess um freie Lohnsklaven den neuen Ausbeutungsbedingungen zu unterwerfen.
Migration befördert zudem die Bildung Industrieller Reservearmeen. Diese entstehen zuallererst aus dem Ablauf des Kapitalverwertungsprozesses selbst, der in Zeiten der Überproduktion immer wieder Millionen bisher erwerbstätiger Menschen in eine erwerbslose Reservearmee verwandelt. Durch die Migration wird dieser Prozess befeuert. Die Reserven entstehen dauerhafter und stabiler. Die objektive Funktion solche Reservearmeen besteht immer darin, noch intensivere Formen der Ausbeutung – vor allem durch die Senkung der Lohnkosten – durch das Kapital durchzusetzen.
Menschen migrieren, wandern aus. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Auch die Art der Migration – von saisonal bis dauerhaft – weist viele Varianten auf. Gemeinsam ist allen diesen Migrationsbewegungen freilich, dass sie zu einer Stärkung solcher Reservearmeen für den Ausbeutungsprozess im Kapitalismus beitragen. Sie verändern damit zugleich die ökonomische Basis einer kapitalistischen Gesellschaft, und vermittelt darüber natürlich auch das jeweilige Alltagsbewusstsein. Auch und gerade das der abhängig Beschäftigten.
Friedrich Engels hat dies an Hand der Migrationsbewegungen die Mitte des 19. Jahrhunderts auftraten, mehrfach beschrieben. Millionen von Menschen wanderten damals von Europa und Asien nach Amerika aus:
„Die Zahl der amerikanischen Geldfürsten ist [dort] noch weit größer [als in Deutschland]. Und diese fabelhafte Reichtums-Akkumulation wird durch die enorme Einwanderung in Amerika noch von Tag zu Tag gesteigert. Denn direkt und indirekt kommt dieselbe in erster Linie den Kapitalmagnaten zugute. Direkt, indem sie die Ursache einer rapiden Steigerung der Bodenpreise ist, indirekt, indem die Mehrzahl der Einwanderer den Lebensstand der amerikanischen Arbeiter herabdrückt. Schon jetzt finden wir in den zahllosen Streikberichten, welche unsere amerikanischen Bruderorgane melden, einen immer größeren Prozentsatz von Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen, und die meisten auf Lohnerhöhung abzielenden Streiks sind im Grunde auch nichts anderes, denn sie sind entweder hervorgerufen durch die enorme Steigerung der Preise oder durch das Ausbleiben der sonst im Frühjahr üblichen Lohnerhöhungen.“
Trotzdem spricht sich Friedrich Engels in der damaligen Zeit strikt dagegen aus sich an Restriktionsdebatten zu beteiligen. Er begründet dies Mitte des 19., Jahrhunderts damit, dass …
„auf diese Weise … der Auswandererstrom, den Europa jetzt jährlich nach Amerika entsendet, nur dazu bei [trage], die kapitalistische Wirtschaft mit all ihren Folgen auf die Spitze zu treiben, so daß über kurz oder lang ein kolossaler Krach drüben unvermeidlich wird.“
Dann aber werde der …
„Auswandererstrom stocken oder vielleicht gar seinen Lauf zurücknehmen, d.h. der Moment gekommen sein, wo der europäische, speziell der deutsche Arbeiter vor der Alternative steht: Hungertod oder Revolution!“
Und weiter:
„Darum, so sehr wir auch mit der ‘New Yorker Volkszeitung’ die Auswanderung aus Deutschland bedauern, so sehr wir überzeugt sind, daß dieselbe zunächst eine wesentliche Verschlechterung der Lage der amerikanischen Arbeiter im Gefolge haben wird, und so sehr wir ferner mit ihr wünschten, daß die deutschen Arbeiter ihr ganzes Augenmerk ausschließlich auf die Verbesserung ihrer Lage in Deutschland richteten, so können wir ihren Pessimismus doch nicht teilen. Wir müssen eben mit den Verhältnissen rechnen, und – da dieselben, dank der Kurzsichtigkeit und Habgier unserer Gegner, eine Entwicklung im wirklich reformatorischen Sinne immer mehr ausschließen – unsere Aufgabe darin suchen, die Geister allen Angstmeiern zum Trotz, vorzubereiten auf den revolutionären Gang der Ereignisse.“
Und weiter:
„Für den Konflikt: Riesenhafte Konzentration des Kapitals einerseits und wachsendes Massenelend andererseits, gibt es nur eine Lösung: Die soziale Revolution!“ (Geschrieben am 3. Mai 1882 – Friedrich Engels, „Über die Konzentration des Kapitals in den Vereinigten Staaten“, MEW, Bd. 19, S. 307)
Engels argumentiert grundsätzlich (an der Migration selbst lasse sich nichts ändern) und dann strategisch (soziale Revolution), woraus sich für ihn auf der taktisch-politischen Ebene ergibt von jeglicher restriktiven Debatte seitens der Arbeiterbewegung abzusehen.
Doch heute wissen wir: dieses Ereignis – sozialen Revolution befeuert durch Migration – trat nicht ein, denn die moderne kapitalistische Gesellschaft, die Gesellschaft des sich Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus bildenden Imperialismus sowie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, verfügt über gewaltigere ökonomische, vor allem aber auch politisch-ideologische Regulierungsmethoden, wie dies Friedrich Engels in seiner Zeit hätte voraussehen können. Große Wirtschaftskrisen – und seien sie auch begleitet durch eine enorme Armut – führen allein noch lange nicht zum Ende dieses Systems.
Dies hervorzuheben, ist mir wichtig, denn mit Zitaten, die aus dem Zusammenhang eines vollständigen Gedankengangs und seiner Prämissen und Voraussetzungen gerissen werden, wird bekanntlich auch viel Unsinn begründet.
Welche unmittelbare Wirkung Masseneinwanderung für die Arbeiterklasse eines Landes haben kann, schildert Friedrich Engels indes mit sehr deutlichen und drastischen Worten im Abschnitt „Die irische Einwanderung“ seines Buchs „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, das 1845 heraus kam. Diesen Abschnitt hier zu zitieren, wäre zu umfangreich, aber ich rate allen da mal rein zu lesen, vor allem jenen, die häufig auch eine Scheu davor haben kulturelle Gegensätze und Spannungen, die im Zusammenhang mit Migration auftreten, offen anzusprechen. Zumindest Friedrich Engels hatte da geringere Probleme, wenn er diesem Abschnitt beispielsweise mit den Worten schloss:
„Denn wenn fast in jeder großen Stadt ein Fünftel oder ein Viertel der Arbeiter Irländer oder in irischem Schmutz aufgewachsene Kinder von Irländern sind, so wird man sich nicht darüber wundern, daß das Leben der ganzen Arbeiterklasse, ihre Sitten, ihre intellektuelle und moralische Stellung, ihr ganzer Charakter einen bedeutenden Teil von diesem irischen Wesen angenommen hat, so wird man begreifen können, wie die schon durch die moderne Industrie und ihre nächsten Folgen hervorgerufene indignierende Lage der englischen Arbeiter auf eine hohe Stufe der Entwürdigung gesteigert werden konnte (1892) … indignierende Lage der englischen Arbeiter noch entwürdigender gemacht werden konnte.“
Aber lest selber:
»http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_…
Die Wirkung solcher Migrationsbewegungen analysierte auch Karl Marx. Ebenfalls am Beispiel der nach England einwandernden irischen Arbeiter:
„Zweitens hat die englische Bourgeoisie das irische Elend nicht nur ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten. Das revolutionäre Feuer des keltischen Arbeiters vereinigt sich nicht mit der soliden, aber langsamen Natur des angelsächsischen Arbeiters. Im Gegenteil, es herrscht in allen großen Industriezentren Englands ein tiefer Antagonismus zwischen dem irischen und englischen Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den standard of life (Lebensstandard) herabdrückt. Er empfindet ihm gegenüber nationale und religiöse Antipathien. Er betrachtet ihn fast mit denselben Augen, wie die Poor whites (armen Weißen) der Südstaaten Nordamerikas die schwarzen Sklaven betrachteten. Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich geschürt und wachgehalten. Sie weiß, daß diese Spaltung das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht ist.“ (Karl Marx, „Resolutionsentwurf des Generalrats über das Verhalten der britischen Regierung in der irischen Amnestiefrage“, Januar 1870, MEW, Bd. 16, S. 388)
Marx betont hier also einen anderen Zusammenhang. Die Kampfbedingungen der englischen Arbeiter verschlechtern sich. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf kulturelle Gegensätze. Diese sind vorhanden, also nichts künstliches, sie werden freilich durch die Bourgeoisie noch weiter vertieft.
Wie tief die kulturellen Spannungen in der Arbeiterklasse sein können, tritt Massenmigration auf, hatte ich zuvor schon am Beispiel des Textes aus dem Buch von Friedrich Engels zur Entwicklung der Arbeiterklasse in England verdeutlicht.
Diese – durchaus nicht widerspruchsfreien Kernpunkte – finden sich mehr oder weniger in allen Aussagen von Marx und Engels zur Migration wieder:
- Migration, als ein ein objektiver unaufhaltsamer Prozess des Kapitalismus. Unabhängig von dem Willen des einzelnen werden Millionen in diesen Prozess einbezogen.
- Die Folge ist eine verschärfte Ausbeutung und Unterdrückung vor allem der Arbeitsmigranten, aber auch eine Verschlechterung der Lage der einheimischen Lohnarbeiter.
- Migranten und einheimische Arbeiter finden von allein nicht zusammen. Kulturelle und nationale Unterschiede behindern diesen Prozess.
- Die Bourgeoisie optimiert diese Spaltung durch nationalen Chauvinismus, der die Spaltungsprozesse in der Gesellschaft, vor allem auch die Spaltung unter den Proleten weiter vertieft und somit den demokratischen wie den revolutionären Prozess behindert.
Migration im Imperialismus
Lenin stand vor der Aufgabe diesen Prozess für die imperialistische Phase des Kapitalismus noch genauer zu analysieren, denn bereits zu seinen Zeiten hat sich die Migration nun zu einem weltweiten Phänomen fortentwickelt. Die imperialistischen Staaten ziehen alle Länder der Welt n das Getriebe des Finanzkapitals. Die kolonialisierten, abhängigen oder unterdrückten Länder, in der die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, werden in vollkommen neuer Qualität ausgepresst und ausgebeutet. Die Folge sind riesige Migrationsbewegungen, wie etwa die der mexikanischen Landarbeiter, der nordafrikanischen Vertragsarbeiter oder der Wanderarbeiter in Südafrika. Jüngere Bewegungen dieser Art bezogen sich zum Beispiel auch auf philippinische oder indische Bauern, die als Arbeiter in die arabischen Golfstaaten zogen. Und auch zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Millionen von Menschen durch Armut, Hunger und Not dazu gezwungen sich in tausende von Kilometer entfernt liegende Länder transportieren zu lassen, um dort ihre Arbeitskraft anzubieten. In den Ländern, in die sie immigrierten, waren sie häufig die am stärksten Ausgebeuteten und Unterdrückten, häufig die ersten, die in der Krise die Knute der Arbeitslosigkeit und des Elends traf.
Wie sich solche Wanderungsbewegungen in der imperialistischen Phase der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vollziehen, untersuchte Lenin in Reihe von Artikeln und Aufsätzen:
„Zu den mit dem geschilderten Erscheinungskomplex verknüpften Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende Abwanderung aus den imperialistischen Ländern und die zunehmende Einwanderung (Zustrom von Arbeitern und Übersiedlung) in diese Länder aus rückständigen Ländern mit niedrigen Arbeitslöhnen.“ (Lenin, „Der Imperialismus das höchste Stadium des Kapitalismus“, LW, Bd. 23, S. 287)
Für die Entwicklung in Deutschland führte Lenin seinerzeit aus:
„Deutschland, das mit Amerika mehr oder weniger Schritt hält, verwandelt sich aus einem Land, das Arbeiter abgegeben hat, in ein Land, das fremde Arbeiter heranzieht.“ (LW, Bd.19, S. 449)
In seinem Artikel „Kapitalismus und ArbeiterImmigration“ präzisiert Lenin die Gründe für diesen Entwicklungsprozess wie folgt:
„Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Länder, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an.
Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reißt sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber …
Es besteht kein Zweifel, daß nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands, usw. miteinander vereinigt …
Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der anderen auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewußten Arbeiter, die begreifen, daß die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.“ (Lenin, „Kapitalismus und Arbeiterimmigration“, Oktober 1913, LW, Bd. 19, S. 447-450)
Wie dieser Artikel zeigt, analysiert Lenin umfassend die Migration als ein Merkmal in der Entwicklung des Imperialismus. Sie wird angestoßen durch die besondere Form der Ausbeutung der abhängigen Länder, aber auch durch Extra-Profite in den imperialistischen Hauptländern, die es gestatten dort höhere Löhne zu zahlen.
Wenn Lenin in diesem Artikel sagt, daß die auswandernden künftigen Arbeiter „aus ihren Krähenwinkeln“ gerissen werden und so zu Teilnehmenden einer weltgeschichtlichen Bewegung werden, so muss freilich auch dies in einem geschichtlichen Rahmen gesehen werden, denn seit Lenin hat hat sich der Imperialismus inzwischen auf dem ganzen Globus ausgedehnt, und mit der informellen Durchdringung in der Form elektronischer Medien sowie der Herausbildung einer Arbeiterklasse auch in den Ländern Asiens und Afrikas, haben sich natürlich auch diese „Krähenwinkel“ verändert.
Die von Lenin benannte „fortschrittliche Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung“ und sein Verweis darauf, dass nur „Reaktionäre davor die Augen verschließen können“, muss ebenfalls in diesem Kontext betrachtet werden: Lenin führt aus, dass es eine „Erlösung vom Joch des Kapitalismus“ nicht „ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf“ geben könne. Zu Zeiten Lenins vollzog sich dies vor allem durch die Konzentration der Arbeiterheere in den wenigen hoch entwickelten Ländern Europas und Amerikas. Doch heute hat sich die moderne kapitalistische Produktionsweise mehr oder weniger auf den ganzen Globus ausgedehnt, so dass durchaus veränderte Bedingungen vorliegen.
Lenin nahm zu seiner Zeit an, dass durch Konzentration von immer mehr Migranten in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern selbst, die Möglichkeit zum Niederreißens der religiösen, nationalen und sonstigen Schranken im Rahmen eines revolutionären Prozesses leichter macht. Doch was dabei nicht vergessen werden darf, das ist der Umstand, dass dies kein gesetzmäßiger sich selbst vollziehender Prozess sein kann, sondern einer, der daran gebunden ist innerhalb dieser Länder die ideologische Vorherrschaft der imperialistischen Bourgeoisie durch politische Aufklärung starker sozialistischer Bewegungen aktiv zu durchbrechen.
Sind die Einwanderer freilich einmal im Land oder stehen sie als Reservearmee den Herrschenden unmittelbar zur Verfügung, so ergeben sich für diese aus Lenins Sicht dann die folgenden Anforderungen, die er im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Revision des Parteiprogramms der SDAPR (B) (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands/Bolschewiki) (1917) diskutierte:
Lenin forderte in diesem Zusammenhang eine Ergänzung ein, die auf die zunehmende Verwendung der „Arbeit ungelernter aus rückständigen Ländern importierter Arbeiter“ hinweist. Die besonders brutale Ausbeutung der eingewanderten Arbeiter und ihre vollkommene Rechtlosigkeit in den Einwanderungsländern sei mit dem „Parasitismus dieser Länder“ verknüpft und der auch dadurch ermöglichten besseren Stellung eines Teils der „einheimischen Arbeiter“:
„Gerade für den Imperialismus ist eine solche Ausbeutung der Arbeit schlechter bezahlter Arbeiter aus rückständigen Ländern besonders charakteristisch. Gerade darauf basiert in einem gewissen Grade der Parasitismus der reichen imperialistischen Länder, die auch einen Teil ihrer eigenen Arbeiter durch eine höhere Bezahlung bestechen, während sie gleichzeitig die Arbeit der ‘billigen’ ausländischen Arbeiter maßlos und schamlos ausbeuten. Die Worte ‘schlechter bezahlten’ müßten hinzugefügt werden, ebenso wie die Worte ‘und oft rechtlosen’, denn die Ausbeuter der ‘zivilisierten’ Länder machen sich immer den Umstand zunutze, daß die importierten ausländischen Arbeiter rechtlos sind.“ (LW, Bd. 26, S. 155)
Lenin sieht also einen elementaren Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer Arbeiteraristokratie, die den demokratischen, wie auch den revolutionären Prozess behindert und der Instrumentalisierung solcher Migrationsbewegungen durch das Kapital. Er fordert daher:
„Gleichstellung der ausländischen Arbeiter mit den einheimischen (besonders wichtig für imperialistische Länder, die fremde Arbeiter in steigender Zahl, wie z.B. die Schweiz schamlos ausbeuten und rechtlos machen)…“ (LW, Bd. 23, S. 81)
Diese Forderung von Lenin durchzieht dann auch die gesamte weitere Debatte in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung.
Allerdings soll hier auch auf einige Feinheiten dieses Diskussionsprozesses hingewiesen werden: Schon Marx und Engels traten dafür ein, dass es eine besondere Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziationen sein müsse, den
„Intrigen der Kapitalisten entgegenzutreten, die stets bereit sind, in Fällen von Arbeitseinstellungen und Ausschlüssen die Arbeiter fremder Länder als Werkzeuge zur Vereitlung der Ansprüche der Arbeiter ihrer eigenen Länder zu mißbrauchen. Es ist [daher] einer der größten Zwecke der Assoziation, daß die Arbeiter verschiedener Länder sich nicht allein wie Brüder fühlen, sondern auch als vereinte Teile der Emanzipations-Armee zu handeln wissen.“(„Der Vorbote“, Nummer 10/1866)
Konkret bezog sich diese Forderung vor allem auf die Situation in England, wo die englischen Kapitalisten Arbeiter des Kontinents zum Streikbrechen herangezogen hatten.
Ein Jahr später wird im Aufruf des Generalrates zur Einberufung des Lausanner Kongresses 1867 auf die Internationalisierung der Ausbeutung und verschärfte Konkurrenz zwischen den Arbeiter der verschiedenen Länder verwiesen und als einzige mögliche Antwort der internationale der Zusammenschluss der Arbeiter propagiert:
„… allein das Kapital sieht vermöge neuer industrieller Erfindungen seine Kraft tatsächlich wachsen, wodurch eine große Anzahl nationaler Genossenschaften in eine ohnmächtige Lage geraten, die Kämpfe der englischen Arbeiterklasse studierend, gewahrt man wie die Fabrikherren, um ihren Arbeitern zu widerstehen, sowohl fremde Arbeiter kommen, als auch die Waren dort anfertigen lassen, wo die Arbeitslöhne billiger stehen. Gegenüber dieser Sachlage muß die Arbeiterklasse, wenn sie ihren Kampf mit einiger Aussicht auf Erfolg fortsetzen will, ihre nationale Associationen in internationale umgestalten“. („Der Vorbote“, Nr.8/1867)
In dem Bericht des Generalrats der I. Internationale an den Kongress von Lausanne 1867 wird entsprechend Bilanz gezogen:
„Die zahlreichen Dienste, welche die Internationale Arbeiterassoziation in den mannigfachen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit in den verschiedenen Ländern erwiesen hat, zeigen deutlich die Notwendigkeit einer derartigen Organisation. Wenn die Arbeiter die willkürlichen Bedingungen der Kapitalisten in England zurückwiesen drohten diese, sie durch ‘Hände’ vom Kontinent zu ersetzen. Die Möglichkeit einer solchen Importation hat in mehreren Fällen genügt, die Arbeiter zum Nachgeben zu veranlassen. Die Wirksamkeit des Generalrats verhinderte, daß solche Drohungen zutage traten wie ehedem. So oft derartiges vorkommt, genügt ein Wink, um die Pläne der Kapitalisten zum Scheitern zu bringen. Bricht ein Streik oder eine Aussperrung unter den Vereinen aus, die zur Internationalen Arbeiterassoziation gehören, dann werden sofort die Arbeiter aller Länder von der Sachlage unterrichtet und vor den Werbeagenten der Kapitalisten gewarnt. Diese Wirksamkeit des Generalrats beschränkt sich übrigens nicht bloß auf die Vereine der Internationalen Arbeiterassoziation die Unterstützung der Assoziation wird allen zuteil die sie anrufen. Vor allem half die Internationale den englischen Arbeitern dadurch, daß sie die gewerkschaftliche Organisation allenthalben außerhalb Englands aufs lebhafteste förderte.“
(„Die Neue Zeit“, 1906-1907, Bd 2 S. 51 /52)
Was heißt das? Die dargestellten Überlegungen der Klassiker verweisen deutlich darauf, dass der Prozess der Migration durch Marx und Engels zwar als ein objektiver Prozess betrachtet wird, der sich aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus selbst ergibt, dass aber andererseits die vom Kapital im Rahmen von Arbeitskämpfen instrumentalisierte Migration, um Arbeitslöhne in den kapitalistischen Kernländern zu drücken, vor allem damit beantwortet werden sollte, den Kampf um eine Verbesserung der sozialen Lage in diesen Herkunftsländern selbst zu führen und sich dafür im Rahmen internationale Assoziation abzusprechen und zu stützen, so dass also zumindest in diesem Zusammenhang Migration nicht mehr instrumentalisiert werden kann.
In der Sache, in seinem Inhalt ist der Arbeiterkampf ein internationaler Kampf. Entsprechend auch der Orientierung des Kommunistischen Manifests „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“. In seiner konkreten Form bezieht er sich freilich zuallererst auf den jeweiligen nationalen Rahmen, der wiederum durch internationale Solidarität besser abgesichert wird.
Von vielen wird in diesem Zusammenhang leider immer wieder auch wieder auch vergessen, dass mit zu zitieren, was vor und nach jenem berühmten Satz des Manifest steht „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“:
„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden. (…)
das Proletariat [müsse} zunächst .. die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren ..,[Es ist ] selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. (…)
Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor. Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder.
(…) Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
(»Kommunistisches Manifest)
Mit der „Vereinigung der Proletarier aller Länder“ ist also nicht erster Linie gemeint, dass sich die Arbeiter in einem Land vereinigen, etwa durch Migration, sondern gemeint ist vorrangig die internationale Klassensolidarität aller Länder – gegen ihr nationales Kapital und ebenso gegen das international agierende imperiale Kapital der kapitalistischen Hauptländer!
Zum Verständnis des Marxismus ist es ebenfalls erforderlich, die Begriffe Kapital, Arbeiterklasse, Arbeiter, Proletariat richtig zu verstehen. Diese Begriffe beschreiben das Verhältnis der Arbeiterklasse und des Kapitals zu den Produktionsmitteln. Es handelt sich um Begriffe der politischen Ökonomie und es geht dabei darum, wer die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besitzt. „Arbeiter“ ist also keineswegs ein Substitutionsbegriff für „Mensch“ oder „Bürger“ im Allgemeinen, sondern beschreibt ein ökonomisches Verhältnis. Der Satz „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben“ beschreibt ergo das die einzelnen Nationen übergreifende Verhältnis von Kapital und Arbeit zu den Produktionsmitteln, welches objektiv die gemeinsame Situation und Interessen der ökonomischen Klassen definiert.
Ähnliche Überlegungen finden wir auch in den Debatten des Stuttgarter Kongresses der 2. Internationale 1907. In der Zeitschrift „Die Neue Zeit“ werden in Vorbereitung des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale und des vierzehn Tage nach diesem stattfindenden Essener Parteitages der SPD viele Artikel zu dieser Frage abgedruckt. In diesen Debatten zeigt sich nun noch eine präzisere Forderung:
„‘Dem beständigen Geschrei der britischen Kapitalisten, daß die längere Arbeitszeit und die geringeren Löhne der kontinentalen Arbeiter eine Lohnherabsetzung unvermeidlich machten, kann man nur durch das Streben erfolgreich begegnen, die Arbeitszeit und Lohnhöhe durch ganz Europa auf das gleiche Niveau zu bringen. Das ist eine der Aufgaben der Internationalen Arbeiterassoziation’.
Also nicht Einwanderungserschwerungen für freie Arbeiter , nichts von alledem forderte der Generalrat, also auch Marx, zum Schutze der englischen hohen Löhne und kurzen Arbeitszeiten, sondern das Erringen derselben Löhne und derselben Arbeitszeiten durch Gewerkschaften und Arbeiterschutz in allen kapitalistischen Ländern.
Das ist in der Tat die einzige Methode, die Errungenschaften günstiger gestellter Teile des internationalen Proletariats sicherzustellen. …Wo es unter dem Einfluß kurzsichtiger Zünftlerei der letzteren Methode verfällt, macht sie früher oder später bankrott und wird sie von vorneherein eines der verderblichsten Mittel zur Lähmung des proletarischen Emanzipationskampfes“. („Die Neue Zeit“, 1906/907, Bd 2 , S. 51l- 512)
Worin besteht dieser neue Gedanke?
Erstmalig tritt hier jetzt ganz klar die Forderung auf, sich keineswegs für Einwanderungserschwerungen stark zu machen! Stattdessen soll alles dafür getan werden Arbeitszeit und Lohnhöhe für alle Länder, Nationen und Völker auf das gleiche Niveau zu bringen.
Doch der Kongress wendet sich explizit auch gegen die „Ausschließung bestimmter Nationen und Rassen von der Einwanderung“, auf die seinerzeit vor allem auch die Delegation der Sozialistischen Partei Amerikas drängte. Der Kongress forderte stattdessen, die
„Abschaffung aller Beschränkungen welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren“.
Lenin schätzt die Debatte auf dem Kongreß in dem Artikel „Der internationale Sozialistenkongreß so ein:
„Über die Resolution zur Aus- und Einwanderungsfrage wollen wir nur einige Worte sagen. Auch hier wurde in der Kommission versucht, zünftlerisch beschränkte Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus den rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen. Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger „zivilisierter“ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen. Auf dem Kongreß selbst fanden sich keine Verfechter dieser zünftlerischen und spießbürgerlichen Beschränktheit. Die Resolution entspricht durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie.“ (Lenin, „Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart“, LW, Bd. 13, S. 77)
An dieser Stelle wird Lenin also sehr prinzipiell! Es sei eine Frage der Klassensolidarität sich solchen arbeiteraristokratischen Forderungen zu verweigern. Um diese sehr prinzipielle Haltung Lenins richtig einzuordnen, muss man freilich auch wissen, dass die Debatte zu den Einwanderungsfragen auf dem Kongress selbst eher ein Randthema war. Voranging ging es um Fragen der Kolonalisierung, in der einige reformistische Vertreter sehr chauvinistische Positionen einbrachten. Dass es prinzipiell mit sozialistischen Positionen nicht vereinbar ist Kriege gegen andere Länder zu führen bzw. diese zu unterdrücken, war das Hauptergebnis dieses Kongresses, bei dem sich freilich auch schon die Spaltung zwischen der späteren Sozialdemokratie und der kommunistischen Bewegung abzeichnete. Die zusätzliche Debatte zur Einwanderungsfrage ergab sich vor allem in diesem Kontext.
Entsprechend auch die Bewertung dieser Debatte durch Clara Zetkin:
„Die fünf Gegenstände, auf die sich der Stuttgarter Kongreß in seinen Verhandlungen beschränkt hat, waren: die Kolonialpolitik, der Militarismus, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften, die Ein- und Auswanderung und das Frauenwahlrecht. In allen diesen Fragen kam ein Gegensatz der prinzipiellen und der opportunistischen Auffassung zum Ausdruck, und der Meinungskampf in den einzelnen Kommissionen sowie im Plenum des Kongresses war ein treues Spiegelbild des Widerstreits der verschiedenen Tendenzen, der das Innere der modernen Arbeiterbewegung in allen Ländern aufwühlt, zur Selbstkritik und zur Vertiefung der sozialistischen Auffassung führt. … Ein nahe verwandtes Problem hatte die Frage der Ein- und Auswanderung aufgerollt. Auch hier entstand der unbedingten Klassensolidarität der Proletarier aller Länder und Rassen eine Gegnerin in der kurzsichtigen Politik, die Lohninteressen organisierter Arbeiter in den Einwanderungsländern, wie Amerika und Australien, durch Einwanderungsverbote gegen rückständige, angeblich ‘nicht organisationsfähige’ Proletarier aus China und Japan schützen wollte. Es sprach aus dieser letzteren Tendenz derselbe Geist der Ausschließung und des Egoismus, der die alten englischen Trade Unions als eine Arbeiteraristokratie in Gegensatz zu der großen Masse der vom Kapitalismus am brutalsten ausgebeuteten und herabgedrückten Klassengenossen gebracht hatte. Der Kongreß hat hier, im Sinne und Geiste der deutschen Gewerkschaften und ihrer Praxis entsprechend, die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten, wie er in der Kolonialfrage den großen Weltbund der gleichen und verbrüderten Menschheit aller Kulturstufen und Weltteile zum Triumph geführt hat“. (Clara Zetkin, „Der Internationale Sozialistenkongreß zu Stuttgart“, Artikel in der Zeitschrift „Die Gleichheit“, Bd. 1, S. 360-362)
Ähnlich auch Karl Liebknecht, der in seiner Rede auf dem folgenden SPD Parteitag die Bedeutung der Resolution des Stuttgarter Kongresses zur Ein- und Auswanderung konkret für die Bedingungen Deutschlands unterstrich. Er wendet sich gegen jegliche die Migranten diskriminierenden Ausnahmegesetze:
„lch habe mich zum Worte gemeldet, um einige Ausführungen über die Frage der Ein- und Auswanderung zu machen, die in der Diskussion etwas kurz weggekommen ist. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die eminente Wichtigkeit dieser Frage lenken. Ich habe viel Gelegenheit, die Misere der Einwanderer in Deutschland und insbesondere ihre Abhängigkeit von der Polizei zu beobachten, und ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten diese Leute zu kämpfen haben. Ihre Vogelfreiheit sollte gerade uns deutsche Sozialdemokraten besonders veranlassen, uns mit der Regelung des Fremdenrechtes, besonders der Beseitigung der Ausweisungsschmach schleunigst und energisch zu beschäftigen. Es ist ja bekannt, daß die gewerkschaftlich organisierten Ausländer mit Vorliebe ausgewiesen werden. . .
… Die Kongreßresolution fordert also die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, daß die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein. Die Beschäftigung mit der Wanderungsfrage ist ein Ruhmesblatt für den Internationalen Kongreß.“ (Liebknecht, Bd. 2, S. 72-73)
Die wesentlichen Argumente in der internationalen Diskussion der sozialistischen Weltbewegung zu diesen Fragen lassen sich knapp also so zusammenfassen:
- Sozialisten sollten auf die Instrumentalisierung von Migranten durch das Kapital keineswegs so reagieren, dass sie ihrerseits Einwanderungsbeschränkungen fordern, da dies dem Prinzipien internationaler Solidarität widerspricht, indes dieses dazu beiträgt den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse innerhalb eines Landes und international zu erschweren.
- Sie sollten sich solchem Denken auch deshalb verweigern, weil es ein Eigentor in Richtung chauvinistischer Bestrebungen ist.
- Kampf gegen jegliche Diskriminierung der bereits eingewanderten Arbeiter und demokratischer Kampf um rechtliche Gleichstellung.
- Aufklärung und Organisierung auch des immigrierten Teils der Arbeiterschaft.
- Den Schwerpunkt sehen die Klassiker freilich aber auch nicht darin, diese durch das Kapital bewirkten Migrationsbewegungen auch noch anzuheizen, sondern eindeutig darin durch Internationale Assoziationen den jeweils nationalen Kampf in den einzelnen Ländern für eine Verbesserung der dortigen Lage zu führen.
Lenin geht in einem Kommentar zu diesem Kongress so ein:
„In unserem Kampf für wahren Internationalismus und gegen ‘Jingo Sozialismus’ (als ‘Jingo-Pseudosozialisten’ bezeichnet Lenin die ‘Sozialisten’, die 1915 im 1.Weltkrieg für den „Verteidigungskrieg“ eintraten, siehe LW, Bd. 21, S. 433) verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, daß die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongreß von 1907 und entgegen seinen Beschlüssen). Wir denken, daß niemand Internationalist sein und zugleich für derartige Beschränkungen eintreten kann. Und wir behaupten, daß Sozialisten in Amerika, besonders englische Sozialisten, die der herrschenden, also einer unterdrückenden Nation angehören, wenn sie sich nicht gegen jedwede Einwanderungsbeschränkung und gegen die Besitzergreifung von Kolonien (Hawaiinseln) wenden, wenn sie nicht für die volle Unabhängigkeit der letzteren eintreten, daß solche Sozialisten in Wirklichkeit ‘Jingos’ sind.“ (Lenin, „An den Sekretär der ‘Liga’ für sozialistische Propaganda“, LW, Bd. 21, S. 435)
Lenin argumentiert hier als auch deshalb sehr grundsätzlich, weil ein Abweichen und das Eingehen auf restriktive Verfahren politisch und ideologisch dazu beiträgt den Geist des Opportunismus und Arbeiteraristokratie in den jeweiligen Ländern selbst zu stärken, was wiederum die Entfaltung demokratischer und revolutionärer Bestrebungen bremst.
Fassen wir diese Dinge noch einmal zusammen:
- Migration, Aus- und Einwanderung sind unter imperialistischen Bedingungen ein Prozess zu dem die Migranten durch die imperialistische Herrschaft und die verschärfte Ausbeutung der abhängigen Länder gezwungen sind. Er vollzieht sich unabhängig vom Willen des Einzelnen.
- Die Bourgeoisie in den kapitalistischen Kernländern nutzt die Migration um die Löhne, die sozialen Standards, das allgemeine Niveau des Lebens weiter zu senken, also um auch die bisherigen Arbeitskräfte im eigenen Land noch besser auszubeuten.
- Sie befördert damit und mit entsprechenden Ideologien gleichzeitig die Spaltung der Arbeiterklasse auch in den kapitalistischen Kernländern und mindert so auch dort ihre Kampfkraft.
- Sozialisten können auf diesen Prozess nicht in der Weise reagieren, in dem sie sich ihrerseits zu Fürsprechern möglicher Einwanderungsbeschränkungen machen. Warum nicht: weil sie sich damit selbst der Ideologie der Herrschenden ausliefern.
- Internationale Solidarität mit den Migranten muss vor allem darin bestehen für eine Verbesserung der Arbeits- und Kampfbedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern einzutreten und diesen Kampf, der dort in der Form ein nationaler Kampf ist, solidarisch durch internationale Aktion zu unterstützen. Das ist die eine Seite der Internationalen Solidarität. Die andere besteht darin in den kapitalistischen Kernländern selbst Kolonalisierung politisch zu bekämpfen.
- Um im eigenen Land wirksam zu kämpfen, um demokratische Reformen, ökonomische Kämpfe erfolgreich zu bestehen, um Prozesse der sozialen Revolution einzuleiten, muss alles dafür getan werden, dass auch die eingewanderten Arbeiter gleiche Rechte haben. Für den eigenen Kampf müssen sie als gleichberechtigter Teil in den Formierungsprozess gewerkschaftlicher und politischer Bewegungen einbezogen werden.
- Die Kapitalisten versuchten, die immigrierten Arbeiter zum Drücken der Löhne und zur Spaltung der Arbeiterklasse zu benutzen. Aber für Sozialisten ist das nicht als „Schwäche“ des „kulturell minderwertigen immigrierenden Arbeiters“ hinzustellen, sondern als objektive Funktion, die die Bourgeoisie ihnen zudenkt. Dies kann nur durchkreuzt werden, wenn auch das inländische Proletariat den Kampf um gleiche Rechte für die ausländischen Arbeiter mit aufnimmt und sich mit ihnen verbindet.
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Soweit einige Klassiker.
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Abschließend einige Fragen, die sich für die heutige Situation ergeben, und die mich auch vor dem Hintergrund des ausgeführten beschäftigen:
Marx, Engels, Lenin und viele andere Theoretiker diskutieren die Frage der Migration unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsmigration, ausgelöst durch Armut und Elend in den Herkunftsländern, die wiederum ihre Ursache in imperialer Unterdrückung hat. Was bei Ihnen noch keine so große Rolle spielt, was aber heutzutage für Migration eine erhebliche Bedeutung hat, das ist die Migration die durch Kriege ausgelöst wird und die auch Millionen zur Flucht veranlasst. In diesem Fall auch Menschen, die zu einem Teil auch aus Ländern kommen, die erst durch diese Kriege in einen so erbarmungswürdigen Zustand des Elends gestoßen wurden (beispielsweise Syrien). Damit ergibt sich aber eine ganz andere soziale Zusammensetzung der Flüchtlinge. Aus Syrien kommen z.B. viele Menschen mit sehr entwickelter Ausbildung. Wie ist dann aber der Zusammenhang zur Frage der industriellen Reservearmee in den Kernländern zu beantworten? Für die Klassiker bildeten die Migranten eine natürliche Quelle für die industrielle Reservearmee. Heute kann es indes auch passieren, dass gar nicht so sehr die Migranten dann der Quell der Reserve sind, sondern ein Teil der bisher Beschäftigten in den kapitalistischen Kernländern diese Rolle dann einnimmt. Lassen sich die von den Klassikern benannten Instrumente zur Organisierung des Proletariats dann ebenfalls noch so umsetzen?
Marx und Engels, wie auch an die anderen Theoretiker des Sozialismus diskutieren die Frage der Migration unter dem Gesichtspunkt des Kolonialismus in der Weise, dass die Migration eine Folge verschärfter Ausbeutung dieser Länder ist. Angesichts der heutigen Vorkommnisse muss man aber auch die Frage diskutieren, inwieweit nicht auch die Migration selbst, also konkret die Steuerung dieser Migration durch kriegerische und ökonomische Instrumente, ein zentrales Instrument für die Re-Kolonialisierung solcher Länder ist? Also ob und inwieweit nicht gerade auch durch Migration bisher national unabhängige Länder für eine Übernahme im Rahmen des Kapitalexports (Verschuldung) mit sturmreif geschossen werden?
Die Theoretiker diskutieren politische Strategien vor allem unter dem Gesichtspunkt dafür zu kämpfen, dass sich auch in den Herkunftsländern bessere Lohnbedingungen und bessere Kampfbedingungen für die dortige Arbeiterklasse ergeben. Wenn Migration im Einzelfall aber mit dazu beiträgt die dortigen Lebensbedingungen weiter zu verschlechtern, was ergibt sich daraus dann für unsere eigenen Strategien?
Das eine ist die klassische Armutsmigration. Man denke etwa an viele Länder Afrikas oder Asiens. Und auch die Einwanderer aus Spanien oder Griechenland, die in den letzten Monaten nach Deutschland zogen, fliehen nicht weil es hier so schön ist aus ihren Herkunftsländern, sondern weil sie in ihren eigenen Ländern keine soziale Perspektive mehr haben. Aber es gibt einiges in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, was durchaus neu ist: Aus Spanien und aus Griechenland kommen vor allem Menschen mit einer sehr guten Ausbildung, also gar nicht so sehr die Ärmsten der Armen, die hier überhaupt keinen Anschluss finden würden. Diese intellektuellen Potentiale werden den dortigen Ländern durch die Migration aber dauerhaft entzogen, was den ökonomischen Schaden in den betroffenen Ländern eher noch potenziert und sie noch stärker in die Abhängigkeit zu den imperialistischen Zentralen führt.
Schließlich: Die Marx’sche Kapitalismuskritik basiert auch auf dem folgenden Satz:
„Der Arbeitslohn ist also nicht ein Anteil des Arbeiters an der von ihm produzierten Ware. Der Arbeitslohn ist der Teil schon vorhandener Ware, womit der Kapitalist eine bestimmte Summe produktiver Arbeitskraft an sich kauft.“ (Karl Marx, »Lohnarbeit und Kapital, Lohn, Preis und Profit, Dietz Verlag, Berlin, 1998, S. 20)
Somit hat Marx das Wesen des Kapitalismus erfasst, das den Arbeiter zum Feilbieten seiner Arbeitskraft zwingt und ihn zum Lohnsklaven degradiert. Der Imperialismus und die darauf basierende neue Qualität von Migration haben diesen Vorgang globalisiert. Marx und Engels schreiben dazu im Manifest:
„Die Bourgeoisie reisst durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schiesst, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die so genannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden.“
Und dann weiter:
„Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Revolution und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.“
(»Kommunistisches Manifest)
So wird die Arbeiterschaft weltumspannend von einer Besitztumsklasse ausgebeutet.
Ist es insofern dann aber nicht besser für eine Renationalisierung der Entscheidungsgewalt staatlicher Institutionen auf die nationale oder regionale Ebene zu plädieren, um somit das wieder durchzusetzen, was häufiger als „Primat der Politik“ bezeichnet wird respektive die Interventionsmöglichkeiten der politischen Arbeiterbewegung selbst zu erhöhen? Die Klassiker geben uns prinzipielle Hinweise unter dem Druck der jetzigen Ereignisse wichtige Erkenntnisse unseres Kampfes um soziale Befreiung nicht aufzugeben.
Das betrifft vor allem die Frage sich nicht auf ein typisch sozialdemokratisches Zunftdenken, schon gar nicht auf Nationalismus bzw. Chauvinismus einzulassen. Das ist sehr wichtig!
Aber sie geben uns noch keine fertige politische Strategie, wie wir als Sozialisten mit den heutigen Problemen umgehen können. Die müssen wir uns immer wieder selbst erarbeiten.
Quellenangaben:
- Zahlreiche der benannten Zitate sind Online hier zu finden: »http://www.mlwerke.de/
- Andere Textstellen habe ich einer guten Sammlung zu dem Problem der Migration entnommen, die von der Gruppe „Trotz Alledem“ veröffentlicht wurde. Dort wird zudem auch dargestellt, wie die Frage der Migration konkret auch in der kommunistischen Bewegung der 20er und 30er Jahre in Deutschland diskutiert wurde: »http://trotzalledem.cwahi.net/zeitungen/15/ml.html
© Andreas Grünwald
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