Kurt Gossweiler
Die Entfaltung des Revisionismus in der kommunistischen Weltbewegung und in der DDR
Die Entfaltung des Revisionismus in der kommunistischen Weltbewegung und in der DDR
– Teil II
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Ich möchte einige Vorbemerkungen machen: als erstes möchte ich mich dem Dank anschließen, der gestern für die Veranstaltung gesagt wurde. Soweit ich das übersehe, ist das die einzige Veranstaltung zum Geburtstag der DDR, die wirklich rückhaltlos zur DDR – einschließlich aller ihrer Organe, das MfS eingeschlossen – steht, damit also eine Veranstaltung, die ihresgleichen sucht. (Beifall) Zu dem Dank gehört auch die Aufmachung dieses Raumes – es ist also eine besondere Freude, mal wieder unter einer DDR-Fahne zu sprechen. (Heiterkeit, Beifall) Und dann möchte ich mich auch bei meinem Vorredner, bei Michael Opperskalski, bedanken, vor allem, weil er die Vorbemerkung machte, dass das Thema so umfassend ist, dass er es eigentlich gar nicht vollständig behandeln kann – das trifft für meins auch zu! Wir wollen hier vor allem über die DDR sprechen, aber die Ursachen des Untergangs der DDR werden ja von vielen Leuten sehr gerne in der DDR selbst gesucht. Meiner Überzeugung nach kann man die Ursachen des Unterganges der DDR nicht verstehen, wenn man nicht sehr genau die Verhältnisse in der Sowjetunion und im sozialistischen Lager studiert. Deshalb wird das hier zunächst mein Schwerpunkt sein.
Beginnen möchte ich mit einem Zitat aus einem Artikel von Gerhard Feldbauer in der Oktober-Nummer des wohl den meisten Anwesenden nicht unbekannten „Rotfuchs“: „Für die Vorbereitung einer neuen sozialistischen Offensive ist die marxistisch-leninistische Analyse der Ursachen und Gründe der Niederlage dringend erforderlich. Wir werden diese Lehren nicht ziehen können, wenn wir nicht das entscheidende Kettenglied – den Opportunismus und Revisionismus in seinen verschiedenen Ausprägungen – dabei erfassen“.
Es geht also nicht um eine geburtstagsfeierliche Rückschau auf die DDR, sondern um die gedankliche Vorbereitung einer neuen sozialistischen Offensive auf eine neue, diesmal gesamtdeutsche Demokratische Republik. Die aber wird nicht gelingen ohne Klarheit über die Rolle des Revisionismus bei der Zerstörung der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten Europas.
Was macht den Revisionismus aus, was ist sein Kerngehalt?
In der marxistischen Arbeiterbewegung wird seit den Zeiten von August Bebel, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die „theoretische“ Begründung der rechtsopportunistischen Ersetzung des proletarischen Klassenkampfes zum Sturz der Kapitalherrschaft durch die Ideologie und Praxis der Klassenversöhnung als verfälschende Revision des Marxismus, als Revisionismus, bezeichnet.
Die angebliche Notwendigkeit einer solchen Revision des Marxismus wurde von den Revisionisten, von Bernstein bis Tito, Chrustschow und Gorbatschow, und wird auch heute – scheinbar marxistisch – damit begründet, angesichts der Veränderungen der objektiven Bedingungen und des Klassenkräfteverhältnisses müsse der Marxismus weiterentwickelt werden, indem veraltete Leitsätze über Bord geworfen und durch neue, den veränderten Bedingungen Rechnung tragende, ersetzt werden.
Schaut man aber genau hin, dann läuft es bei ihresgleichen immer auf die Behauptung hinaus, die Marxsche These von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze sei angesichts der gewachsenen Stärke der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Kräfte und der Veränderung im Kapitalismus überholt, und nunmehr der friedliche Weg zum Sozialismus in Zusammenarbeit mit dem bisherigen Klassenfeind möglich.
Der rechte Opportunismus und seine „theoretische“ Rechtfertigung, der Revisionismus, sind ebenso wie ihr Gegenstück, der linke Opportunismus, das Sektierertum und der „linke Radikalismus“, unvermeidliche Strömungen oder Tendenzen in der Arbeiterbewegung und beim Aufbau des Sozialismus, weil sie ihre soziale Grundlage in der Vielschichtigkeit der Arbeiterklasse und der sozialistischen Gesellschaft zum einen, und den ungeheuren Schwierigkeiten des Kampfes gegen eine noch für längere Zeit an Stärke überlegenen Gegner zum anderen, haben.
Es ist unvermeidlich – und deswegen könnte man es eine Gesetzmäßigkeit des Klassenkampfes nennen, – dass bei auftretenden Schwierigkeiten Meinungsverschiedenheiten bis zu scharfen Fraktionierungen darüber auftreten, wie weiter vorzugehen sei: die Schwierigkeiten durch Kampf überwinden, oder sie zu umgehen, oder – drittens – sie durch einen Kompromiss mit dem Gegner vermeintlich aus der Welt zu schaffen. Je größer und Gefahr drohender die Schwierigkeiten, desto größer die Versuchung, durch einen opportunistischen Kompromiss den riskanten Kampf zu vermeiden. Wer dieser Versuchung im Klassenkampf erliegt, erliegt früher oder später auch dem Gegner; wer ihr widersteht, erstarkt und legt damit den Grund für künftige Siege.
Nun, nachdem wir das Ergebnis konsequent zu Ende geführter revisionistischer Politik von Chrustschow 1953 bis zu Gorbatschow 1989/90 kennen, können und müssen wir den Kerngehalt des Revisionismus noch präziser als eingangs geschehen, benennen, etwa so: Wenn Ziel und Inhalt des sozialdemokratischen Revisionismus war und ist, den revolutionären Sturz des Kapitalismus mit dem Märchen zu verhindern, es gäbe auch einen friedlichen Reformweg zum Sozialismus, dann war und ist Inhalt und Ziel des „modernen“ Revisionismus in den sozialistischen Ländern, durch „Reformen“, die angeblich dazu dienen, den Sozialismus besser und „humaner“ zu gestalten, die sozialistische Ordnung durch einen „Umbau“ (Perestroika, von Alexander Sinowjew treffend als „Katastroika“ bezeichnet), zu demontieren und der Restauration der bürgerlichen Ordnung den Weg zu bereiten. Die Revisionisten sind – ob sie das wollen oder nicht, wissen oder nicht – die Handlanger des Imperialismus bei der Verteidigung und/oder Restauration des Kapitalismus.
War der Sieg des Revisionismus in der kommunistischen Bewegung wegen des Kräfteübergewichts des Imperialismus unvermeidlich?
Unvermeidlich war und ist der Sieg und die Vorherrschaft des rechten Opportunismus und seiner theoretischen Rechtfertigung, des Revisionismus, wie die Geschichte zeigt, dort und so lange, wie in der Arbeiterbewegung der hoch entwickelten kapitalistischen Staaten ein relativ großer Teil der Arbeiter ihre Situation durchaus nicht mit den Worten des Kommunistischen Manifests richtig beschrieben sehen, sie hätten nichts zu verlieren als ihre Ketten.
Dagegen kann in den revolutionären, marxistisch-leninistischen Parteien und in den sozialistischen Staaten von einer Unvermeidlichkeit des Sieges des Revisionismus keine Rede sein. Ein solcher Sieg wird nur dann und dort unvermeidlich, wo der ständig zu führende Kampf gegen jede Abweichung vom Marxismus-Leninismus abgeschwächt oder gar eingestellt wird – wie in der KPdSU nach dem Tode Stalins. Der neue Generalsekretär der KPdSU, Chrustschow, steuerte – zunächst kaum merklich und dabei ständig lauthals seine unverbrüchliche Treue zu den Lehren Lenins beteuernd – zwar nicht geradlinig, sondern im Zick-Zack-Kurs, aber zielbewusst und hartnäckig – das Partei- und Staatsschiff immer weiter in das Fahrwasser des Revisionismus.2 Dies schon von Anfang an, also seit 1953. Aber als scharfe Zäsur wurde in der breiten Öffentlichkeit erst der XX. Parteitag der KPdSU empfunden. Aber diese Zäsur wurde ihr vorgeführt nicht als das, was sie war, nämlich das Verlassen des Leninschen Kurses, sondern umgekehrt, als Rückkehr zu ihm. Mit dieser Behauptung begann Chrustschow schon im Jahre 1953 sich in das Vertrauen der Partei und der Bevölkerung einzuschleichen, wie beim Studium der Materialien des Juli-Plenums der KPdSU von 1953 deutlich wird.3
Der heutige Zeitrahmen lässt nur zu, die Hauptlinien und die wichtigsten Fakten dieser Kursänderungen zu nennen und die Quellen anzugeben, in denen ausführlichere Informationen darüber zu finden sind.
Sahra Wagenknecht kennzeichnet „einige Eckpunkte“ der „wachsenden opportunistischen Tendenzen in der sowjetischen Politik“ wie folgt:
“ 1. Die undifferenzierte und pauschale Vergangenheitsabrechnung, wie sie sich mit dem XX. KPdSU-Parteitag verbindet, und die gleichzeitige Revision grundlegender Thesen des Marxismus-Leninismus (etwa die Akzeptanz eines parlamentarischen Weges zum Sozialismus, … usw.);
2. Die ausdrückliche Anerkennung des jugoslawischen Weges (zu dessen Grundposition die Ablehnung einer einheitlichen Gesamtstrategie des sozialistischen Lagers gehörte) als rechtmäßigem Weg des sozialistischen Aufbaus.
3. Die ersatzlose Auflösung des Kominformbureaus im Jahre 1956, damit der einzigen Institution, die wenigstens den Anspruch auf eine einheitliche Gesamtstrategie der sozialistischen Weltbewegung noch zum Ausdruck brachte…“4
In verschiedenen Aufsätzen gesammelt in dem Buche „Wider den Revisionismus“, habe ich als Hauptlinien und Hauptfakten des Chrustschow-Revisionismus die folgenden benannt und beschrieben:
Klassenversöhnung statt Klassenkampf
Propagierung des (USA) – Imperialismus als Vorbild für die Gestaltung des Sozialismus
Der Austausch von Freund- und Feindbild
Die Zerstörung des kommunistischen Parteibewusstseins5
Preisgabe des Internationalismus
Verzicht auf die Gestaltung einer eigenständigen sozialistischen Gesellschaft
Preisgabe einer wissenschaftlich fundierten Wirtschaftsplanung6
Verfälschung der marxistisch-leninistischen Politik der friedlichen Koexistenz
Dämpfung des antiimperialistischen Kampfes und des Kampfes um Sozialismus
Schwächung des Sozialismus durch Spaltung des sozialistischen Lagers und der kommunistischen Weltbewegung7
Heute möchte ich mich vor allem mit der Frage beschäftigen, welche Auswirkungen der Kurswechsel zu einer revisionistischen Politik durch die neue Partei- und Staatsführung nach Stalin auf die anderen sozialistischen Länder Europas, insbesondere auf die DDR, hatte, und wie die SED-Führung versuchte, diesen Auswirkungen entgegenzuwirken.
Voranstellen muss ich dem aber den Versuch einer Antwort auf eine umfassendere, aber mit der erstgenannten eng zusammenhängende andere Frage, die mir immer wieder gestellt wird und die etwa so lautet: „Wenn es stimmt, dass die Ursachen unserer Niederlage die Eroberung der Führung der Partei Lenins durch Revisionisten und deren Umsteuern der Partei und des Sowjetstaates auf einen revisionistischen Kurs war, wieso war ihnen das überhaupt möglich und wie erklärt sich, dass sie nicht davon gejagt wurden, sondern ihnen offenbar das Partei- und Sowjetvolk widerstandslos folgten?“
Als erstes muss dazu gesagt werden, dass der Schein einer widerspruchs- und widerstandslosen Gefolgschaft der ganzen Partei von oben bis unten ein trügerischer Schein ist; natürlich gab es heftige Auseinandersetzungen und sogar Machtkämpfe in der Führung, von denen aber – ganz im Gegensatz zur Stalin-Zeit -, die Öffentlichkeit nur ausnahmsweise, – z.B. bei der Ausstoßung Molotows und Kaganowitschs aus der Parteiführung im Juli-Plenum 1957, – etwas erfuhr.
Aber dennoch ist es Tatsache, dass der Kurs der Chrustschow-Gruppe von 1953 an bis zum Sturz Chrustschows im Oktober 1964 der Kurs der KPdSU blieb, und selbst danach wurde seine Absetzung nicht damit begründet, dass er eine falsche, dem Marxismus-Leninismus zutiefst zuwiderlaufende Politik betrieben hatte, – was der Wahrheit entsprochen hätte und notwendig gewesen wäre, wenn man auf den Leninschen Kurs hätte zurückkehren wollen. Aber als Grund für die Ablösung wurde angegeben: „Das Plenum des ZK der KPdSU kam dem Ersuchen des Genossen N.S. Chrustschows nach, ihn im Hinblick auf sein hohes Alter und die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes von den Obliegenheiten des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, des Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees der KPdSU und des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR zu entbinden.“ (ND v. 16.10.1964). In den folgenden Tagen wurde von der Parteiführung, – an deren Spitze mit Leonid Breschnew der Mann gestellt worden war, den schon Chrustschow selbst als seinen Nachfolger ins Auge gefasst hatte -, nachdrücklich betont, dass sich die Partei weiterhin von den Beschlüssen des XX. Parteitages und der nachfolgenden Parteitage, – die alle den Stempel Chrustschows trugen! – leiten lassen werde. Später geübte Kritik an Chrustschow beschränkte sich auf den Vorwurf des „Subjektivismus“ und der „Tendenzen des Personenkults“.
Zu erklären bleibt also schon, wie es überhaupt zur Übernahme der Partei- und Staatsführung durch eine antileninistische Gruppierung kommen konnte, und wieso in all den Jahrzehnten seit 1953 die marxistisch-leninistischen Kräfte die Partei nicht wieder auf den richtigen Kurs zu bringen vermochte; wieso es den revisionistischen Kräften der KPdSU vielmehr gelang, auch international die meisten Parteien der kommunistischen Weltbewegung zur Billigung ihres Kurses zu bringen.
Unanfechtbare, auf Dokumente gestützte Antworten auf diese Fragen wird man erst geben können, wenn es möglich ist, die einschlägigen Akten der KPdSU und aller betroffenen Parteien in vollem Umfange einzusehen. Aber auch die bereits bekannten Tatsachen erlauben, erste begründete Antworten zu geben.
Auf einige dieser Antworten können übrigens all jene Genossen, die alt genug sind und schon in den fünfziger Jahren als Kommunisten das politische Geschehen verfolgten, selber kommen, wenn sie sich fragen: Weshalb habe ich damals eine Politik Chrustschows für richtig gehalten?
Sie werden sich mit ziemlicher Sicherheit die Antwort geben: Weil ich diese Politik als richtig, als in Übereinstimmung mit den Lehren von Marx und Lenin ansah. Das hatte seine Gründe:
Ein erster und elementarer – und offenbar noch immer nachwirkender – Grund dürfte gewesen sein, dass es für einen Kommunisten einfach das absolut Undenkbare war, auch nur den Gedanken zuzulassen, an der Spitze der Partei Lenins könne ein anderer als ein absolut zuverlässiger, vertrauenswürdiger Leninist stehen. Das war für mich zunächst genauso undenkbar wie für alle anderen Genossen. Dass es bei mir nicht dabei blieb, liegt daran, dass ein untrennbarer Bestandteil meines marxistischen Denkens die Maxime war: Tatsachen sind die höchste Instanz bei der Wahrheitsfindung und stehen höher als jede noch so autoritative Äußerung, von wem diese auch kommen möge. Chrustschows Worte und Taten gaben mir in den Jahren von 1953 bis Ende 1956 immer unerklärlichere und beunruhigendere Beispiele krasser Widersprüche zu den unbestreitbaren Tatsachen und zu den Prinzipien marxistisch-leninistischer Politik, Beispiele von Handlungen und Erklärungen, die unserer Sache nichts nützen, sondern ihr offenkundigen Schaden zufügten und unsere Gegner zu Beifallsstürmen veranlassten, so dass mein bisheriges selbstverständliches Vertrauen ins Wanken geriet und ich mich schließlich gezwungen sah, sogar das Undenkbare in Erwägung zu ziehen, nämlich, dass mit Chrustschow und Co. es einem verkappten Gegner gelungen ist, – dank einer jahrelang gut gespielten Rolle als der Partei treu ergebener Spitzenfunktionär – die Spitzenposition der Partei Lenins zu usurpieren. Eine nochmalige gründliche Betrachtung seiner Handlungen seit 1953 ließ bei mir am Ende des Jahres 1956 keinen Zweifel mehr zu, dass dem wirklich so war. Mit dieser Einschätzung Chrustschows blieb ich aber im Kreise meiner Genossen sehr allein. Für sie blieb das Undenkbare, was auch immer geschah, weiterhin undenkbar.
Und selbst nicht wenige von denen, die durch Gorbatschow lernen mussten, dass das Undenkbare eben doch Wirklichkeit geworden war, wollen es für Chrustschow noch immer nicht gelten lassen und halten an ihrem alten positiv gefärbten Chrustschow-Bild fest. Dieses Bild konnte entstehen und sich halten auch durch einige Praktiken, wie die folgend beschriebenen:
Chrustschow und seine Leute traten nicht etwa als Kritiker und Revisoren des Leninismus auf, sondern als dessen treue Verteidiger und schöpferische Weiterentwickler. Indem Chrustschow Stalin – dem das Verdienst nicht abgesprochen werden kann, Lenins programmatische Aussagen in die Tat umgesetzt zu haben -, der vorsätzlichen und willkürlichen Missachtung der Leninschen Normen des Partei – und Staatslebens beschuldigte, schuf er – der zu Lebzeiten Stalins sich als einer seiner „getreuesten Gefolgsmänner“ gebärdete und an sehr verantwortlichen Stellen die Politik der damaligen Partei- und Staatsführung maßgeblich mitbestimmt und durchgeführt hat -, ein Geschichtsfälschendes Kontrastbild, das Stalin als bösewichtigen Verfälscher der Lehre Lenins abbildete, vor dessen dunklem Hintergrund er sich umso leuchtender als Gralshüter der reinen Lehre und deren Wiederhersteller abheben konnte. Der dabei wohl am stärksten und am dauerhaftesten wirkende Faktor war und ist noch bis heute, dass Chrustschow sich den Ruf eines mutigen Kämpfers gegen begangenes Unrecht zu erwerben verstand, dass in den Jahren ab 1936 bei den so genannten Säuberungen auch viele Unschuldige verfolgt, eingesperrt, zum Tode verurteilt worden und in Lagern zu Tode gekommen sind, und dass ihre Rehabilitierung durch ihn eingeleitet wurde. Das hätte rückhaltlose Anerkennung verdient, wäre nicht schon damals für aufmerksame Beobachter erkennbar gewesen, dass es Chrustschow offenbar weniger um die Wiedergutmachung begangenen Unrechts als darum ging, möglichst emotional wirksames Anklagematerial gegen seinen Vorgänger Stalin zusammenzutragen, dessen Autorität und Ansehen im Lande und in der kommunistischen Weltbewegung noch immer so groß waren, dass er dem bisher noch hatte Rechnung tragen müssen. So verschwieg er in seiner Rede völlig, dass die Repressalien und Säuberungen von der Partei- und Staatsführung beschlossen worden waren, um angesichts der immer bedrohlicheren Gefahr eines Überfalls des von den imperialistischen Westmächten dazu ermunterten faschistischen Deutschland von Anfang an die Bildung einer Fünften Kolonne im Inneren des Landes unmöglich zu machen. Er stellte sie vielmehr als die willkürlichen Taten des einen Mannes Stalin hin. Mit völligem Schweigen überging er seine eigene Rolle als eines besonders eifrigen und gefürchteten „Trotzkistenjägers“ während seiner Zeit als Erster Sekretär der KP der Ukraine. Das von Chrustschow gegebene Bild wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten seit 1956 unaufhörlich und nachdrücklich als das wahre, von Legenden befreite Bild vorgeführt, und von dem Zerstörer der Sowjetunion, Gorbatschow, in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der KPdSU in den grellsten Farben ausgemalt, dass es noch heute von den meisten Kommunisten in Deutschland und weit darüber hinaus für dass richtige Bild von Stalin und Chrustschow gehalten und gegen jede Richtigstellung verteidigt wird.
Chrustschow vermied es sorgfältig, seine revisionistischen Thesen den ihnen widersprechenden Thesen des Marxismus-Leninismus entgegenzustellen. Er stellte sie vielmehr dar als eine durch die veränderten Bedingungen möglich und erforderlich gewordene Ergänzung und Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus, durch welche die alten Lehrsätze keineswegs ihre Gültigkeit verloren hätten. Nehmen wir als ein Beispiel für die dabei angewandte Methode seine auf dem XX. Parteitag vorgetragene These von der Möglichkeit des parlamentarischen Weges zum Sozialismus. Das ging so:
„In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob es möglich ist, auch den parlamentarischen Weg für den Übergang zum Sozialismus auszunutzen. Für die russischen Bolschewiki… war ein solcher Weg ausgeschlossen… Seitdem sind jedoch in der historischen Lage grundlegende Veränderungen vor sich gegangen, die es gestatten, an diese Frage auf neue Art und Weise heranzugehen. In der ganzen Welt sind die Kräfte des Sozialismus … unermesslich gewachsen, der Kapitalismus dagegen ist um vieles schwächer geworden. …Unter diesen Umständen hat die Arbeiterklasse … die Möglichkeit, …eine stabile Mehrheit im Parlament zu erobern und es aus einem Organ der bürgerlichen Demokratie in ein Werkzeug des tatsächlichen Volkswillens zu verwandeln. In einem solchen Fall kann diese für viele hoch entwickelte kapitalistische Länder traditionelle Institution zum Organ einer wahren Demokratie für die Werktätigen werden… Gewiss, in den Ländern, in denen der Kapitalismus noch stark ist, wo sich in seinen Händen ein gewaltiger Militär- und Polizeiapparat befindet, … wird sich der Übergang zum Sozialismus unter den Bedingungen eines scharfen Klassenkampfes, eines revolutionären Kampfes, vollziehen.“8
Obwohl der Widerspruch dieser Aussage zu den elementaren Erkenntnissen von Marx bis Lenin über die Unmöglichkeit der Einführung des Sozialismus durch einen parlamentarischen Mehrheitsbeschluss offenkundig war, schien sie selbst Skeptikern unter den Kommunisten harmlos und ungefährlich zu sein, wandte sie sich doch nicht gegen das Beschreiten des revolutionären Weges in all den Fällen, in denen ein anderer nicht möglich ist. Aber es sollte sich bald zeigen, dass die Formel vom parlamentarischen Weg zum Sozialismus gerade deshalb eingeführt worden war, um diesen Weg als den einzig zeitgemäßen, normalen Weg zu propagieren und die praktische Politik der kommunistischen Parteien darauf einzustellen, wie das Beispiel Chile bewies. Aber wie es gar nicht anders sein konnte, bestätigte die chilenische Tragödie von 1973 die alte marxistische Wahrheit, dass das Beschreiten des Weges des Reformismus in die Katastrophe und zum Triumph der Konterrevolution führt. Weil die Bedeutung dieses Menetekels von den echten Kommunisten der Sowjetunion und ihrer Bruderstaaten nicht verstanden wurde, folgte auf die lokale Katastrophe in Chile anderthalb Jahrzehnte später, 1989/90, die kontinentale Katastrophe in der Sowjetunion und in Osteuropa.
Chrustschows Revisionismus in der Außenpolitik bestand vor allem in der Ersetzung des Kampfes gegen den Imperialismus mit dem Ziel seiner Überwindung im Weltmaßstabe, wie es in Lenins Formel vom Kampf „Wer – Wen“ seine prägnante Zielstellung erhalten hat, durch eine Politik der auf Dauer berechneten „friedlichen Koexistenz“ und der freundschaftlichen Zusammenarbeit mit den imperialistischen Mächten, vor allem mit dem USA-Imperialismus. Es gelang der Chrustschow-Führung, diese Politik als die einzig mögliche Politik der Sicherung des Friedens zu verkaufen, weil sie – demagogisch die Atomkriegsfurcht schürend und die Friedenssehnsucht der Völker ausnutzend – behauptete, das atomare Inferno könne durch die sowjetischen Atombewaffnung alleine nicht verhindert werden, notwendig sei die Zusammenarbeit der beiden Atommächte Sowjetunion und USA, der Friede könne nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit den USA gesichert werden. Mit dieser These wurde stillschweigend die Leninsche Erkenntnis, dass Imperialismus Krieg bedeutet, verworfen und durch die These von der Friedensfähigkeit des Imperialismus ersetzt, deren Konsequenz durch Gorbatschow vor aller Welt offenbart wurde. Aber nicht nur in diesem Fall liegt die Wurzel des „Gorbatschowismus“ im „Chrustschowismus“. Der Chrustschowismus ist der Gorbatschowismus der fünziger und sechziger Jahre, wie der Gorbatschowismus der Chrustschowismus der achtziger / neunziger Jahre ist.
Es gelang Chrustschow ebenfalls, seine bei genauer Prüfung destruktive, allen ökonomischen Gesetzen erfolgreichen sozialistischen Aufbaus widersprechende, die Grundlagen der sowjetischen Wirtschaft unterminierende und die Fortsetzung ihres bisherigen raschen, proportionalen und stabilen Wachstums verhindernde und in die Stagnation führende Wirtschaftspolitik glaubhaft zu machen als eine Politik, die sich die Erfüllung des nur zu berechtigten Wunsches des Sowjetvolkes zum Ziel setzt, nach so vielen Jahrzehnten angespanntester Arbeit zur Erfüllung der Fünfjahrespläne und nach den Leiden und Entbehrungen in den Kriegsjahren nun auch die Früchte dieser Anstrengungen und des Sieges über den faschistischen Aggressor ernten zu können.
Mit der Begründung, die Versorgung mit Konsumgütern rasch verbessern zu wollen, wurde vom Prinzip des vorrangigen Wachstums der Produktionsgüterindustrie gegenüber der Konsumgüterindustrie abgegangen und die Akkumulation zugunsten des Verbrauchs eingeschränkt – und das zu einer Zeit, da zum Mithalten mit den entwickelten kapitalistischen Ländern auf dem Gebiet des wissenschaftlich-technischen Fortschritts dringend eine Stärkung der Akkumulation notwendig war.
Nicht weniger desaströs war Chrustschows Landwirtschaftspolitik. Mit der Abschaffung der Maschinen-Traktoren-Stationen wurden die Kolchosen gezwungen, die bisher zu niedrigen Tarifen von den MTS zur Verfügung gestellten landwirtschaftlichen Maschinen selbst zu kaufen, wodurch sie sich immer tiefer verschuldeten, zugleich die Wartung der Maschinen im notwendigen Maße nicht mehr gewährleistet war. Am verheerendsten aber war die groß herausgestellte „Neulandgewinnung“ in Kasachstan, durch die nach Chrustschows großmäuliger Versprechungen „das Getreideproblem ein für allemal gelöst“ werden würde. Dieses gigantische Schädlingsprojekt wurde gegen den Widerstand von Fachleuten und auch Mitgliedern des Politbüros, wie Molotow, durchgepaukt, mit dem Ergebnis, dass viele Milliarden Rubel, – die, in den alten fruchtbaren und klimatisch günstigen Landwirtschaftsgebieten Russlands, der Ukraine und Belorusslands für die Intensivierung des Anbaus ausgegeben, die Erträge um ein vielfaches erhöht und an das mitteleuropäische Niveau herangeführt hätten -, verschleudert wurden, das Getreideproblem aber infolge ständiger Ernteverluste in den Neulandgebieten – durch Frostschäden des Saatguts im Winter und Dürre im Sommer – prekärer denn je vorher und das Land von Jahr zu Jahr abhängiger von Getreideeinfuhren aus dem Ausland wurde.
Zieht man die Bilanz der Leistungen Chrustschows in den elf Jahren an der Spitze der KPdSU, dann muss man ihm zugestehen, dass er ein vorher unvorstellbares Maximum an Zerstörungsarbeit geleistet hat; er hat geschafft, was 1953 niemand für möglich gehalten hätte.
Er hat geschafft, das Bild Stalins als des Erbauers des Sozialismus und des Führers zum Sieg über die faschistischen Aggressoren aus dem Bewusstsein der Menschen zu verdrängen und an seine Stelle das Bild von Stalin als eines blutgierigen Massenmörders und Verderbers der Sowjetmacht in die Köpfe zu pflanzen.
Er hat geschafft, dass die KPdSU und die anderen kommunistischen Parteien zuließen, dass er die Tito-Partei, – dieses „Trojanische Pferd des Imperialismus“, wie er selbst sie bezeichnet hatte! – in die eigene Festung hereinholte und verlangte, ihm die Referenz als echte kommunistische Bruderpartei zu erweisen.
Er hat erreicht, dass die KPdSU in diesen elf Jahren aus der führenden marxistisch-leninistischen Partei in ein Führungszentrum der revisionistischen Zersetzung der kommunistischen Weltbewegung verwandelt wurde, deren gesunde marxistisch-leninistischen Kräfte nicht mehr die Kraft aufbrachten, nach Chrustschows Sturz die Partei wieder auf den Weg Lenins zurückzuführen.
Er hat erreicht, dass die Wirtschaft des Sowjetlandes auf ihren beiden Beinen – Industrie und Landwirtschaft – zu lahmen begann und die Versorgungslage immer schwieriger, die Menschen immer gleichgültiger und unzufriedener, ihre emotionale Bindung an die Sowjetmacht und den Sozialismus und ihr Vertrauen zur Partei immer schwächer wurden. Diese Abwärtsentwicklung wurde zeitweise überdeckt durch die euphorische Begeisterung über die Pionierrolle der Sowjetunion in der Weltraumfahrt mit dem Sputnik und mit Gagarin als erstem Menschen im All; Chrustschow versäumte natürlich nicht, diese Erfolge als Ergebnisse seiner Führung feiern zu lassen; aber er erntete nur, wofür der Grund vor ihm gelegt worden war. Auf sein Konto geht, dass die Führung, die die Sowjetunion auf diesem Gebiet errungen hatte, wieder verloren ging.
Er hat erreicht, die bis 1953 bestehende, auf der einheitlichen Grundlage der marxistisch-leninistischen Theorie beruhende monolithene Einheit der kommunistischen Weltbewegung und des sozialistischen Lagers zu zerstören und beide in sich heftig bekämpfende Lager zu spalten.
Das waren keine zufälligen Ergebnisse. Wie er sie erreicht hat, bezeugt, dass er zielbewusst und hartnäckig auf sie hingearbeitet hat, unter anderem auch durch eine bestimmte Kaderpolitik. Denn er wusste: War erst einmal die revisionistische Linie gegeben, entschieden die Kader alles.
An der Spitze der KPdSU und der Bruderparteien standen Persönlichkeiten, die in der Kommunistischen Internationale zu fähigen, standhaften, erprobten marxistisch-leninistischen Führern der Massen und zu Kämpfern gegen alle opportunistischen Abweichungen in den eigenen Reihen herangewachsen waren und auch im Kampf gegen den Revisionismus vorangingen.
Maurice Thorez und Jaque Duclos als Führer der KP Frankreichs.
Thorez hat in seiner Ansprache an den XX. Parteitag der KPdSU – trotz der bereits im Plenum des Parteitages noch vor Chrustschows Geheimrede von etlichen sowjetischen Rednern vorgebrachten Verdammungen Stalins – als einziger Redner überhaupt – Stalin gewürdigt, indem er ausführte: „Die Kommunistische Partei der Sowjetunion war stets das Vorbild der Prinzipienfestigkeit, der unerschütterlichen Treue zu den großen Ideen von Marx, Engel, Lenin und Stalin.“
Am 27. März 1956 erschien in der „Humanité“ ein Artikel von Thorez „Über einige vom XX. Parteitag gestellten Hauptfragen“. Darin würdigte er Verdienste des XX. Parteitages, sprach aber auch vom Vermächtnis Lenins, „an das Stalin so oft erinnerte“. Und er schrieb darin auch: „Was die Kommunisten betrifft, so nimmt es sie nicht wunder, wenn sie erneut auf das klassische Manöver der Trotzkisten und anderer Agenten der Reaktion stoßen: eine begründete Kritik, die im Zusammenhang mit einer richtigen Generallinie geübt wurde, dazu auszunutzen, um erneut diese Linie in ihrer Gesamtheit anzuzweifeln.“
Wenige Monate nach dem XX. Parteitag, am 19. Juni 1956, veröffentlichte das Politbüro der Kommunistischen Partei Frankreichs eine Erklärung, die insgesamt die Ergebnisse des XX. Parteitages positiv einschätzte, die aber auch in einigen Passagen Kritik übte: “ Das Politische Büro beklagt…, dass auf Grund der Bedingungen, unter denen der Bericht des Genossen Chrustschow vorgelegt und enthüllt wurde, die bürgerliche Presse in der Lage war, Tatsachen zu veröffentlichen, die die französischen Kommunisten nicht kannten. Eine solche Gegebenheit ist nicht günstig für die normale Diskussion dieser Probleme in der Partei. Sie begünstigt im Gegenteil die Spekulationen und die Manöver der Feinde des Kommunismus.“ (Über die hier angesprochene „Gegebenheit“ wird noch im Teil II berichtet werden.)
In der Erklärung des Politbüros heißt es weiter: „Die bis zur Stunde gegebenen Erklärungen über die Fehler Stalins, ihre Herkunft und die Bedingungen, unter welchen sie sich ereigneten, sind nicht befriedigend. Eine tiefgehende marxistische Analyse ist unentbehrlich, um die Gesamtheit der Bedingungen festzulegen, unter denen die persönliche Macht Stalins ausgeübt werden konnte. Es war falsch, zu Lebzeiten Stalins ihm überschwengliches Lob und das ausschließliche Verdienst aller Erfolge zuzusprechen, die durch die Sowjetunion dank einer allgemeinen richtigen Linie im Dienste des Aufbaus des Sozialismus errungen wurden. Diese Haltung trug dazu bei, den Personenkult zu entwickeln und die internationale Arbeiterbewegung in einem schlechten Sinne zu beeinflussen.
Heute ist es nicht richtig, Stalin allein alles zuzusprechen, was negativ in der Tätigkeit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war. Stalin spielte eine positive Rolle während einer ganzen historischen Periode. Mit anderen nahm er aktiv an der Sozialistischen Oktoberrevolution, dann am siegreichen Kampf gegen die ausländische Intervention, gegen die Konterrevolution teil. Nach dem Tode Lenins bekämpfte er die Feinde des Marxismus-Leninismus und kämpfte für die Anwendung des leninistischen Planes des Aufbaus des Sozialismus. In einem großen Umfang trug er zur Bildung der Kommunistischen Partei bei.“ (Bayrisches Volks-Echo v. 22.6.1956.)
Palmiro Togliatti, der Führer der italienischen Kommunisten.
Togliatti veröffentlichte – ebenfalls im Juli 1956 – in der „Unita“ einen umfangreichen Artikel über Probleme des XX. Parteitages, in dem er diesen Parteitag insgesamt positiv beurteilte, aber auch kritische Feststellungen traf, die in die gleiche Richtung gingen wie jene der KP Frankreichs: Chrustschows Erklärung dafür, dass solche wie die von ihm geschilderten Fehler Stalins überhaupt und so lange Zeit über begangen werden konnten, „kompliziert und erschwert zugleich die Tatsachen. Man muss dann zugeben, dass entweder die Fehler Stalins der großen Masse und den führenden Kadern des Landes und des Volkes nicht bekannt waren – das scheint unwahrscheinlich -, oder man muss feststellen, dass diese von der großen Masse der Kader und von der öffentlichen Meinung nicht als Fehler betrachtet wurden. Viel richtiger scheint mir zu sein, anzuerkennen, dass trotz seiner Fehler Stalin die Zustimmung der großen Mehrheit des Landes, vor allem führender Kader fand. Das war die Folge der Tatsache, dass Stalin nicht nur Fehler beging, sondern auch ´sehr viel für die Sowjetunion tat´, ´der überzeugteste und stärkste Marxist war´. Das hat Chrustschow in einer Erklärung zugegeben und damit den merkwürdigen, aber verständlichen Fehler korrigiert, der meiner Meinung nach auf dem XX. Parteitag gemacht wurde, nämlich diese Verdienste Stalins zu verschweigen. … Hier ist es notwendig, offen und ohne Zögern zuzugeben, dass einerseits der XX. Parteitag einen ungeheuren Beitrag zur Aufrollung und Lösung vieler ernster und neuer Probleme der demokratischen und sozialistischen Bewegung leistete, … dass jedoch andererseits die Haltung, die auf dem Kongress im Zusammenhang mit den Fehlern Stalins und ihren Ursachen und Bedingungen, die sie ermöglichten, eingenommen wurden und heute in der sowjetischen Presse breit entwickelt wird, nicht als befriedigend betrachtet werden kann. Die Ursache für alles soll im Personenkult, im Kult einer Person gelegen sein, die bestimmte schwere Fehler hatte, der es an Bescheidenheit fehlte, die die persönliche Macht anstrebte und auch aus Unfähigkeit Fehler beging, die in den Beziehungen mit anderen führenden Männern nicht loyal war, die größenwahnsinnig, übertrieben, egoistisch, bis zum Äußersten misstrauisch war und schließlich durch die Ausübung der persönlichen Macht so weit kam, dass sie sich vom Volk entfernte und sogar an einer Art Verfolgungswahn litt. Die gegenwärtigen sowjetischen Führer haben Stalin besser gekannt als wir, (vielleicht werde ich ein andermal Gelegenheit finden, von einigen persönlichen Zusammenkünften mit ihm zu reden), und wir müssen ihnen daher glauben, wenn sie uns das heute auf diese Weise schildern. Wir können uns nur denken, dass – wenn es so war – sie … zumindest in der öffentlichen und feierlichen Verherrlichung der Eigenschaften dieses Mannes, an die sie uns gewöhnt hatten, vorsichtiger hätten sein können. Es ist wahr, dass sie sich heute kritisieren, und das muss ihnen hoch angerechnet werden; aber mit dieser Kritik geht zweifellos etwas von ihrem Ansehen verloren. Aber ganz abgesehen davon: solange man dabei stehen bleibt, im Grunde für alles die persönlichen Fehler Stalins verantwortlich zu machen, bleibt man immer noch im Bereich des ´Personenkults´. Früher kam alles Gute von den übermenschlichen Eigenschaften eines Mannes; jetzt wird alles Böse seinen ebenfalls außergewöhnlichen und sogar verblüffenden Fehlern zugeschrieben. Im einen wie im anderen Falle sehen wie uns außerhalb der dem Marxismus eigenen verstandesmäßigen Urteilskraft.“9 (Alle kursiven Hervorhebungen von mir, K.G.)
Togliatti hat mit diesen Ausführungen deutlich erkennen lassen, dass er am Wahrheitsgehalt dessen, was Stalin in der Chrustschow-Rede alles zugeschrieben worden war, seine Zweifel hatte und hat angekündigt, seine eigenen Erfahrungen bei Gelegenheit bekannt zu geben. Dazu ist es leider nie gekommen.
Boleslaw Bierut, Vorsitzender der polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP).
Die Kommunistische Partei Polens war im August 1938 auf Beschluss des Präsidiums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) wegen Durchsetzung ihrer Führung mit Agenten des polnisch-faschistischen Pilsudski-Regimes aufgelöst worden. (NB: Bei meinen Studien zur Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland hatte ich im Jahre 1955 im sozialdemokratischen „Vorwärts“ aus dem Jahre 1932 eine Notiz gefunden, die besagte, die Führung der polnischen Kommunistischen Partei sei mit Spitzeln der Pilsudski-Geheimpolizei durchsetzt.). Im Januar 1942 wurde die Partei neu gegründet als Polnische Arbeiter-Partei (PAP). Ihr erster Sekretär, Marian Nowotko, wurde im November 1942 ermordet. Sein Nachfolger, Pawel Finder, wurde im November 1943 verhaftet. An seine Stelle trat Wladyslaw Gomulka. Bald kam es innerhalb der neu gegründeten Partei zu Auseinandersetzungen zwischen einem rechten Flügel, zu dessen Hauptvertreter sich Gomulka entwickelte, und einem die rechten und nationalistischen Tendenzen bekämpfenden Flügel, der von Boleslaw Bierut geführt wurde. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Frage, ob in die Leitung der patriotischen Front des Kampfes gegen die deutsch-faschistischen Okkupanten auch Parteigänger der scharf antikommunistischen und antisowjetischen Londoner Exilregierung Mikolajczyks aufgenommen werden sollten oder nicht. Am 22. Juli 1944 gründete sich das nach seinem Sitz im von der Roten Armee befreiten Lubliner Gebiet „Lubliner Komitee“ genannte Führungsgremium des patriotischen Kampfes, das Polnische Nationale Befreiungskomitee, das den Grundstein legte für eine Arbeiter- und Bauernregierung in Polen, mit Boleslaw Bierut an der Spitze. Am 31. Dezember 1944 wurde die erste – provisorische – Regierung gebildet unter der Leitung von E. Osobka-Morawski und W. Gomulka. Nach dem Sieg über das faschistische Deutschland wurde sie am 28. Juni 1945 erweitert zur „Regierung der nationalen Einheit“ mit Osobka-Morawski als Ministerpräsidenten und mit Gomulka und dem bisherigen Chef der Londoner Exil-Regierung, dem Exponenten der polnischen Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer, S. Mikolajczik, als stellvertretende Ministerpräsidenten. Mikolajcziks Ziel – die Wiederherstellung eines bürgerlichen Polens – erwies sich nach dem Wahlsieg der beiden Arbeiterparteien PAP und PPS – der Polnischen Sozialistischen Partei – in den Sejm-Wahlen am 19. Januar 1947 als nicht mehr erreichbar. Mikolajczik musste die Regierung verlassen, Osobka-Morawski wurde als Ministerpräsident abgesetzt, neuer Ministerpräsident wurde Jozef Cyrankiewicz (PPS); Boleslaw Bierut wurde zum Präsidenten der Polnischen Republik gewählt. Gomulka blieb Generalsekretär der Polnischen Arbeiterpartei; in dieser Eigenschaft versuchte er immer mehr, die Partei auf einen rechten, nationalistischen Weg zu drängen. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen erreichten 1948 auf mehreren Plenartagungen des Zentralkomitees der PAP vom Juni an einen Höhepunkt und gipfelten in der Absetzung Gomulkas als Generalsekretär der Partei auf dem Septemberplenum 1948. Als neuen Generalsekretär wählte das Zentralkomitee Boleslaw Bierut. Gomulka gab zum Abschluss eine Erklärung ab, in der er die an ihm geübte Kritik restlos als berechtigt anerkannte.10
In diesem Zusammenhang greife ich etwas vor, indem ich eine Passage über Gomulka aus der Aussage des im Budapester Rajk-Prozeß September 1949 angeklagten jugoslawischen Legationsrats Lazar Brankow zitiere. Über die Hoffnungen, die die jugoslawische Führung auf Gomulka setzte, sagte er aus: „Ich erinnere mich, dass damals, als sich in Polen der Fall Gomulka ereignete, große Hoffnungen gehegt wurden, dass Gomulka die Gedankengänge Titos in Polen verwirklichen werde. Man nahm einen abwartenden Standpunkt ein. Ich erinnere mich auch daran, dass man nicht unmittelbar eingreifen, sich nicht einschalten wollte, man war der Meinung, dass diese Aktion Gomulka in der Polnischen Kommunistischen Partei gelingen würde. Aber wie bekannt, führte Gomulka sein Vorhaben nicht durch, er gab zu, eine unrichtige Linie verfolgt zu haben, und Rankowitsch beklagte sich einmal auch darüber, dass in Polen alles von vorne begonnen werden müsse.“11
Um die Sache abzurunden. hier gleich noch ein weitere Vorgriff. Nachdem es dank Chrustschows Hilfe Gomulka im Oktober 1956 gelungen war, sich wieder an die Spitze der polnischen Partei zu setzen und dort eine Politik zu betreiben, mit der Tito nun endlich doch ganz und gar zufrieden sein konnte, gab der nun auch Gomulka das hoch verdiente Lob in einer Rede, die er am 11. November 1956, nach der schließlichen Niederschlagung der ungarischen Konterrevolution, in Pula hielt; er führte dort aus: „Dank der Tatsache, dass in Polen trotz aller Verfolgungen und Stalinschen Methoden… dennoch ein Kern mit Gomulka an der Spitze geblieben ist, der auf dem VIII. Plenum die Dinge in seine Hände zu nehmen und mutig einen neuen Kurs einzuschlagen vermochte…, – dank dieser Tatsache konnten in Polen die reaktionären Kräfte nicht zum Tragen kommen … Es ist dem reifen Verständnis und dem Verhalten der sowjetischen Staatsführung, die es rechtzeitig unterließ, sich einzumischen, zu verdanken, dass sich in Polen die Dinge stabilisiert und bis jetzt auch gut entwickelt haben. Ich kann nicht sagen, dass diese positive Entwicklung in Polen, die der unseren sehr ähnlich ist, in den anderen Ländern des ´sozialistischen Lagers´ irgendwelche Freude ausgelöst hätte. Nein, sie wird kritisiert… Bei diesen Ländern hat Polen nicht das gleiche Maß an Unterstützung gefunden wie bei den sowjetischen Staatsmännern, die einer solchen Haltung Polens zustimmten. Bei diesen verschiedenen führenden Leuten in einzelnen Ländern des ´sozialistischen Lagers´, aber auch bei einigen kommunistischen Parteien im Westen hat Polen kein Verständnis gefunden, weil dort noch stalinistische Elemente sitzen. … Ebenso notwendig ist es, dass wir in engstem Kontakt mit der polnischen Regierung und Partei arbeiten und ihnen helfen, soviel wir können. Gemeinsam mit den polnischen Genossen werden wir gegen solche Tendenzen kämpfen müssen, die in den verschiedenen anderen Parteien in den Ostländern oder im Westen auftreten. Dieser Kampf wird schwer und langwierig sein, denn jetzt geht es wirklich darum, ob in den kommunistischen Parteien ein neuer Geist siegen wird, der in Jugoslawien seinen Ausgang genommen hat und für den in den Beschlüssen vom XX. Kongress der KPdSU ziemlich viele Elemente geschaffen wurden. Es geht jetzt darum, ob dieser Kurs siegen wird, oder ob wieder der stalinistische Kurs siegen wird.“12
Dass der Mann, der 1948 vermocht hatte, Titos Hoffnungsträger Gomulka aus dem Sattel zu heben – Boleslaw Bierut -, in Titos und Chrustschows Augen ein „reaktionäres Element“ war, versteht sich von selbst.
Klement Gottwald, Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC) und Präsident der Tschechischen Republik.
Gottwald gehörte 1921 zu den Mitbegründern der KPC und wurde 1929 zu ihrem Generalsekretär gewählt. Das Ansehen und der Einfluss der Partei wurden gewaltig gestärkt durch ihren konsequenten Kampf für die Unabhängigkeit des Landes, gegen den Verrat der Westmächte im Münchner Abkommen, aber auch durch die Haltung der Sowjetunion, die – anders als der Hauptverbündete der Tschechoslowakei, Frankreich, das seinen Verbündeten schmählich im Stich ließ und mithalf, ihn an Deutschland auszuliefern -, erklärte, sie werde zu ihren Bündnisverpflichtungen stehen, falls die Tschechoslowakei Deutschland bewaffneten Widerstand leiste.
Nach der Befreiung des Landes wurde Gottwald in der ersten Regierung stellvertretender Ministerpräsident des Landes. Präsident wurde der aus dem englischen Exil zurückgekehrte letzte Präsident der bürgerlichen Republik vor dem Münchner Abkommen, Eduard Benesch. Aus den Parlamentswahlen vom 26. Mai 1946 ging die KPC mit 38 Prozent als stärkste Partei hervor; Klement Gottwald wurde nun, am 8. Juni 1946 – Ministerpräsident der aber immer noch aus bürgerlichen, sozialdemokratischen und kommunistischen Ministern zusammengesetzten Regierung. Am 21. Februar 1948 wollten die bürgerlichen Minister die Kommunisten aus der Regierung verdrängen, indem sie geschlossen zurücktraten, um damit Benesch die Möglichkeit zu geben, die gesamte Regierung zu entlassen und eine neue, „kommunistenfreie“ Regierung einzusetzen. Dieser „legale“ Putschversuch schlug aber total fehl: die Massen verteidigten ihre kommunistischen Minister und Ministerpräsidenten mit gewaltigen Demonstrationen und einem Generalstreik. Am 25. Februar hatte das Volk gesiegt, die Tschechoslowakei beschritt den Weg zum Arbeiter- und Bauerstaat. Am 9. Mai 1948 gab sich das Land eine neue Verfassung, Benesch trat zurück und am 14. Juni wurde Klement Gottwald Präsident der Republik, zugleich blieb er der Vorsitzende der KPC.
Generalsekretär der Partei war Ruldof Slansky. Einige Jahre später, 1951, wurde aufgedeckt, dass der diese seine Funktion dazu benutzt hatte, Gottwald zu isolieren und ein zweites, konspiratives Leitungszentrum in der Partei aufzubauen. Auf einem ZK-Plenum im Februar 1951 hatte Gottwald sich schon mit der Rolle Tito-Jugoslawiens und einiger Parteimitglieder beschäftigt, denen Parteiverrat vorgeworfen wurde; (Otto Sling, Sekretär der KPC-Kreiskomitees Brünn, Marie Svermova, Vladimir Clementis, ehemaliger Außenminister). Dabei nahm Gottwald grundsätzlich zu den Versuchen der Bourgeoisie Stellung, in die Reihen der revolutionären Arbeiterbewegung einzudringen und sie zu zersetzen. In seinem Referat führte Gottwald zu Jugoslawien unter anderem aus: „Kurz – im großen Weltkampf um den Frieden unter der Führung der Sowjetunion ist die Tito-Rankovic-Clique vollkommen auf die Seite der Kriegshetzer, geführt vom amerikanischen Imperialismus, übergegangen. … Es ist durchaus kein Zufall, dass überall dort, wo ein Spion und Diversant der westlichen Imperialisten entdeckt wird, gewöhnlich auch neben und mit ihm ein Spion und Diversant des titoistischen Jugoslawiens entlarvt wird.“
Zur Problematik der in der Partei wirkenden feindlichen Kräfte ist bei Gottwald zu lesen: „Wenn der Klassenkampf – sozusagen – normal ist und die Entwicklung ziemlich ruhig vor sich geht, da duckt sich die Agentur des Klassenfeindes in der Kommunistischen Partei, versteckt sich und passt sich an. Sobald sich aber der Klassenkampf verschärft, sobald die Bourgeoisie eine Position nach der anderen verliert, dann versucht der Klassenfeind natürlich die letzte, aber auch wichtigste Karte auszuspielen. Das heißt, dass er seine Agentur in der Kommunistischen Partei mobilisiert. … Einige Genossen fragen, warum wir diese Feinde nicht schon früher entlarvt haben. … Wir müssen uns dessen bewusst sein, …dass der Spionagedienst auf lange Sicht arbeitet. Er setzt Leute ein und … leitet sie so, dass sie Vertrauen gewinnen und so arbeiten, dass sie Erfolge haben, und erst dann hervortreten, wenn es nötig ist, zum Beispiel im Krieg und ähnlichem. Das heißt, dass ein solcher Agent nicht nur lauter schädliche Dinge macht. Da wäre es sehr leicht, ihn zu entlarven. Da würden wir ihn rasch vor die Türe setzen, wie jeden Saboteur und Schädling. Ein solcher Agent muss unbedingt auch irgendwelche guten Dinge tun, damit er sich mit ihnen ausweisen kann, damit er Vertrauen gewinnen, noch höher klettern und dann im gegebenen Falle den großen, strategischen Plan seiner Auftraggeber erfüllen kann. Wir wissen zwar theoretisch, dass der Feind in die Partei dringt, dass er versucht, ständig höher zu kommen und dass er sich bemüht, die Politik der Partei zu beeinflussen. … Wir wiederholen dies ständig von neuem, aber wenn es sich um eine konkrete Person handelt, die wir … lange kennen, zögern wir, auf den ersten Blick zu glauben, dass es ein feindlicher Agent ist, wanken selbst, denken nach, führen alle möglichen Gründe für und gegen an usw. Vom theoretischen Begreifen des Problems des Klassenschädlings innerhalb der Partei bis zur Entlarvung – wenn es um eine konkrete Person geht – ist bei uns noch ein weiter Weg. Weiter schließen wir oft die Augen vor verschiedenen unbolschewistischen Äußerungen und glauben, sie seien Zufall. Die Erfahrung lehrt, dass dies besonders bei hohen Parteifunktionären in der Regel nicht der Fall ist, dass sich hinter einem ähnlichen „Zufall“ die Teufelsklaue Renegatentum und Verrat versteckt.“13
Im September 1951 wurde der Generalsekretär Slansky aus dieser Funktion abberufen und in eine Funktion im Regierungsapparat eingesetzt, einige Zeit später in Untersuchungshaft genommen und im Dezember 1951 aus der Partei ausgeschlossen.14
Im November 1952 fand der Prozeß gegen Slansky und 13 Mitangeklagte statt, von denen Slansky und 10 weitere Angeklagte zum Tode, die übrigen zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt wurden.15
Matyas Rakosi, Vorsitzender der Partei der Ungarischen Werktätigen.
Mitbegründer der Kommunistischen Partei Ungarns und führend an der Ungarischen Räteregierung von 1919 beteiligt, dafür vom faschistischen Horthy-Regime nach seiner Rückkehr aus der österreichischen Emigration nach Ungarn 1926 verhaftet und zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, auf Intervention der Sowjetunion unter der Bedingung der sofortigen Ausreise in die Sowjetunion 1940 nach vierzehnjähriger Haft freigelassen.
Mit dem Kampf und dem Schicksal Rakosis und seiner Partei werde ich mich im folgenden ausführlich beschäftigen, weil sie exemplarisch sind für die Bedingungen, denen die kommunistische Bewegung insgesamt seit 1953 ausgesetzt war, und weil ohne die Kenntnis dieser Rahmenbedingungen auch die Entwicklung in der DDR und deren schließlicher Untergang nicht zu verstehen sind.
Rakosi war wohl der von den Revisionisten meist gehasste und meistverleumdete Parteiführer der Länder der Volksdemokratie, und das mit gutem Grund, scheiterten doch selbst nach dem XX. Parteitag die KPdSU zunächst noch alle ihre Versuche, die Partei und das Land auf die Tito-Linie zu führen, an seinem unbeirrbaren Festhalten an der marxistisch-leninistischen Orientierung der Politik der Partei. Mit besondere Wut erfüllte alle Feinde des Sozialismus der im September 1949 in Budapest durchgeführte Prozess gegen Laszlo Rajk und andere, – der erste der drei großen Prozesse, die in den volksdemokratischen Ländern Ungarn, Bulgarien und Tschechoslowakei gegen führende Partei- und Staatsfunktionäre wegen Hochverrats und Vorbereitung des Sturzes der sozialistischen Ordnung durchgeführt wurden.
Diese Prozesse haben eine Vorgeschichte, in deren Mittelpunkt die Änderung der Politik der Führer der kommunistischen Partei Jugoslawiens gegenüber der Sowjetunion und den volksdemokratischen Ländern steht. Bis in das Jahr 1948 hinein galt in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern, und auch bei uns, der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, Jugoslawien als ein Land, das auf dem Wege zur Errichtung einer sozialistischen Ordnung am weitesten vorangekommen war und der Sowjetunion am nächsten stand.16
Aber Ende 1947 – Anfang 1948 nahm die Führungsgruppe der KP Jugoslawiens eine verhängnisvolle Änderung ihres bisherigen Kurses vor. Diese Änderung lief darauf hinaus, im sozialistischen Lager ein zweites, ein Gegenzentrum gegen die Sowjetunion zu bilden – mit Jugoslawien als Hegemon. Das Ganze wurde begründet mit der Notwendigkeit, die Balkanländer zu einer Föderation zusammenzuschließen. Tito nutzte dabei den Umstand aus, dass die kommunistischen Parteien der Balkanländer schon zu Zeiten der Kommunistischen Internationale der imperialistischen Politik des Gegeneinanderhetzens der Balkanvölker die Forderung nach einem solidarischen Zusammenschluss in einer Balkanföderation entgegen gestellt hatten. Deshalb stimmte zunächst auch Georgi Dimitroff dem Vorschlag der Tito-Führung zu, nach dem Sieg über die Faschisten und nach der Verjagung der reaktionären Regierungen der Balkanstaaten nun die alte Idee der Balkanföderation zu verwirklichen. Als jedoch erkennbar wurde, dass hinter Titos Vorschlag die Absicht der Angliederung Bulgariens als Teilrepublik an Jugoslawien und die Schaffung eines antisowjetischen Zentrums steckte, nahm Dimitroff seine Zustimmung zurück und sprach sich gegen dieses Projekt aus.
Umso mehr drängte die Belgrader Führung jetzt – im Frühjahr 1948 – darauf, dass der andere, kleinere und – wie sie meinte -, leicht zu vereinnahmende Nachbar Albanien sich Jugoslawien anschloß.17 Die Belgrader Führer konnten damit umso eher rechnen, als sie in der Führung der albanischen Partei Vertrauensleute wussten, – wie den Organisationssekretär des ZK der albanischen Partei und Innenminister Koci Xoxe und andere -, die auf Titos Weisung hin auch einen Staatsstreich in Tirana unternehmen würden, falls anders das Ziel nicht zu erreichen sein sollte. Dazu kam es indessen nicht, weil die Kritik des Informationsbüros an der Politik der KP Jugoslawiens vom Juni 1948 Tito zur Zurückhaltung zwang, zum anderen diese Kritik auch zur Aufdeckung der Machenschaften der Verbündeten Titos in der albanischen Führung beitrug. Sie führte schließlich zur Verhaftung Koci Xoxes und seiner Mitverschwörer und der Eröffnung eines Gerichtsprozesses gegen sie, der vom 11. Mai bis zum 10. Juni 1949 in Tirana durchgeführt wurde und mit einem Todesurteil für Koci Xoxe sowie Freiheitsstrafen von 5 bis zu 20 Jahren für die vier anderen Angeklagten abgeschlossen wurde.18
Es ist übrigens bemerkenswert, dass ungefähr im gleichen Zeitraum, in dem die Belgrader Führung ihren neuen antisowjetischen Kurs verschärfte, in den USA der „Nationale Sicherheitsrat“ die Direktive 10/2 vom 18. Juni 1948 erließ, die zum Inhalt die Ausdehnung verdeckter Aktionen der CIA auch auf das Ausland hatte; in dieser Direktive hieß es u.a.: „Unter dem in dieser Direktive verwendeten Terminus ´geheime Operation´ sind alle Aktivitäten … zu verstehen, die von dieser Regierung gegen feindliche ausländische Staaten oder Gruppen oder zur Unterstützung befreundeter ausländischer Staaten oder Gruppen geleistet oder gefördert werden, die jedoch so geplant und geleitet werden, dass nach außen hin ihr Urheber – die Regierung der USA – auf keine Weise in Erscheinung tritt und im Falle ihrer Aufdeckung die Regierung der USA völlig glaubwürdig jede Verantwortlichkeit für sie plausibel leugnen kann.“
Als „geheime Aktivitäten“ wurden genannt: Propaganda, Wirtschaftskrieg, direkte Präventivhandlungen einschließlich Sabotage …, Wühlarbeit gegen feindliche Staaten, einschließlich Hilfe für die illegalen Widerstandsbewegungen im Untergrund, für Guerillas sowie die Unterstützung von antikommunistischen Elementen in bedrohten Ländern der freien Welt.“19
Was im Rajk-Prozeß aufgedeckt wurde, ging sicher zu einem erheblichen Teil schon auf das Konto der Arbeit dieser Direktive. Dazu gehört vor allem der Plan zum Sturz der bestehenden Regierung, in dem Laszo Rajk, dem ungarischen Außenminister, von seinen jugoslawischen und amerikanischen „Beratern“ die Hauptrolle zugedacht war. Über diesen Plan und seine Väter sagte der ehemalige Leiter der Kaderabteilung der Kommunistischen Partei Ungarns, Tibor Szönyi: „Der Plan der Verschwörung zum Sturz der ungarischen volksdemokratischen Regierungssystems diente selbstverständlich den Interessen derjenigen, die den Plan ausgearbeitet hatten, die die intellektuellen Urheber des Planes waren, das heißt, die Verschwörung war ein Teil der gemeinsamen amerikanischen und jugoslawischen Pläne. … Wir erhielten ein konkretes Versprechen in Bezug auf eine wirtschaftliche, finanzielle Hilfe Ungarns von Seiten der Vereinigten Staaten, nach Ausführung des Putsches; ferner … würden die Vereinigten Staaten Ungarns Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen … unterstützen.“
Auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, welche wesentlichen Änderungen für den Fall des Gelingens der Verschwörung in der Innen- und Außenpolitik vorgesehen gewesen seien, gab Szönyi zur Antwort:
„In erster Reihe die Bildung einer neuen Regierung. Wir planten ferner, die politische Struktur des Landes in dem Sinne zu ändern, wie das Rajk mit den führenden jugoslawischen Politikern besprochen hatte und wir hätten dazu die jugoslawische innenpolitische Lage als Vorbild genommen, das heißt eine Änderung, welche die Rolle der Parteien, in erster Reihe der Partei der Ungarischen Werktätigen im politischen Leben des Landes in den Hintergrund hätte drängen sollen, und an Stelle dieser hätte eine Volksfront mit verbreiterter Grundlage treten müssen, als eine Organisation, die das politische Leben des Landes lenkt. Die Verbreiterung wäre in dem Sinne geschehen, dass wir dem Kulakentum innerhalb der Volksfront zu politischer Vertretung verholfen hätten. Auf wirtschaftlichem Gebiet war in erster Reihe davon die Rede, dass wir stufenweise – freilich nicht auf einmal – alle wichtigen Errungenschaften der Volksdemokratie von neuem vernichten, das heißt die Fabriken, die Banken, die Bergwerke den Kapitalisten zurückgeben, die Errungenschaften der Bodenverteilung teilweise vernichten sollten. In der taktischen Ausführung des Planes dachten wir freilich nicht daran, alles mit einem Schlag zu verwirklichen, sondern stufenweise, langsam, der Lage entsprechend. Ähnliche langsame, progressive Änderungen wurden auch in außenpolitischer Hinsicht geplant. Unsere Zielsetzung, Ungarn von der Seite der Sowjetunion und der befreundeten Volksdemokratien an die Seite der Vereinigten Staaten zu stellen, wollten wir auch stufenweise, langsam ausführen.“20
Die Anklagen wie auch die Geständnisse der Angeklagten waren so ungeheuerlich und ungewöhnlich, dass es verständlich erscheint, wenn die späteren Behauptungen und Erklärungen, die Anklagen seien zu Unrecht erfolgt und die Angeklagten zu Unrecht verfolgt worden, ihre Geständnisse seien durch Folter, Drogen und falsche Versprechungen erpresst und erschlichen worden, ja, wenn sogar solch absurde Behauptungen, die Drehbücher für die Aussagen und Geständnisse der Angeklagten seine in Moskau von Stalin und Berija entworfen worden und hätten dann von den Angeklagten auswendig gelernt und in den Verhören vorgetragen werden müssen, Glauben fanden und sogar mit einer gewissen Erleichterung darüber aufgenommen wurden, dass die Angeklagten ehrliche Kommunisten geblieben und unfähig gewesen waren, die ihnen zur Last gelegten Verbrechen zu begehen. Allerdings musste man dafür nun für möglich halten, dass Rakosi und alle anderen für diese Prozesse Verantwortlichen noch viel schlimmere Ungeheuer waren, als den nunmehr Rehabilitierten je zugeschrieben war.
Man muss sich einmal vorstellen, was es für eine politische Bewegung bedeuten muss, wenn ihren Anhängern heute eine Gruppe ihrer Führer als Verräter und Verbrecher, morgen ihnen jedoch die gleichen Führer als quasi Heilige, die von den denkbar schlimmsten Verbrechern, nämlich ihren gestrigen Richtern, unter erfundenen Beschuldigungen grundlos ermordet wurden. Das alles machte die kommunistische Bewegung in den wenigen Jahren zwischen 1949 und 1956 durch! Eine Bewegung, die daran nicht zugrunde geht, muss einen sehr gesunden Organismus haben und zur Vertretung der Lebensinteressen der Klassen, deren politisches Führungsorgan sie ist, trotz alledem als unentbehrlich empfunden werden. Aber unvermeidlich stellen sich viele die Frage: Wie kann man sich da noch zurechtfinden? Wer lügt? Wo ist die Wahrheit? Die Antwort ist: Die Wahrheit ist nur in den geschichtlichen Tatsachen zu finden, sogar dann, wenn Beweisdokumente noch fehlen. Die geschichtlichen Tatsachen aber besagen: Das, was Rajk und Komplizen als ihre Absicht vorgeworfen und wofür sie – bevor sie diese in die Tat umsetzen konnten – verurteilt wurden, das wurde nach der Rehabilitierung Rajks und seiner Mitangeklagten von anderen Führern der ungarischen Partei gleich zweimal nun tatsächlich begangen: zum ersten Male von Imre Nagy im Herbst 1956, zum zweiten Male von Gyula Horn ab 1989.
Wer war Imre Nagy? Als eine Auswirkung der Veränderungen in der Leitung der KPdSU nach dem Tode Stalins wurde am 27./28. Juni 1953 das Politbüro der Partei der Ungarischen Werktätigen erweitert; die wichtigste Veränderung war die Aufnahme Imre Nagys in dieses Gremium.21 Am 2. Juli wurde auch die ungarische Regierung umgebildet und Imre Nagy als Ministerpräsident an ihre Spitze gestellt.22
Aber auf einem ZK-Plenum am 2.-4. März 1955 wurde scharfe Kritik an seiner Amtsführung geübt. Das Plenum fasste einen Beschluss „Über die politische Lage und die Aufgaben der Partei“, in dem u.a. gesagt wurde, Nagy habe die Beschlüsse des Juni-Plenums von 1953 im opportunistischen und antimarxistischen Sinne entstellt. „Von einer Hebung des Lebensstandards sprechen und zur gleichen Zeit nicht für die Gewährleistung der hierfür notwendigen ökonomischen Voraussetzungen sorgen, sind in Wirklichkeit billige Demagogie und Irreführung des Volkes. … Wer versichert, dass die Hauptmasse der Klein- und Mittelbauern als Einzelbauern einen gewissen Wohlstand erzielen kann, dass unsere aus Hunderttausenden Einzelbauern bestehende Landwirtschaft gedeihen und zu einer fortgeschrittenen Landwirtschaft werden kann, ohne dass die Produktionsgenossenschaften entwickelt werden, betrügt die werktätigen Bauern. … Die größer gewordene rechte, opportunistische Abweichung zeigte sich auch in der Unterschätzung der führenden Rolle der Partei. Einige negierten die Rolle der Partei in der Vaterländischen Volksfront. … Mit diesen rechten Anschauungen wollte man im Grunde die marxistisch-leninistische Lehre von der Diktatur des Proletariats einer Revision unterziehen. Das wichtigste in der volksdemokratischen Ordnung ist die unbedingte Gewährleistung der führenden und richtunggebenden Rolle der revolutionären Partei der Arbeiterklasse. Ohne Gewährleistung dieser Rolle gibt es keine Volksdemokratie! … Die rechten Anschauungen in unserer Partei und in unserem Staat sind so gefährlich geworden, weil Genosse Imre Nagy in seinen Reden und Artikeln diese antimarxistischen Ansichten unterstützt, ja mehr noch, sie am eifrigsten predigt. … Ein Hauptmerkmal der rechten Linie des Genossen Imre Nagy zeigte sich darin, dass er die von der Partei erzielten großartigen Siege leugnete und unterschätzte und die Erfolge regelmäßig verschwieg. … Die rechten Elemente außerhalb und innerhalb der Partei betrachteten diesen Artikel (Imre Nagys vom 20. Oktober 1954) als Signal und begannen die richtige Politik der Partei zerstörend anzugreifen. Solche Erscheinungen gab es in den Redaktionen vieler Zeitungen sowie auf dem Gebiet der Literatur. … Genosse Nagy und einige andere Genossen haben mit billigen demagogischen Versprechungen in der Presse … die Arbeiterklasse mitunter irregeführt, … sich den rückständigsten Schichten der Arbeiter angepasst und dadurch gewisse Elemente der Zersetzung in die Arbeiterklasse hineingetragen.“23
Auf dem darauf folgenden Plenum des ZK der Partei der Ungarischen Werktätigen wurde Imre Nagy aus dem Politbüro und dem ZK der Partei ausgeschlossen und aller Funktionen enthoben, die er im Auftrag der Partei ausübte, also auch als Ministerpräsident. Das war im April 1955. Aber schon im Mai trat ein Ereignis ein, das den künftigen Sturz Rakosis und den Wiederaufstieg Imre Nagys vorherbestimmte; es war dies Chrustschows Erklärung gegenüber Tito aus Anlass des Besuches einer sowjetischen Delegation, – worüber weiter unten ausführlicher zu sprechen sein wird -, dass alle gegen Tito erhobenen Vorwürfe sich nach gründlicher Prüfung als unberechtigt und Erfindung von Feinden, von Agenten des Imperialismus, erwiesen hätten.
Sofort nutzte Tito dies aus, um Druck auf alle anderen kommunistischen Parteien auszuüben, auch ihrerseits alle Vorwürfe gegen ihn und seine Partei zurückzunehmen. „Am 27. Juli forderte er in einer Rede in Karlovac, dass auch die Führer in Ungarn und in der Tschechoslowakei ihre gegenüber Jugoslawien begangenen Fehler bekennen, so wie dies die sowjetischen Führer anlässlich des Besuches der sowjetischen Staatsmänner in Jugoslawien getan hätten. Er verlangte hierbei insbesondere eine Revision der seinerzeitigen Prozesse gegen Rajk…in Budapest, gegen Trajtscho Kostoff…in Sofia und gegen Rudolf Slansky und Vladimir Clementis in Prag…. Tito sagte u.a.: „Wir bedauern, dass es im Osten in einigen unserer Nachbarstaaten immer noch Leute gibt, denen diese Normalisierung nicht gefällt. … Stattdessen intrigieren sie hinter den Kulissen gegen uns … und versuchen überall, uns Steine in den Weg zu legen… Vor allem in Ungarn gibt es Leute, die so reden. Aber wir sind überzeugt, dass sie … die Erfüllung dessen, was wir wollen und was die Sowjetführer in Belgrad erklärten und gegenwärtig auch ausführen, nicht verhindern können… Auch in der Tschechoslowakei gibt es Leute, die Mühe haben,… ihre Fehler zu bekennen… Diese und ähnliche Leute werden ihre Fehler gegenüber unserem Lande auf die eine oder andere Weise bekennen müssen.“24
Dieser Druck aus Belgrad beeindruckte die ungarischen Genossen nicht und brachte sie nicht davon ab, ihren Kampf gegen die Tito-Sympathisanten weiterzuführen, die vor allem in den Reihen der Schriftsteller zu finden waren, die sich als ein organisatorisches Zentrum einen Club schufen, dem sie den Namen des populären ungarischen Schriftstellers Petöfi gaben. Im Dezember 1955 fasste das ZK der Partei der Ungarischen Werktätigen einen Beschluss mit der Überschrift: „Die rechten Fehler im literarischen Leben Ungarns überwinden“, in dem es u.a. hieß: „Einige Schriftsteller, auch Parteimitglieder,… haben die Perspektive des Sozialismus verloren. … Pessimismus und Verzweiflung haben von ihnen Besitz ergriffen. … All das legen sie als etwas ´Neues´, als einen Sieg über den Schematismus dar. … Einige Schriftsteller … haben den Beschluss des März-Plenums des ZK (gegen Imre Nagy) abgelehnt oder sich auch nur nach außen hin einverstanden erklärt… Der rechte Opportunismus kommt zur Zeit in den gefährlichsten, offensten und organisiertesten Formen in der Literatur zum Ausdruck.“25
Dann aber kam im Februar 1956 der XX. Parteitag, auf dem Stalin verdammt und Tito gefeiert wurde. Rakosi versuchte dennoch, die antirevisionistische Linie der Partei beizubehalten. Auf einem ZK-Plenum im März erklärte er noch: „Unsere rechten Elemente erhoffen sich vom XX. Parteitag, dass er sie rechtfertigen werde. Jetzt ist für jedermann klar, dass sich diese Hoffnungen nicht erfüllt haben.“ Er sollte sehr schnell erfahren, dass dies eine große Fehleinschätzung war. Chrustschow und Tito übten nun konzertiert einen immer stärkeren Druck auf andere Parteien, vor allem aber auf die ungarische Partei aus. Nur zwei Wochen nach dieser optimistischen Einschätzung sah sich Rakosi gezwungen, auf einer Sitzung des Parteiaktivs in einer ungarischen Stadt zu erklären, der Rajk-Prozess sei überprüft worden; das Ergebnis sei die Feststellung, dass der Prozess eine feindliche Provokation und unberechtigt gewesen sei. Das oberste Gericht habe Rajk und die mit ihm Verurteilten rehabilitiert.
Rakosi hatte damit den ersten Schritt der von außen erzwungenen Selbstdemontage getan. Am 19. Mai 1956 musste er vor dem Budapester Parteiaktiv in einem Referat „Über die Lage und die Aufgaben im Lichte des XX. Parteitages“ den nächsten Schritt mit einer „selbstkritischen“ Einschätzung seiner Arbeit und seines Verhaltens „zu bestimmten Fragen“ tun und gleichzeitig ausgerechnet am ungarischen Beispiel „nachweisen“, dass Stalins These von der Verschärfung des Klassenkampfes mit wachsenden Erfolgen – die gerade in Ungarn durch die Offensive des Revisionismus seit 1953 und verstärkt seit dem XX. Parteitag ihre nachdrückliche Bestätigung fand! – „falsch und schädlich“ sei.
Chrustschow und Tito verstärkten nun den Druck in Richtung Budapest, um den verhassten Rakosi endlich vom Stuhl des 1. Sekretärs zu stoßen, damit der Weg für Imre Nagy frei werde. Tito reiste am 6. Juni nach Moskau, einen Tag später traf das sowjetische Politbüromitglied Suslow, der sich von einem „Stalinisten“ zu einem treuen Chrustschow-Gefolgsmann entwickelt hatte, in Budapest ein. Die Auswirkungen zeigten sich auf dem nächsten ZK-Plenum der ungarischen Partei am 18. Juli 1956. Rakosis Stellvertreter Ernö Gerö verlas auf diesem Plenum einen Brief Matyas Rakosis, in dem dieser bat, ihn von der Funktion als 1. Sekretär wegen „Fehlern in der Arbeit und Krankheit“ zu entbinden. Aber Tito und Chrustschow waren damit unerwarteter Weise noch nicht am Ziel. Das ZK-Plenum wählte nämlich nicht ihren Kandidaten Imre Nagy zum Nachfolger Rakosis, sondern den nach Rakosi meistgehassten Mann, Ernö Gerö. Der musste, dem Zwang der Umstände gehorchend, auf diesem Plenum zwar erklären: „Wir beabsichtigen, einen Brief an den Bund der Kommunisten zu senden, in dem wir feststellen: ´Wir bedauern tief, was geschehen ist. Wir ziehen unsere Verleumdungen zurück, mit denen wir in der gespannten internationalen Lage die Föderative Volksrepublik Jugoslawien und ihre Leiter bedachten. Wir schlagen vor, Verhandlungen zu beginnen…´“
Aber das konnte an dem Entschluss der beiden, ihn auch den Weg Rakosis gehen zu lassen, nichts ändern. Zunächst erzwangen sie auf dem nächsten ZK-Plenum der PdUW am 18.-21. Juli 1956 eine Erweiterung des ZK und des Politbüros26 durch Aufnahme von jetzt rehabilitierten Tito-Sympathisanten, – zu denen auch Kadar gehörte -, womit die bisherige Mehrheit der Anti-Revisionisten in beiden Parteigremien gebrochen war. Und dann gingen sie gemeinsam an die Vorbereitung des letzten Schrittes, des Sturzes Gerös und der Rückkehr Imre Nagys in die Führungspositionen in Partei und Staat. Vom 19. bis zum 27. September verbrachte Chrustschow seinen „Urlaub“ in Jugoslawien, am 25. September war er Gast Titos auf der Insel Brioni. Am 28. September revanchierte sich Chrustschow als Gastgeber für Tito auf der Krim. Sie bereiteten sich beide auf die Verhandlungen mit Gerö vor, die dort am 2. Oktober 1956 stattfanden. Worum es bei diesen Gesprächen in Jugoslawien und auf der Krim ging, das hat Tito in einer Rede, die er am 11. November 1956 in Pula hielt, durchblicken lassen. Natürlich konnte er nicht die volle Wahrheit ausbreiten, vor allem durfte die wahre Rolle Chrustschows nicht offen dargelegt werden. Aber es wird dennoch deutlich genug, dass bei diesen Gesprächen darüber beraten wurde, wer in den anderen sozialistischen Ländern tragbar sei und wer – vor allem in Ungarn – auf jeden Fall weg müsse.
Natürlich konnte gerade Tito, der immer jede Kritik aus anderen Parteien an seiner Politik als „Einmischung“ in die inneren Angelegenheiten seines Landes scharf zurückgewiesen hatte, das nicht offen zugeben. Deshalb formulierte er: „Als dort – in Ungarn – die Unzufriedenheit auch in den Reihen der Kommunisten immer stärker auszubrechen begann, und als sie forderten, Rakosi solle gehen, da … waren die sowjetischen Genossen damit einverstanden, ihn abzusetzen. Aber sie machten den Fehler, nicht zuzulassen, dass auch Gerö und die sonstigen Anhänger Rakosis … abgesetzt würden.“ Es ging also eingestandenermaßen um die Erzwingung der Absetzung Gerös von außen!
Offenbar hatte es um diese Zeit in der sowjetischen Führung auch noch ernsthaften Widerstand gegen Titos und Chrustschows Forderungen gegeben, denn Tito sagte in der gleichen Rede: „Aber wir haben das nicht so tragisch genommen, denn wir haben gesehen, dass das nicht die Haltung der gesamten Sowjetführung ist, sondern nur eines Teils. … Wir haben gesehen, dass diese Haltung von den Leuten aufgezwungen wurde, die ziemlich stark auf den Stalinschen Positionen standen und auch heute noch immer stehen, dass es aber noch immer die Möglichkeit gibt, dass in der Führung der Sowjetunion in einer inneren Evolution die Elemente siegen, die für eine kraftvollere und schnellere Entwicklung in Richtung auf eine Demokratisierung sind… Aus gewissen Anzeichen, aber auch aus den Gesprächen haben wir gesehen, dass diese Elemente nicht schwach, sondern stark sind.“27
Um endlich in Ungarn ans Ziel – die Vertreibung Gerös von der Parteispitze und zugleich Hegedüs als Ministerpräsidenten – zu gelangen, griff man nun zu dem Mittel, das bereits in den Planungen Rajks als äußerstes Mittel vorgesehen war – zur Entfesselung des bewaffneten Aufstandes.
In Polen und Ungarn hatte die vom XX. Parteitag der KPdSU ausgelöste „Entstalinisierungs“- und Rehabilitierungswelle im Laufe des Jahres 1956 antikommunistische und nationalistische Kräfte innerhalb und außerhalb der Partei zu immer offeneren Vorstößen ermuntert. In Ungarn begannen, inszeniert von Intellektuellen-Kreisen, die sich ja im so genannten „Petöfi-Klub“ ihr Zentrum geschaffen hatten, am 21. Oktober 1956 Studentenunruhen, denen sich auch Arbeiterdemonstrationen anschlossen, vor allem aber antikommunistischer Mob. Die Unruhen wurden zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, zum bewaffneten Aufstand und zur Jagd auf und Lynchmorden an Kommunisten, Staats- und Parteifunktionären eskaliert. Damit waren die Verhältnisse geschaffen, die ermöglichten, die schon im Rajk-Prozess enthüllten Zielsetzungen im stufenweisen Vorangehen zu verwirklichen.
Die erste Stufe war die Umbildung der Regierung am 24. Oktober 1956: Imre Nagy wurde zum Ministerpräsidenten ernannt, der bisherige Ministerpräsident Hegedüs zu seinem Stellvertreter degradiert. Am 25. Oktober wurde Ernö Gerö vom ZK der Partei der Ungarischen Werktätigen abgesetzt und Janos Kadar zum neuen 1. Sekretär gewählt. Der Aufstand hatte das erste von den Nagy-Leuten anvisierte Ziel erreicht: die Eroberung der Führung in Partei und Staat. Aber das ungehinderte Wüten des weißen Terrors gefährdete die Durchführung des Stufenplanes des allmählichen, „legalen“ Übergangs zur bürgerlichen Republik, beschwor die Gefahr eines radikalen „Rückschlages“, gestützt auf die Sowjet-Truppen im Lande, herauf. Deshalb verhängte die neue Regierung nun den Ausnahmezustand und rief sogar die Sowjettruppen zu Hilfe zur „Wiederherstellung der Ruhe“ im Lande. Am 30. Oktober zogen sich dann die Sowjettruppen auf die Forderung Imre Nagys hin aus Budapest wieder zurück. Am nächsten Tage, am 31. Oktober, nachdem schon mehrere Stufen bis zur fast völligen Wiederherstellung eines bürgerlichen Ungarn bewältigt worden waren, hielt Nagy vor dem auf dem Parlamentsplatz versammelten Volk eine Rede, in der er ausführte: „Wir haben die Bande Rakosi-Gerö vertrieben. Diese Bande hat versucht, mich zu beschmutzen; sie hat erklärt, ich hätte die sowjetische Intervention verlangt. Das ist falsch. Im Gegenteil: Ich war es, der den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen verlangt hat. Heute beginnt die Konferenz über die Abschaffung des Warschauer Paktes und über den Abzug der Russen aus unserem Lande.“
Vor Journalisten erklärte er dann danach: „Wir haben die Möglichkeit, den Warschauer Pakt auszulöschen. Es kann sein, dass Ungarn zu einem neutralen Kern in Mitteleuropa wird. Wir müssen uns auf die materielle Hilfe des Auslandes stützen.“28 Kennen wir diese Melodie nicht schon aus den Aussagen Szönyis?
Aber wir haben vorgegriffen: nach der Eroberung der Führungspositionen in Partei und Regierung am 24. Oktober war erst einmal die nächste, zweite Stufe zu nehmen: Die Bildung einer neuen ungarischen Regierung, der erstmals auch zwei bürgerliche Minister, ehemalige Funktionäre der konterrevolutionären Partei der kleinen Landwirte, angehörten. Das geschah am 27. Oktober.
Als eine weitere, dritte Stufe kann die Bildung eines „Sechserkomitees“ durch das ZK am 28. Oktober betrachtet werden, dessen Bildung praktisch die Ausschaltung des ZK und der Mitgliedschaft bei der weiteren Festlegung der Politik der Partei bedeutete. Vorsitzender dieses exklusiven Komitees war Janos Kadar, und natürlich gehörte ihm auch Imre Nagy an. Gelegentlich der Gründung des Sechserkomitees äußerte Nagy, es sei nicht wahr, dass das, was sich in Ungarn ereigne, eine Konterrevolution sei. Es sei das vielmehr „eine demokratische Bewegung, die unsere ganze Nation erfasst hat, um unsere Unabhängigkeit zu sichern.“
Eine vierte, große Stufe wurde am 30. Oktober mit der Bildung des „engeren Kabinetts“ innerhalb der Regierung genommen, denn sie bedeutete den Übergang zu einer bürgerlichen Koalitionsregierung aus Vertretern von vier Parteien: der Partei der Ungarischen Werktätigen, der wieder zugelassenen Partei der kleinen Landwirte, der Nationalen Bauernpartei und der wieder gegründeten Sozialdemokratischen Partei. Kadar erklärte als 1. Sekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen aus diesem Anlass, die Wiederzulassung der bisher verbotenen Parteien und die Abhaltung freier Wahlen bedeute eine „Rückkehr zur Demokratie“. „Er forderte die Mitglieder seiner Partei auf, mit den Freiheitskämpfern zusammenzuarbeiten“29 – also mit den Henkern seiner Genossen! Noch am 3. November wüteten diese „Freiheitskämpfer“ so, dass Radio Budapest sich veranlasst sah, die Bevölkerung aufzufordern, „mit den summarischen Hinrichtungen aufzuhören“ und daran „zu erinnern“, „dass niemand ohne vorherige gerichtliche Verurteilung hingerichtet oder ins Gefängnis gesteckt werden dürfe.“ In der Pressemitteilung heißt es dazu weiter: „Es war berichtet worden, dass von den Aufständischen auf Mitglieder der Sicherheitspolizei und kommunistische Führer Jagd gemacht werde und dass hierbei Personen gelyncht oder eingekerkert wurden.“30
Nächste Stufe: Am 1. November 1956 gab Nagy bekannt, „dass Ungarn mit sofortiger Wirkung den Warschauer Pakt kündigt und die Neutralität Ungarns proklamiert.“ Zugleich richtete er ein Schreiben an den Generalsekretär der UNO, in dem er diesem mitteilte, er habe den sowjetischen Botschafter Andropow zu sich gerufen und ihm erklärt, dass die ungarische Regierung den Warschauer Pakt aufkündigt, die Neutralität Ungarns proklamiert und sich an die Vereinten Nationen wendet, um die Hilfe der vier Großmächte zur Verteidigung seiner Neutralität zu erlangen. Er gab gleichzeitig bekannt, dass er selbst das Außenministerium übernehme, „um eine entsprechende Politik hinsichtlich des Warschauer Paktes zu gewährleisten.“31 Damit hatte er nicht nur die Durchführung des Plans seines Vorgängers Rajk, sondern auch dessen Amt als Außenminister übernommen.
Einen Tag später, am 2. November, tagte die Leitung der Partei der Ungarischen Werktätigen und gründete sich – da es ja nun wieder eine legale sozialdemokratische Partei im Lande gab – um; sie nannte sich nunmehr „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei“ (USAP). Ihrem Vorstand gehörten außer Janos Kadar auch Imre Nagy und andere Mitglieder der Führung der bisherigen Partei der Ungarischen Werktätigen an. Danach nahm Kadar in einer Radioansprache eine sehr widersprüchliche Haltung ein. Zum einen bekräftigte er den revisionistischen Grundkurs der Verteufelung der Rakosi-Führung mit den Worten: „Unsere Partei bricht für immer mit den Verbrechen der Vergangenheit und wird gegen alle die Ehre und die Unabhängigkeit Ungarns verteidigen.“ Das war eine Bekräftigung der Nagy-Erklärung über den Austritt aus dem Warschauer Pakt und über die Neutralität Ungarns. Er fuhr fort: „Die ungarische Jugend“ – damit waren die Studenten gemeint, die den Aufstand begannen! – „hat nicht ihr Blut vergossen,“ – im Kampf gegen die bewaffneten Kräfte der Volksrepublik Ungarn! – „um die Tyrannei von Rakosi durch die Tyrannei einer Gegenrevolution zu ersetzen. Wir haben nicht gekämpft, damit aus den Händen der Arbeiterklasse die Bergwerke und die Fabriken und aus den Händen der Bauernschaft der ihnen zugeteilte Boden wieder genommen werden. Wir wollen nicht wieder in die Sklaverei des alten Regimes der feudalen Herrenklasse fallen.“ Mit Bezug auf die schon am Vortage durch Radio bekannt gegebene Nachricht, dass neue Einheiten der Sowjetarmee nach Ungarn verlagert worden seien, sagte Kadar, „es bestehe die Gefahr, dass die Intervention einer ausländischen Macht unserem Land das Schicksal Koreas bereitet.“32 Diese insgesamt vieldeutige Erklärung lässt darauf schließen, dass sich Kadar und andere nun auch auf die Möglichkeit einstellen, dass die von ihnen als Regierungsmitglieder mitgetragene Politik Nagys doch noch am Eingreifen der Sowjetunion scheitert und deshalb eine Rückzugsstellung vorbereitet werden musste. Denn inzwischen hatte, nach der Proklamation des Austritts aus dem Warschauer Pakt, der weiße Terror eine bisher ungekannte Steigerung erfahren. Am 2. November berichtete der Reuter-Korrespondent: „Seit gestern herrscht Menschenjagd in den Straßen von Budapest.“ Systematisch wurden Menschen „gehetzt, gejagt und wie Hunde erschlagen, an Laternen und Balkons aufgehängt. Szenen, die an die Wiederkehr der ´Weißen´ in Ungarn von 1919 erinnern, spielen sich im ganzen Lande ab.“33
Nie in meinem Leben werde ich diese Tage anfangs November 1956 vergessen, in denen ich zusammen mit meinen Genossen und Kollegen Tag für Tag im Radio mit Entsetzen und ungläubigem Zorn die Schreckensnachrichten über die Kommunistenjagd und die Mordorgien der weißen Banden in Budapest verfolgte und wir uns immer wieder fragten: Wie ist es nur möglich, dass dies alles geschehen kann, obwohl die Panzer der Roten Armee im Lande stehen? Wie kann man sich das früher ganz und gar Unmögliche erklären, dass die Armee der Sowjetunion Gewehr bei Fuß zusieht, wie Kommunisten von weißen Banditen gelyncht und aufgehängt werden? Wann werden sie denn dem endlich Einhalt gebieten?
Am 4. November 1956 – unverständlich spät! – war es endlich so weit: Die Sowjetarmee griff ein und zerschlug alle Hoffnungen der Nagy und ihrer Hintermänner in Belgrad, Washington und Bonn und wo sonst noch immer. Offenbar in Absprache mit sowjetischen Stellen hatte Janos Kadar am gleichen 4. November sich von Nagy abgesetzt und von Szolnok aus eine „revolutionäre Gegenregierung“ ausgerufen, der er als Ministerpräsident vorstand.34
Imre Nagy und einige andere seiner Minister und Anhänger offenbarten nun auch noch ganz unzweideutig, in wessen Interesse und Auftrag sie gehandelt hatten, indem sie in die jugoslawische Botschaft flüchteten. Von dort aus wollten sie nach Jugoslawien ausreisen. Aber der Bus, in dem sie am 22. November die Reise antraten, landete statt in Belgrad in Bukarest.35 Erst 1958 lieferte die rumänische Regierung Nagy den ungarischen Behörden aus, und nun erhielt auch er – wie seinerzeit Rajk – seinen Prozess, diesmal aber nicht unter Matyas Rakosi als Parteichef, sondern unter seinem ehemaligen Mitverschworenen, Janos Kadar – der ihm gerne geholfen hätte, aber nicht helfen konnte, wollte er seine eigene Stellung an der Spitze der Partei und der Regierung nicht gefährden.36 Der Prozess wurde am 6. Februar 1958 eröffnet als „Strafprozess Imre Nagy und Komplizen“, und wurde am 15. Juni mit dem Todesurteil gegen Nagy und weitere drei Angeklagte und Freiheitsstrafen von 5 Jahren bis lebenslänglich gegen weitere fünf Angeklagte beendet.
Nachdem so auch der zweite Versuch der Durchführung des Programms gescheitert war, dessen Umrisse im Rajk-Prozeß enthüllt worden waren, ergab sich erst nach vier Jahrzehnten, 1989/90, die Gelegenheit zum dritten, diesmal – dank Gorbatschow – erfolgreichen Versuch zu dessen Vollendung. Wiederum fanden sich „gestandene Kommunisten“, die ihr ganzes politisches Leben „im Dienste der Partei“ verbracht hatten, die sich jetzt mit Eifer der Beseitigung der Volksrepublik Ungarn und ihrer Umwandlung in das heutige kapitalistische Ungarn widmeten und auch mit sichtlichem Vergnügen dabei halfen, die sozialistische Ordnung in anderen Ländern, wie z.B. der DDR, zu untergraben und zum Einsturz zu bringen. Es genügt, an den damaligen ungarischen Außenminister Gyula Horn zu erinnern, der sich in diesem Jahr des 10. „Jubiläums“ der Grenzöffnung zu Österreich, die er am 27. Juni 1989 gemeinsam mit dem österreichischen Außenminister Mock vollbracht hatte, feiern ließ, und der als Ministerpräsident des „neuen“, in Wahrheit alten, kapitalistischen Ungarn, der er zeitweilig war, das Land so regierte, dass man meinen konnte, er benutze das Rajksche Drehbuch der Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung als Vorlage.
Die Geschichte selbst hat also die Anklagen im Rajk-Prozeß als begründet, die Rehabilitierung der Verurteilten dagegen als konterrevolutionäre Geschichtslügen offenbart, deren Wirkung auf die Massen die nachträgliche Durchführung des Programms der Rajk und Komplizen ermöglichen sollte und zum Unglück des ungarischen Volkes schließlich auch ermöglicht hat. Wer wissen will, wohin die nach dem XX. Parteitag und erneut nach dem Sieg der Konterrevolution von 1989/90 Rehabilitierten das Land führen wollten, der sehe sich an, wohin die Rehabilitierer es geführt haben!
Wylko Tscherwenkoff, Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei Bulgariens, enger Mitarbeiter Georgi Dimitroffs. Tscherwenkoff wurde nach dem Tode Dimitroffs zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Bulgariens gewählt.
Dimitroffs Tod – er starb am 2. Juli 1949 – war ein schwerer Verlust für die Partei und für die ganze kommunistische Weltbewegung. Sein weltweites Ansehen als der Held von Leipzig, der als Gefangener der Nazifaschisten diesen ihre erste Niederlage beibrachte, seine riesigen Klassenkampferfahrungen und seine unanfechtbare Autorität als eine der größten Führerpersönlichkeiten der kommunistischen Bewegung, fehlten gerade jetzt, da es galt, den Kampf um die Liquidierung der revisionistischen Agentur in der bulgarischen – und wie sich nur zu bald zeigen sollte, sogar in der sowjetischen! – Partei erfolgreich zu Ende zu führen. Für den Erfolg dieses Kampfes im eigenen Lande hatte Dimitroff auf dem letzten Parteitag der bulgarischen Partei, den er noch erlebte, ein festes Fundament gelegt.
Der V. Parteitag der Bulgarischen Arbeiterpartei – auf ihm wurde die Umbenennung in Kommunistische Partei Bulgariens beschlossen – wurde am 19. Dezember 1948 eröffnet, also ein halbes Jahr nach der 2. Beratung des Informationsbüros der Kommunistischen Parteien und deren Resolution „Über die Lage in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens“. Diese Resolution trug neben der Unterschrift Tscherwenkoffs auch die von Traitscho Kostoff als Vertreter der bulgarischen Partei (ebenso wie die Slanskys und Geminders, der Verurteilten im Slansky-Prozeß, als Vertreter der KP der Tschechoslowakei). In seinem Referat ging Dimitroff mit keinem Wort auf diese Resolution ein, erwähnte auch mit keinem Wort Tito und Jugoslawien. Dennoch enthielt dieses Referat an mehreren Stellen eindeutige Verurteilungen der politischen Linie der Tito-Partei. Dies allein schon durch die mehrfache Erwähnung von Ausführungen Stalins als richtungweisend für die bulgarischen Kommunisten. Vor allem aber durch seine Ausführungen zum Charakter und zu den Aufgaben der Volksdemokratien und zu den internationalen Aufgaben Bulgariens. Zu diesen Fragen führte er u.a. aus: „Der volksdemokratische Staat wird in Zusammenarbeit und Freundschaft mit der Sowjetunion geschaffen. Ebenso wie die Befreiung des Landes … setzt auch die weitere Entwicklung unserer Volksdemokratie die Aufrechterhaltung sowohl enger Beziehungen wie auch aufrichtiger Zusammenarbeit, gegenseitiger Hilfe und Freundschaft unseres Landes mit dem großen Sowjetstaat voraus. Jede Tendenz zur Schwächung der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ist gegen die Existenzgrundlagen der Volksdemokratien in unserem Lande selbst gerichtet.
Der volksdemokratische Staat gehört zum demokratischen, antiimperialistischen Lager. Nur durch die Teilnahme an dem einigen, demokratischen, antiimperialistischen Lager, an dessen Spitze der mächtige Sowjetstaat steht, kann jedes Land der Volksdemokratie seine Unabhängigkeit, Souveränität und Sicherheit vor den Angriffen imperialistischer Kräfte gewährleisten. … Die Volksdemokratien kämpfen für den Internationalismus. … Nationalismus ist mit Volksdemokratie unvereinbar. … Die Erziehung im Geiste des proletarischen Internationalismus und der Treue zur eigenen Heimat heißt vor allem, das Bewusstsein von der entscheidenden Wichtigkeit der fest gefügten Einheitsfront der Länder der Volksdemokratie und der großen Sowjetunion zum Kampf gegen die Offensive aggressiver Kräfte der internationalen Reaktion und des Imperialismus zu entwickeln und zu festigen. Die ganze Zukunft unseres Volkes hängt einerseits von der Macht der Sowjetunion und andererseits von der Bereitschaft und Fähigkeit unseres Volkes ab, im Falle einer kapitalistischen Aggression seine Pflicht im allgemeinen Kampf würdig zu erfüllen. Im Zusammenhang damit bedeutet die Erziehung im Geiste des proletarischen Internationalismus auch die Stärkung der Einsicht, wie wichtig die völlige Übereinstimmung der Handlungen der Kommunistischen Parteien und die führende Rolle der KPdSU(B) ist. Denn die kommunistischen Parteien haben eine einheitliche Theorie als Anleitung zum Handeln, die Theorie des Marxismus-Leninismus, sie haben ein einmütiges Ziel in ihrer Politik, es gibt die große Partei Lenins, die führende Partei der internationalen Arbeiterbewegung. … Das Verhältnis zur Sowjetunion ist gegenwärtig der entscheidende Trennungsstrich zwischen dem Lager der Demokratie und dem der Reaktion in der inter-nationalen Arena, zwischen den Kriegsbrandstiftern und den Anhängern eines dauerhaften demokratischen Friedens.“37
Wegen seiner Krankheit, die ihn im März 1949 aus der aktiven Arbeit herausriss, war Dimitroff an den Vorbereitungen des Prozesses gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten und Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Bulgariens, Traitscho Kostoff und seine Gruppe nicht mehr beteiligt. Durch den Prozess erfuhr die Öffentlichkeit, dass ebenso wie in Albanien und Ungarn englische und amerikanische Geheimdienste und die Belgrader Tito-Leute ein Agentennetz bis in die Partei- und Staatsführung hinein geknüpft hatten; mit seiner Hilfe sollte die Volksmacht gestürzt und Bulgarien als „7. Republik“ an Jugoslawien angeschlossen werden.
Der Hauptangeklagte Traitscho Kostoff konnte 1944, nach der Befreiung des Landes, in der nunmehr legalen und führend an der Macht beteiligten Kommunistischen Partei in eine Führungsposition aufsteigen, weil er – als leitender Funktionär der illegalen Partei, der 1942 zusammen mit sechs weiteren Genossen von der faschistischen bulgarischen Partei verhaftet, mit seinen Genossen vor Gericht gestellt und mit ihnen zum Tode verurteilt worden war -, als vermeintlich im Kampf bewährter Genosse das Vertrauen der Partei besaß. Dabei hatte sich damals offenbar keiner die Frage gestellt, wie es dazu kam, dass alle damals zum Tode Verurteilten auch hingerichtet wurden – außer ihm, der, obwohl er von allen die höchste Funktion in der illegalen Partei innegehabt hatte, zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden war. Er hatte der Partei verheimlicht, was jetzt im Prozess ans Tageslicht gefördert wurde, dass er nämlich, um den Misshandlungen und dem Todesurteil zu entgehen, sich schriftlich verpflichtet hatte, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Diese Verpflichtung wurde von den bulgarischen faschistischen Behörden an die Engländer, mit denen sie schon in Kriegszeiten geheime Kontakte geknüpft hatten, weitergegeben und von dem britischen Geheimdienstmann im Stabe der Alliierten Kontrollkommission für den Waffenstillstand mit Bulgarien, Oberst Bailey, im November 1944 dazu benutzt, Kostoff zur Zusammenarbeit mit ihm anzuwerben.38
Der Prozess begann am 7. Dezember 1949. Wie im Rajk-Prozeß in Budapest waren auch hier Pressevertreter aus sozialistischen und kapitalistischen Ländern und von bürgerlichen Presse-Agenturen als Prozessbeobachter zugelassen; darüber hinaus wurde der Prozess in Bulgarien auch durch Rundfunk übertragen. Die bürgerlichen Korrespondenten konnte ihren Redaktionen gleich am ersten Tage eine Sensation berichten: Der Hauptangeklagte Kostoff widerrief jene Teile seiner Aussagen in der Voruntersuchung, in denen er zugegeben hatte, mit der faschistischen bulgarischen Polizei, mit Tito und mit dem englischen Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben. Nach der Urteilsverkündung am 14. Dezember widerrief er jedoch seinen Widerruf und bat in einem Gnadengesuch um die Umwandlung des Todesurteils in lebenslängliche Haft.39 Natürlich wurde und wird bis heute von allen, die diese Prozesse als von den „Stalinisten“ inszenierte „Schauprozesse“ hinstellen, Kostoffs Widerruf als Beweis für die Richtigkeit dieser ihrer Darstellung angeführt.
Wir aber halten uns daran, die Aussagen und Geständnisse der Angeklagten an den Tatsachen zu überprüfen; und da kommt das gleiche Ergebnis heraus wie schon im Fall des Rajk-Prozesses. Das soll hier nur an einem Beispiel, den Aussagen Kostoffs über die jugoslawischen Absichten hinsichtlich der Nachkriegsgestaltung des Verhältnisses zur Sowjetunion, vorgeführt werden. Über ein Gespräch mit Eduard Kardelj, dem zweiten Mann nach Tito in der jugoslawischen Führung, Ende November 1944, berichtet Kostoff: „Kardelj teilte mir vertraulich mit, die Engländer und Amerikaner hätten den jugoslawischen Partisanen während des Krieges unter der Bedingung Waffen und Munition geliefert, dass Tito nach Kriegsende Jugoslawien von der UdSSR fernhalten und nicht zulassen werde, dass die Sowjetunion ihrem Einfluss in Jugoslawien, ja auf dem Balkan überhaupt, Geltung verschaffe. … Kardelj erklärte, die jugoslawische Regierung beabsichtige, die UdSSR zu bitten, dass die Sowjettruppen Jugoslawien verlassen sollten, so bald die Kampfhandlungen auf seinem Gebiet abgeschlossen sein würden. ´Dies ist aber nicht ausreichend´, so sagte mir Kardelj, ´die Sowjettruppen müssen auch Bulgarien verlassen, denn die Amerikaner und die Engländer sind außerordentlich daran interessiert, dass sich der sowjetische Einfluss südlich der Donau nicht durchsetzt.´ Kardelj bemerkte, dass Tito und überhaupt die ganze jugoslawische Leitung einen sofortigen Anschluss Bulgariens an Jugoslawien als bestes Mittel zur Erreichung dieses Ziels ansähen, wobei die unter den Völkern Jugoslawiens und Bulgariens äußerst populäre Idee einer Föderation der Südslawen im Interesse der jugoslawischen Leitung ausgenutzt werden könnte. ´Dann´, so erläuterte mir Kardelj, ´wird Bulgarien nicht länger als feindlicher Staat angesehen werden, es wird zum Bestandteil einer alliierten Macht werden, und die Anwesenheit sowjetischer Truppen auf seinem Territorium wird sich als überflüssig, als durch nichts gerechtfertigt erweisen.´ … Kardelj unterstrich, dass man sich auch aus anderen Gründen beeilen müsse, solange G. Dimitroff noch nicht nach Bulgarien zurückgekehrt sei, da uns seine Rückkehr zusätzliche Schwierigkeiten bereiten würde. ´Georgi Dimitroff wird selbstverständlich entschieden gegen die erwähnte außenpolitische Orientierung des Einheitsstaates sein. Außerdem´, so betonte Kardelj, ´sind die Jugoslawen unbedingt dafür, dass Tito in dem zusammengefassten Staat sowohl der politische als auch der militärische Führer sein wird, da sie einen Nationalhelden in ihm sehen, der auch in Bulgarien populär ist. Es wird besser sein´, so fügte Kardelj hinzu, ´wenn Dimitroff in Moskau bleibt.´“40
Über ein Gespräch mit dem britischen Geheimdienstoberst Bailey auf einem Empfang am Neujahrstag 1945 berichtete Kostoff: „Im Zusammenhang damit sagte mir Bailey, dass schon während des Krieges eine Vereinbarung über die Nachkriegspolitik Jugoslawiens zwischen Tito und den Engländern mit Zustimmung der Amerikaner getroffen worden sei. Tito habe die Verpflichtung übernommen, Jugoslawien von der UdSSR und deren Freunden in Ost- und Südosteuropa fernzuhalten und eine Politik durchzuführen, die den besonderen politischen und strategischen Interessen des englisch-amerikanischen Blocks auf dem Balkan entspreche. ´Als Gegendienst´, so erklärte Bailey, ´hat Tito während des Krieges großzügige Unterstützung von den Engländern und den Amerikanern erhalten und wird ebensolche Unterstützung auch in Zukunft bekommen.´“41
Und nun vergleichen wir diese Aussagen mit folgenden Ausführungen eines C.F. Melville in der britischen Zeitschrift „The Fortnightly“, Nr. 935 vom November 1944 (S. 293 f.) in einem Artikel, überschrieben „The Future of Yugoslavia“ („Die Zukunft Jugoslawiens“). Melville gehörte offenbar zu den ja nicht gerade seltenen Auslandskorrespondenten, die über einen direkten Draht zu den Geheimdiensten verfügen und deshalb Dinge „voraussagen“ können, deren Grundlagen im Dunkeln bleiben müssen. Bei Melville können wir lesen: „Die Idee einer eventuellen Föderation zwischen Jugoslawien und Bulgarien unter russischer Ägide auf der Grundlage einer großen Südslawischen Föderation, regiert von einem linksorientierten agrarischen politischen System (´Left-wing agrarian political regime´) ist nicht unmöglich. Aber es ist keinesfalls unvermeidlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen Bulgarien und Jugoslawien geben wird und dass die Bewegung in Richtung Einheit bis zu einer Zollunion gehen wird. Aber die Idee eines großen jugoslawisch-bulgarischen Blocks als einer spezifisch russischen Interessensphäre … ist eine, die den neuen jugoslawischen Führern nicht empfehlenswert ist (´is one which is not likely to commend itself to the new leaders of Yugoslavia´). … Marschall Tito und seine Genossen und das neue Jugoslawien, das sie schaffen, haben natürlich tiefe Sympathie für das neue Russland. Die Beziehungen zwischen beiden werden unvermeidlich enge und freundschaftliche sein. Aber das kräftige Gefühl der Unabhängigkeit, das jeden Jugoslawen erfüllt, wird es sicherlich nicht zulassen, dass das Land ein reiner Satellit Russlands wird. Das wird viel wahrscheinlicher mit Bulgarien als mit Jugoslawien der Fall sein. Die neuen Führer Jugoslawiens wollen eine Politik verfolgen, die auf Zusammenarbeit mit beiden, mit Russland und mit England beruht, und wahrscheinlich auch mit dem neuen Frankreich. Nach meiner Ansicht wäre es ein großer Fehler unsererseits, davon auszugehen, dass, während Griechenland natürlich unser
Freund auf dem Balkan bleiben wird, wir uns mit einem Jugoslawien unter russischer Vormundschaft abfinden müssten. Wir brauchen beide, Jugoslawien und Griechenland, als unsere Freunde auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer. Und es kann gesagt werden, dass weit vorausschauende Leute in Jugoslawien in gleicher Weise die Notwendigkeit der Freundschaft Großbritanniens empfinden. Nach dem Kriege wird Britannien viel tun können, um die Freundschaft zu pflegen und zu entwickeln, die durch die Waffenbrüderschaft zementiert wurde.“
Der Artikel Melvilles schildert im großen Überblick die Entwicklung der Zusammenarbeit Titos mit der militärischen und politischen Führung Englands und ist damit eines der frühesten publizistischen Zeugnisse dafür, wie stark der Einfluss der Briten und Churchills persönlich bereits damals auf die politischen Entscheidungen Titos war. Der Kostoff-Prozess hat das, was bei Melville nur andeutungsweise erkennbar ist, in Gänze ans Tageslicht gebracht.
Wylko Tscherwenkoff hat mit dem Kostoff-Prozess im Sinne Dimitroffs die sozialistische Ordnung Bulgariens verteidigt, sich damit aber – wie Rakosi – den unversöhnlichen Hass Titos und von dessen Freunden und Beschützern zugezogen. Am 16. April 1956 musste er seinen Rücktritt als Ministerpräsident erklären! Weshalb? Natürlich „wegen Fehlern“!
Zu den führenden hervorragenden Persönlichkeiten der internationalen Kommunistischen Bewegung und der sozialistischen Staaten gehören unbedingt auch Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Über ihre Rolle – vor allem diejenige Walter Ulbrichts – im Kampf gegen den Revisionismus wird in den Abschnitten des 2. Teils42 zu sprechen sein, die sich mit der Deutschen Demokratischen Republik beschäftigen.
Solange – wie noch 1953 – eine solche Phalanx hervorragender Führer kommunistischer Parteien gegen ein Abweichen der kommunistischen Bewegung vom marxistisch-leninistischen Kurs stand, mussten Chrustschows Ziele unerreichbar bleiben. Er musste deshalb nach Wegen suchen, sie von ihren Führungspositionen zu verdrängen, und zwar sowohl in der eigene Partei als auch in den Bruderparteien. In der KPdSU trat nach Stalins Tod die neue Führung zunächst als ein Kollektiv auf, mit der Begründung, kein einzelner von ihnen könne die Nachfolge der überragenden Persönlichkeit Stalins antreten, das könnte nur ein Führungskollektiv. In diesem ursprünglichen Kollektiv der wichtigsten Politbüro-Mitglieder rangierte Chrustschow erst an vorletzter Stelle, hinter dem Ministerpräsidenten G.N. Malenkow, der auf dem letzten, dem XIX. Parteitag 1952, anstelle Stalins den Rechenschaftsbericht gegeben hatte; auch hinter L. P. Berija, 1. Stellvertreter des Ministerpräsidenten und Innenminister, und hinter W.M. Molotow ebenfalls 1. Stellvertreter des Ministerpräsidenten und Außenminister. Erst dann kam Chrustschow als Sekretär des Zentralkomitees und als letzter N. A. Bulganin, stellvertretender Ministerpräsident und Verteidigungsminister. Aber es dauerte nur fünf Jahre, und von der „kollektiven Führung“ war nur noch Chrustschow übrig geblieben. Die Stufen zu seiner Ein-Mann-Führung sahen so aus:
Sommer 1953: Auf Initiative vor allem Chrustschows wurde Berija verhaftet und auf dem Juli-Plenum des ZK von 1953 in seiner Abwesenheit beschuldigt, ein imperialistischer Agent und Spion zu sein, es wurde beschlossen, ihn aus der KPdSU auszuschließen und dem Gericht zu übergeben. Das ist nach offiziellen Angaben geschehen und endete im Dezember 1953 mit einem Todesurteil und seiner Erschießung.
Nächste Stufe: Im Februar 1955 wird Malenkow als Ministerpräsident „wegen Mängeln in der Arbeit“ abgesetzt. Sein Nachfolger wird der bisherige Verteidigungsminister Bulganin. Aber auch er bleibt nicht lange Chef der Regierung.
Letzte Stufe, März 1958: Bulganin wird als Ministerpräsident von Chrustschow abgelöst. Der vereinigt jetzt in seinen Händen die Führung der Partei und des Staates, verfügt also über eine Machtfülle wie vor ihm nur Stalin. Er konnte nun – was die Situation im Innern betraf – davon ausgehen, dass ihm niemand mehr unüberwindliche Hindernisse in den Weg stellen konnte, zumal seine gefährlichsten Gegner, Molotow und Kaganowitsch, ihm durch einen Versuch, ihn durch einen Mehrheitsbeschluss des Parteipräsidiums abzusetzen, die Möglichkeit gegeben hatten, den Spieß umzudrehen. Zunächst hatte die Präsidiumsmehrheit in einer Sitzung im Juni 1957 in der Tat Chrustschow für abgesetzt erklärt; aber eine sofort von dessen Leuten einberufene ZK-Tagung hatte nun ihrerseits seinem Antrag auf Ausschluss Molotows und Kaganowitschs aus dem Politbüro und dem ZK zugestimmt. Chrustschow ließ 1961 beide auf dem XXII. Parteitag auch aus der Partei ausschließen.
Chrustschows Wünschen, auch mögliche harte Gegner seines Kurses an der Spitze der Bruderparteien durch Leute seiner Wahl ersetzt zu sehen, kam das Schicksal – oder wie man das bezeichnen mag -, durch einige plötzliche Todesfälle entgegen.
Am 14. März 1953 starb im Alter von 57 Jahren Klement Gottwald an den Folgen einer Erkältung, die er sich in Moskau bei den Trauerfeierlichkeiten für Stalin zugezogen hat, wie es in einer offiziellen Verlautbarung hieß. (ND vom 15.3.1953)
Am 12. März 1956 starb im Alter von 66 Jahren Boleslaw Bierut in Moskau, wo er am XX. Parteitag teilgenommen hat, an einem Herzinfarkt. (Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie, Nr. 11, 1956.) Damit wurde der Weg frei für die Rückkehr Gomulkas an die Spitze der Partei, die er schon einmal bis 1948 als Generalsekretär der Polnischen Arbeiterpartei inne gehabt hatte.
Am 11. Juli 1964 starb Maurice Thorez im Alter von 64 Jahren an Bord des sowjetischen Schiffes „Litwa“ auf einer Urlaubsreise an Herzschlag. (ND vom 13.7.1964).
Am 24. August 1964 starb Palmiro Togliatti im Alter von 71 Jahren nach seiner Ankunft in Jalta, wo er an einer Konferenz teilnehmen wollte, für die er ein umfangreiches Memorandum ausgearbeitet hatte zu den Fragen, die auf der Konferenz behandelt werden sollten. Darin sprach er sich auch ausdrücklich gegen die Absichten aus, die KP Volkschinas aus den Reihen der kommunistischen Parteien auszuschließen. Das richtete sich, ohne ihn zu nennen, gegen Chrustschow, zu dessen Konferenzzielen es gehört hatte, die Zustimmung aller anderen teilnehmenden Parteien zum völligen Bruch mit der KP Volkschinas zu erlangen. Die KP Italiens veröffentlichte das Memorandum Togliattis und fügte ihm eine Erklärung an, in der es unter anderem hieß: „Das Memorandum … wurde vom Genossen Togliatti wenige Stunden, bevor ihn die tödliche Krankheit für immer niederwarf, fertig gestellt. … Auch seine letzte Schrift … bezeugt, dass sich Genosse Togliatti bis zum letzten Augenblick mit Kraft und Klarheit der Arbeit widmete. Nichts lässt das Eintreten der schrecklichen Krankheit vorausahnen…“43
Im März 1953 waren noch alle diese hervorragenden kommunistischen Führer auf ihren Posten, und es ist schon sehr bezeichnend, dass das erste Land und der erste Mann, die zu spüren bekamen, dass aus Moskau jetzt ein anderer Wind wehte, das Land war, das von seinem imperialistischen Nachbarn als sein eigenes Staatsgebiet beansprucht und damit am meisten gefährdet war, nämlich die Deutsche Demokratische Republik, und der Mann, der von den Feinden der DDR am meisten gehasst und ihren massivsten Angriffen ausgesetzt war – Walter Ulbricht, weil er der härteste Widersacher aller Versuche war, die DDR vom Wege des Sozialismus abzudrängen. Er stand damit – wie sich zeigte – auch jenen Leuten in Moskau im Wege, deren Exponent damals, einer Auskunft Molotows zufolge, Berija war. Molotow berichtet über eine Besprechung im Politbüro der KPdSU im Frühjahr 1953 über die Situation in der DDR. Dort habe Berija den Standpunkt vertreten: „Wozu muss man in der DDR Sozialismus machen, wenn sie nur ein friedliches Land ist, genügt uns das; was für ein Land, das ist dann unwichtig.“ Molotow trat – seinem Bericht zufolge – Berija entschieden entgegen und erklärte, er hielte es für sehr wichtig, welchen Weg die DDR beschreite, sie sei ein hoch entwickeltes kapitalistisches Land im Zentrum Europas und obwohl nur ein Teil Deutschlands, hänge vieles von ihr ab. Deshalb müsse fester Kurs auf den Aufbau des Sozialismus gehalten werden, jedoch ohne sich zu übereilen.44 Dieser Besprechung im Politbüro der KPdSU folgte eine Einladung an Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Fred Oelßner zu einer „Beratung“ nach Moskau. Bei dieser „Beratung“, die in Wahrheit einem Befehlsempfang gleichkam,45 wurde den Genossen aus Berlin ein fertiges Dokument in die Hand gedrückt mit der Überschrift: „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik“, in dem alle Maßnahmen der Partei und der Regierung der DDR der letzten Monate, – die zu einem großen Teil auf Empfehlungen und Forderungen der Sowjetischen Kontroll-Kommission (SKK) zurückgingen! – für falsch und fehlerhaft erklärt wurden, und verlangt wurde, sie rückgängig zu machen. Verlangt wurde auch, alle landwirtschaftlichen Genossenschaften aufzulösen, „die sich als lebensunfähig gezeigt haben“, in der DDR seien nur einfache Formen der Genossenschaften lebensfähig, in der der Boden gemeinsam bearbeitet würde, „ohne dass die Produktionsmittel vergesellschaftet werden“. Die Forderung nach Auflösung der „lebensunfähigen“ Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurde in der DDR dank Walter Ulbrichts und der Mehrheit des ZK der SED nicht durchgeführt; – diese Forderung aber entsprach genau dem, was Gomulka in Polen praktizierte, nachdem er im Oktober 1956 mit Chrustschows Hilfe an die Macht gehievt worden war; er hat damit neun Zehntel der bestehenden Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften liquidiert und die Landwirtschaft Polens mit der Verewigung zwerghafter Familienbetriebe so sehr auf den Hund gebracht, dass die jetzigen konterrevolutionären Regierungen Polens mit dieser Landwirtschaftsstruktur die allergrößten Schwierigkeiten haben mit der „Europäischen Union“. Aber was Gomulka 1956 an konterrevolutionärer Landwirtschaftspolitik betrieb, das war – wie das sowjetische Dokument von 1953 zeigt -, durchaus kein original polnisches Gewächs, sondern der allgemeingültige revisionistische Weg zur Verhinderung des Sozialismus in der Landwirtschaft, den die Chrustschow-Führung den sozialistischen Ländern aufzuzwingen versuchte.
Doch zurück zur DDR. Nach ihrer Rückkehr aus Moskau stand die Führung der SED vor der aufgezwungenen Aufgabe, den Moskauer Forderungen entsprechende Maßnahmen durchzuführen und sie dem Partei- und dem Staatsvolk plausibel zu erklären. Aber auch dafür ließen ihnen die neuen Männer in Moskau keinen Freiraum. Der am 27. Mai 1953 – nach Auflösung der SKK – zum „Hohen Kommissar“ der Sowjetunion in der DDR ernannte W.S. Semjonow verlangte von der SED-Führung einen Wortlaut des Kommuniques, mit dem der „neue Kurs“ verkündet werden sollte, von dem der zu seiner Abfassung verurteilte Rudolf Herrnstadt sagte: obwohl er es nach den gegebenen Anweisungen selbst geschrieben habe, könne er seiner Veröffentlichung nicht zustimmen; es würde „eine nicht zu verantwortende Schockwirkung in der Partei und in der Öffentlichkeit hervorrufen, die Partei desorientieren und erbittern und dem Gegner die Flanke öffnen“. Walter Ulbricht und Otto Grotewohl, denen er seine Bedenken mitteilte, waren genau der gleichen Ansicht. In einer Unterredung mit Semjonow sagte Herrnstadt dem dann auch: „So darf man den Kurswechsel nicht einleiten. Das Kommunique kann nur Verwirrung stiften.“ Darauf Semjonow: „Das Kommunique muss morgen in der Zeitung stehen.“ Herrnstadt hatte dennoch versucht, Semjonow umzustimmen, indem er ihm sagte: „Geben Sie uns 14 Tage, und wir können den Kurswechsel so überzeugend und fortreißend begründen, dass wir mit ihm in die Offensive gehen und nicht der Gegner.“ Darauf gab Semjonow „sehr scharf und von oben herab“ die geradezu ungeheuerliche Antwort: „In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.“46 So erschien das Kommunique dann am 11. Juni 1953 und tat genau die von Herrnstadt, Ulbricht und Grotewohl vorhergesehene und befürchtete Wirkung: es „desorientierte und erbitterte die Partei und öffnete dem Gegner die Flanke“. Diese Vorgänge und die zitierte Antwort Semjonows sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass es bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, nur drei Monate nach Stalins Tod, in der neuen Führung Leute gab, die mit dem Gedanken spielten, die DDR der BRD preiszugeben – gegen entsprechende Gegenleistungen, versteht sich.
Und wenn schon das nicht gelang, dann sollte der 17. Juni wenigstens dazu ausgenutzt werden, Walter Ulbricht zu stürzen. In den heftigen Diskussionen im Politbüro und im Zentralkomitee wurde von verschiedenen Genossen sein Rücktritt gefordert, und Herrnstadt brachte den Vorschlag ein, als neuen 1. Sekretär Wilhelm Zaisser, damals Minister für Staatssicherheit, zu wählen. Dieser Vorschlag war offenbar mit einigen Leuten im Moskauer Politbüro abgestimmt, war doch Berija als Chef der sowjetischen Staatssicherheit Zaissers sowjetischer übergeordneter Amtskollege. Heinz Brandt, zur Zeit des 17. Juni 1953 noch Sekretär für Agitation und Propaganda in der Bezirksleitung Berlin der SED, später Überläufer und eines der für manchen noch so sehr notwendigen Beispiele dafür, dass einer ein Feind sein und dennoch jahrelang im Parteiapparat in hoher verantwortlicher Position unerkannt bleiben und als zuverlässiger Genosse gelten kann, – dieser durch seine Funktion gut informierte Heinz Brandt schrieb in einem Buch über die Situation im Juni 1953: „Der Kreml verlangte ultimativ, dass die bisherige SED-Politik liquidiert werde, er verlangte sogar einen Wechsel in der Führung, er war bereit, die DDR eventuell sogar aufzugeben, um über Churchills Mittlerrolle zu einem Agreement mit den USA zu gelangen. Es hatte sich eine einmalige Konstellation für die demokratische und friedliche Wiedervereinigung Deutschlands ergeben, für die katastrophenlose Liquidierung des unseligen ´sozialistischen´ DDR-Abenteuers.“47 Der gleiche Heinz Brandt ließ am 23. April 1981 in einer Sendung des RIAS mit dem Titel „Die DDR vor der Mauer“ wissen, dass Semjonow am 9. Juni schon eine neue Liste für das Politbüro fertig hatte, mit Herrnstadt an der Spitze. Dieser erste, aber keineswegs letzte Versuch, Walter Ulbricht zu stürzen, schlug fehl, nicht zuletzt deshalb, weil sein damaliger Hauptbetreiber in der sowjetischen Parteiführung, der Inspirator und Schutzherr Zaissers, Berija, gerade in diesen Tagen in Moskau selbst gestürzt wurde. Kurzum, so früh hatten wir es schon mit dem ersten Fall der Bereitschaft der neuen Führung in Moskau zur Preisgabe der DDR und mit dem Versuch, Ulbricht zu stürzen, zu tun. Das ist wichtig zu wissen, um den weiteren Verlauf der Dinge in der DDR besser zu verstehen.
Zwei Jahre später, im Mai 1955, führte Chrustschow einen Streich, der sich gegen die gesamte kommunistische Bewegung richtete und darauf abzielte, vom Tito-Revisionismus den Stempel der Abtrünnigkeit zu entfernen, der ihm zurecht mit dem Beschluss des Informationsbüros der Kommunistischen und Arbeiterparteien von 1948 aufgedrückt worden war und der sich als eine wirksame Schutzimpfung gegen die Ausbreitung der revisionistischen Krankheit bewährt hatte. Dieser Streich war ferner darauf berechnet, den revisionistischen Kräften in den kommunistischen Parteien und in den sozialistischen Ländern, deren Wirkungsmöglichkeiten durch diesen Beschluss sehr eingeengt worden waren, nun ungehinderte Betätigungsmöglichkeiten und womöglich noch – als „zu Unrecht Verfolgten“ – eine privilegierte Position zu verschaffen. Dieser Streich kam also einer vorsätzlichen Infizierung des kommunistischen Organismus mit einer lebensgefährlichen Krankheit gleich.
Es handelt sich dabei um die Erklärung, mit der Chrustschow bei seinem Besuch Jugoslawiens an der Spitze einer sowjetischen Delegation im Mai 1955 die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Jugoslawien begründete. Er tat das mit einer Erklärung, die – wie er das immer wieder zu tun beliebte – von dem ihm Aufgetragenen in einer Weise abwich, durch die schädliche, aber ohne schwerwiegende Komplikationen kaum wieder zurückzunehmende Fakten geschaffen wurden; in diesem Falle mit einer Erklärung über die Ursachen des Zwistes zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion, die die Wahrheit dreist auf den Kopf stellte.
In seiner Begrüßungsansprache auf dem Flugplatz in Belgrad am 26. Mai erklärte er nämlich dem „Teuren Genossen Tito“, dass diese Entzweiung ganz allein von der sowjetischen Seite ausgegangen sei; wörtlich: „Wir haben eingehend die Materialien überprüft, auf denen die schweren Anschuldigungen und Beleidigungen beruhten, die damals gegen die Führer Jugoslawiens erhoben wurden. Die Tatsachen zeigen, dass diese Materialien von Volksfeinden, niederträchtigen Agenten des Imperialismus, fabriziert waren, die sich durch Betrug in die Reihen unserer Partei eingeschlichen hatten.“48 Das wagte er zu sagen, obwohl er und die ganze Welt wusste, dass der „Teure Genosse Tito“ sein Land 1953 in den imperialistischen Balkanpakt hineingezogen hatte und Jugoslawien mitten im Kalten Krieg der USA gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten von den USA mit Waffen beliefert wurde, natürlich nicht, ohne dass die sich die Kontrolle über deren Verwendung vorbehielten.49 Seine Flugplatzerklärung war eine wohl berechnete Lüge, welche die „Schutzimpfung“ der Erklärung von 1948 wirkungslos machen sollte und in der Tat – wie wir schon gesehen haben – auch gemacht hat.
Wie gewissenlos dieser Mann an der Spitze der KPdSU diese für die sozialistische Welt lebensgefährliche Lüge vorbrachte, wird besonders deutlich durch die Selbstwiderlegung, zu der er sich drei Jahre später gezwungen sah, um seine Position zu behaupten, nachdem sich Tito als Mitinitiator der Konterrevolution in Ungarn 1956 erwiesen hatte und dadurch in der ganzen kommunistischen Bewegung der Revisionismus als die Hauptgefahr erkannt worden war. Jetzt, zum Aussprechen der Wahrheit gezwungen, hörte man von ihm auf dem VII. Parteitag der KP Bulgariens im Juni 1958 dies: „Besonders gefährlich für die revolutionäre Bewegung sind diejenigen, die sich selbst Marxisten-Leninisten nennen, in Wirklichkeit aber, ob sie es wollen oder nicht, die Rolle einer Agentur des Klassenfeindes in der Arbeiterbewegung spielen.“ Damit hatte er – natürlich ohne das zu beabsichtigen – ein treffendes Selbstportrait gezeichnet! Sein Text geht dann wie folgt weiter: „Der moderne Revisionismus ist eine Art trojanisches Pferd. Die Revisionen versuchen, die revolutionären Parteien von innen zu zersetzen, die Einheit zu unterminieren und Verwirrung und Durcheinander in die marxistisch-leninistische Ideologie zu tragen. Im Jahre 1948 nahm die Konferenz des Informbüros eine Resolution ´Über die Lage in der KP Jugoslawiens´ an, die eine berechtigte Kritik an der Tätigkeit der KP Jugoslawiens in einer Reihe prinzipieller Fragen enthielt. Diese Resolution war im wesentlichen richtig und entsprach den Interessen der revolutionären Bewegung.“50
Chrustschow konnte sich nun, im Juni 1958, zu dieser Selbstwiderlegung umso leichter bereit finden, als er sicher sein konnte, dass dadurch die mit der Lüge von 1955 beabsichtigten und erreichten verhängnisvollen Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten, nämlich die Besetzung der Spitzen der polnischen und der ungarischen Partei mit neuen Führern nach Chrustschows und Titos Wahl in der Person Gomulkas, Imre Nagys und Kadars, sowie die Erzeugung einer Massenstimmung des Misstrauens gegen die alten Führer, ohne die es der Konterrevolution 1956 in Polen und Ungarn nicht gelungen wäre, große Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.
Wir sagten vorhin, dass Chrustschows Unschuldserklärung für Tito von 1955 darauf berechnet war, die Schranken gegen das Eindringen des Revisionismus in die Reihen der wirklichen kommunistischen Parteien niederzulegen. Jeder Mensch, der über normales Denkvermögen verfügt, musste sich nach dieser Erklärung sagen: Wenn Tito zu Unrecht beschuldigt wurde, ein Agent des Imperialismus zu sein, dann sind auch alle jene zu Unrecht beschuldigt, denen „Titoismus“ vorgeworfen wurde oder die als Tito-Agenten vor Gericht gestellt und zu Zuchthaus oder gar zum Tode verurteilt wurden, wie Rajk in Ungarn, Kostoff in Bulgarien, Slansky in der Tschechoslowakei und Koci Xoxe in Albanien. Und dann sind die in diesen Ländern an der Spitze der Partei und des Staates stehenden Führer – die Bierut, Gottwald, Rakosi, Tscherwenkoff und Hodscha und weitere – nicht mehr vertrauenswürdig, sondern des Mordes an Unschuldigen schuldig.
All diese Verdächtigungen und Beschuldigungen hätten nie erhoben werden können, hätte Chrustschow nicht erst 1958, sondern schon 1955 die Wahrheit über die Rolle Titos und des Revisionismus als trojanisches Pferd des Imperialismus ausgesprochen. Aber was hatte er 1958 so treffend über die Absichten der Revisionisten ausgeführt?
„Die Revisionisten versuchen, die revolutionären Parteien von innen zu zersetzen, die Einheit zu unterminieren und Verwirrung und Durcheinander in die marxistisch-leninistische Ideologie zu tragen.“ Wer hätte das präziser formulieren können als er selbst, der Meister dieses schmutzigen Handwerks! (Starker Beifall)
Vortrag, gehalten auf der Konferenz „50 Jahre DDR – Für Sozialismus und Frieden – Zur Verteidigung des revolutionären Erbes“, Berlin, 20. und 21. November 1999. Veröffentlicht in “ Auferstanden aus Ruinen – Über das revolutionäre Erbe der DDR“, 20./21. November 1999: 50 Jahre DDR – Für Sozialismus und Frieden – Konferenz zur Verteidigung des revolutionären Erbes, Hrsg: „Offensiv“, S. 148-184
In diesem ersten Teil, einem Vortrag, gehalten auf der Konferenz „50 Jahre DDR – Für Sozialismus und Frieden – Zur Verteidigung des revolutionären Erbes“ (Berlin, 20. und 21. November 1999), geht es vor allem um die Entwicklung des Revisionismus in der Sowjetunion und den sozialistischen Länder Osteuropas. Kurt Gossweiler beabsichtigt, sobald es ihm die Umstände erlauben, in einem zweiten Teil die Entwicklung in der DDR und der SED zu behandeln. Der zweite Teil soll laut Ankündigung von „Offensiv“ in einem Sonderheft veröffentlicht werden. (Anmerkung der Redaktion von www.kurt-gossweiler.de)
Ausführliches dazu im Abschnitt „Wider den Chrustschow-Revisionismus“ in meinem Buche „Wider den Revisionismus“, Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung – Stefan Eggerdinger Verlag, München 1997, S. 37ff.
Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung. Das Plenum des ZK der KPdSU, Juli 1953, Berlin, 1993, bes. ab S. 331.
Sahra Wagenknecht: Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung. Zwei Taktiken im Kampf gegen die sozialistische Welt, Pahl-Rugenstein Nachfolger, Bonn 1995, S. 34.
Vortrag am 2. Mai 1993: Stärken und Schwächen der SED gegen den Revisionismus, in: Kurt Gossweiler, „Wider den Revisionismus“, S. 341ff
Vortrag am 12.1.1991: Hatte der Sozialismus nach 1945 keine Chance? In: Wider den Revisionismus, S. 289ff.
Kurt Gossweiler: Bemerkungen zu Fred Müllers „Würdigung und Schluss der Debatte“ in ´Offensiv´ 1/99″, in „offensiv“ 4/99 (irrtümlich „4/98“ ausgedruckt), S. 39ff.
N.S. Chrustschow, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag, Berlin 1956, S. 46.
Erster Teil aus: Togliatti über Probleme des XX. Parteitages, in: Bayrisches Volksecho v. 25.Juni 1956; der letzte Teil aus: Palmiro Togliatti zur Stalin-Frage, in UZ (Unsere Zeit) v. 6. Oktober 1988.
Zusammengestellt aus: Karl Peters, Polen und der Weg zum Sozialismus, in Einheit, Theoretische Zeitschrift der SED, Nr. 11/1948, S. 1058 ff. Ferner: Informationsbulletin des Zentralkomitees der PVAP Auslandsabteilung Nr. 1-2, Januar-Februar 1952, Artikel v. Franciszek Jozwiak-Witold: Zum 10. Jahrestag der Gründung der Polnischen Arbeiterpartei.
Laszlo Rajk und Komplicen vor dem Volksgericht, Dietz Verlag Berlin 1949, S. 156.
Titos Pula-Rede ist nachzulesen in: Archiv der Gegenwart vom 19. November 1956, S. 6105-6110.
Klement Gottwald, Bericht auf der Tagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei am 22. Februar 1951, Dietz Verlag Berlin 1951, S. 10, 32, 37 ff.
Klement Gottwald, Zu einigen innerparteilichen Fragen der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Rede auf der Tagung des ZK der KPC vom 6. Dezember 1951, Dietz Verlag Berlin, 1952, S. 3f, 15.
Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Versschwörungszentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze, Gerichtsprotokoll. Justizministerium der CSR, 1953, S. 663 ff.
A.Y. Wyschinski, stellv. Außenminister der UdSSR, im Sommer 1948 über die Beziehungen Jugoslawiens zur Sowjetunion: „Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland wurden zwischen der Sowjetunion und Jugoslawiens die brüderlichsten Beziehungen hergestellt, es wurden wichtige Beschlüsse gefasst, Jugoslawien wirtschaftlich, militärisch und politisch in der internationalen Arena zu helfen, das wir als einen unserer treuesten und ideologischen Verbündeten betrachteten.“ Zitiert in: Enver Xoxha, Die Titoisten, Tirana 1983, S. 587.
Ausführlich dazu: Enver Hoxha, Die Titoisten, S. 301-556.
Ausführlich dazu: Ebenda, S. 557-632.
Zitiert aus: Klaus Steiniger, Tops und Flops. Die Geschäfte der USA-Geheimdienste, Berlin 1998, S. 38f. (Hervorhebungen von mir, K.G.)
Zitiert aus: Laszlo Rejk und Komplizen vor dem Volksgericht, Berlin 1949, S. 193, 195 ff
Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie!, Nr. 27/1953. Im Sender „SFB“ wurde am 15.6.1983 in einer Sendung berichtet, Chrustschow habe von Rakosi die Ernennung Imre Nagys zum Ministerpräsidenten verlangt.
Für dauerhaften Frieden,… Nr. 28/1953
Für dauerhaften Frieden,…, Nr. 10/1955
Archiv der Gegenwart, S. 5292
Für dauerhaften Frieden…, Nr. 50/1955
Neues Deutschland v. 24.7.1956
Archiv der Gegenwart, S. 6106
Archiv der Gegenwart vom 4. November 1956, S. 6069
Ebenda, S. 6068
Ebenda, S. 6070. Zur Konterrevolution in Ungarn siehe auch die vier Hefte des Informationsbüros des Ministerrates der Ungarischen Volksrepublik: Die konterrevolutionären Kräfte bei den Oktoberereignissen in Ungarn; ferner: Die konterrevolutionäre Verschwörung von Imre Nagy und Komplizen. Dieser vom gleichen Büro herausgegebene Band enthält einen großen Teil der Materialien des Prozesses gegen Imre Nagy.
Archiv der Gegenwart, S. 6069
ebenda
Hans Adler, Zwischen Kairo und Budapest. Die Geschichte einer Verschwörung. Berlin 1957, S. 84f.
Archiv der Gegenwart, S. 6071
Die jugoslawische Version der Entführung Nagys und der mit ihm in die jugoslawische Botschaft Geflüchteten und der jugoslawische Protest ist im „Archiv der Gegenwart“, S. 6117f. wiedergegeben.
Im Deutschlandfunk wurde am 16.6.1983 in der Frühsendung 8.30 Uhr behauptet, Kadar habe sich vergeblich darum bemüht, das Todesurteil gegen Nagy zu verhindern.
Georgi Dimitroff, Ausgewählte Schriften, Db. 3, Berlin 1958, S. 567 f., 601 f., 605 f.
Traitscho Kostoff und seine Gruppe, Berlin 1951, S. 35 f., 93 f.
ebenda, S. 76-82, 639 f., 653 f.
Ebenda, S. 96 ff.
Ebenda, S. 105.
Siehe Anm. 1
Neues Deutschland vom 12. 9. 1964
Feliks Tschujew, 140 Gespräche mit Molotow, (russ.), Moskau 1991, S. 332-336
siehe dazu: Kurt Gossweiler, Hintergründe des 17. Juni 1953, in: Wider den Revisionismus, S. 47 ff.
Rudolf Herrnstadt, Das Herrnstadt-Dokument, hgg. von Nagja Stultz-Herrnstadt, rororo aktuell, 1990, S. 72-74
Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. Frankfurt/M, 1985, S. 208
Siehe: Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, S. 362
Siehe: Kurt Gossweiler, Einige Daten zur Rolle Tito-Jugoslawiens zwischen West und Ost, in: Offensiv 7/99, S. 39 f.
Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, S. 363. Hervorhebung von mir, K.G.
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