‚Prawda‘, Nr. 27, 3. Februar 1925

Stalins Ratschläge an die KPD

Stalin im Gespräch mit dem Mitglied der KPD Wilhelm Herzog, 3. Februar 1925

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Frage (Herzog):

Schätzen Sie die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der demokratisch-kapitalistischen Republik Deutschland so ein, dass die Arbeiterklasse in einer mehr oder minder nahen Zukunft den Kampf um die Macht führen muss?

Antwort (Stalin):

Es ist schwer, diese Frage mit strikter Entschiedenheit zu beantworten, wenn es sich um Termine und nicht um die Tendenz handelt. Er braucht nicht erst bewiesen zu werden, dass die gegenwärtige Situation sich sowohl den internationalen als auch den inneren Bedingungen nach wesentlich von der Situation des Jahres 1923 unterscheidet. Das schließt jedoch nicht aus, dass sich die Situation in Anbetracht der Möglichkeit ernster Veränderungen in der äußeren Lage in der nächsten Zeit schroff zugunsten der Revolution ändern kann. Die Labilität der internationalen Lage ist eine Garantie dafür, dass diese Annahme sich als durchaus wahrscheinlich erweisen kann.

Frage:

Wird in Anbetracht der gegebenen ökonomischen Lage und der gegebenen Kräfteverhältnisse bei uns eine längere Vorbereitungsperiode notwendig sein, um die Mehrheit des Proletariats zu gewinnen – eine Forderung, die Lenin den kommunistischen Parteien aller Ländern als eine äußerst wichtige, vor der Eroberung der politischen Macht zu lösende Aufgabe stellte?

Antwort:

Insofern es sich um die ökonomische Lage handelt, kann ich die Angelegenheit nur anhand der allgemeinen Angaben einschätzen, über die ich verfüge. Ich denke, dass der Dawes-Plan schon einige Resultate gezeitigt hat, die zu einer relativen Stabilität der Lage geführt haben. Das Eindringen amerikanischen Kapitals in die deutsche Industrie, die Stabilisierung der Valuta, die Verbesserung einer der wichtigsten Bereiche der deutschen Industrie – was keineswegs eine gründliche Gesundung der deutschen Wirtschaft bedeutet – endlich eine gewisse Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiterklasse – all das musste zu einer gewissen Festigung der Positionen der Bourgeoisie in Deutschland führen. Das ist sozusagen die ‚positive‘ Seite des Dawes-Plans.

Aber der Dawes-Plan hat auch noch ‚negative‘ Seiten, die sich in einem bestimmten Zeitabschnitt unvermeidlich zeigen und die ‚positiven‘ Resultate dieses Plans zunichtemachen müssen. Zweifellos bedeutet der Dawes-Plan für das deutsche Proletariat eine doppelte Presse durch das Kapital, eine innere und eine äußere. Der Widerspruch zwischen der Erweiterung der deutschen Industrie und der Einengung des Feldes der Außenmärkte für diese Industrie, das Missverhältnis zwischen den übermäßigen Forderungen der Entente und den begrenzten Möglichkeiten der Befriedigung dieser Forderungen durch die deutsche Volkswirtschaft – all das verschlechtert unvermeidlich die Lage des Proletariats, der kleinen Bauern, der Angestellten und der Intelligenz und muss somit zur Explosion, zum direkten Kampf des Proletariats um die Machtergreifung führen.

Aber dieser Umstand darf nicht als die einzige, für die deutsche Revolution günstige Voraussetzung angesehen werden. Für den Sieg diese Revolution ist außerdem notwendig, dass die Kommunistische Partei die Mehrheit der Arbeiterklasse vertritt, dass sie zur entscheidenden Kraft in der Arbeiterklasse wird. Es ist notwendig, dass die Sozialdemokratie entlarvt und geschlagen wird, dass sie zu einer verschwindenden Minderheit in der Arbeiterklasse herabgedrückt wird. Ohne dies ist an die Diktatur des Proletariats gar nicht zu denken. Damit die Arbeiter siegen können, muss sie EIN Wille beseelen, muss sie EINE Partei führen, eine Partei, die das unbestrittene Vertrauen der Mehrheit der Arbeiterklasse besitzt. Wenn es innerhalb der Arbeiterklasse zwei miteinander konkurrierende gleich starke Parteien gibt, dann ist selbst bei günstigen äußeren Bedingungen ein dauerhafter Sieg unmöglich. Lenin war der erste, der in der Periode vor der Oktoberrevolution hierauf, als auf der absolut notwendigen Voraussetzung des Sieges des Proletariats besonders bestand.

Als die für die Revolution günstigste Lage könnte man eine solche Lage ansehen, bei der die innere Krise in Deutschland und das entschiedene Wachstum der Kräfte der Kommunistischen Partei mit ernstlichen Komplikationen im Lager der äußeren Feinde Deutschlands zusammenfallen würde.

Ich denke, dass das Fehlen dieses letzten Umstands in der revolutionären Periode des Jahres 1923 bei weitem nicht die letzte negative Rolle gespielt hat.

Frage:

Sie sagten, dass die KPD die Mehrheit der Arbeiter hinter sich haben muss. Diesem Ziel wurde bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Was muss man Ihrer Meinung nach tun, um die KPD in eine solche tatkräftige Partei mit progressiv wachsender Werbekraft zu verwandeln?

Antwort:

Manche Genossen meinen, die Partei festigen und sie bolschewisieren bedeute, alle Andersdenkenden aus der Partei hinauszujagen. Das ist natürlich falsch. Die Sozialdemokratie kann nur im Verlaufe des tagtäglichen Kampfes für die konkreten Bedürfnisse der Arbeiterklasse entlarvt und zu einer verschwindenden Minderheit in der Arbeiterklasse hinabgedrückt werden. Die Sozialdemokratie muss angeprangert werden, nicht auf der Grundlage von fernliegenden  Fragen, sondern auf der Grundlage des tagtäglichen Kampfes der Arbeiterklasse für die Verbesserung ihrer materiellen und politischen Lage, wobei die Fragen des Arbeitslohns, des Arbeitstages, der Wohnverhältnisse, der Versicherung, der Steuern, der Arbeitslosigkeit, der Verteuerung der Lebenshaltung usw. eine überaus ernste, wenn nicht die entscheidende Rolle spielen müssen. Den Sozialdemokraten Tag für Tag auf der Grundlage dieser Fragen Schläge versetzen und ihren Verrat aufdecken – das ist die Aufgabe.

Diese Aufgabe wäre jedoch restlos gelöst, wenn die Fragen der alltäglichen Praxis nicht mit den grundlegenden Fragen der internationalen und der inneren Lage Deutschlands verknüpft würden und wenn diese ganze alltägliche Arbeit nicht in der gesamten Arbeit der Partei vom Standpunkt der Revolution und der Eroberung der Macht durch das Proletariat beleuchtet würde.

Eine solche Politik kann jedoch nur eine Partei durchführen, an deren Spitze ein Stamm von Führern steht, die genügend erfahren sind, um alle und jegliche Blößen der Sozialdemokratie für die Stärkung ihrer Partei auszunutzen, und die genügend theoretisch geschult sind, um bei Teilerfolgen nicht die Perspektive der revolutionären Entwicklung zu verlieren.

Damit erklärt sich auch hauptsächlich, dass die Frage der führenden Kader der kommunistischen Partei überhaupt, darunter auch der Deutschen Kommunistischen Partei, eine der wesentlichen Fragen des Prozesses der Bolschewisierung darstellt.

Um die Bolschewisierung durchzuführen, ist es notwendig, wenigstens einige grundlegende Voraussetzungen zu schaffen, ohne die überhaupt eine Bolschewisierung der kommunistischen Partei unmöglich ist.

Es ist notwendig, dass die Partei sich nicht als Anhängsel des parlamentarischen Wahlapparats betrachtet, wie es im Grunde genommen die Sozialdemokratie tut, und auch nicht als Gratisbeilage zu den Gewerkschaften, wovon zuweilen gewisse anarcho-syndikalistische Elemente faseln, die berufen ist, alle übrigen Formen der proletarischen Organisationen, von den Gewerkschaften bis zur Parlamentsfraktion, zu führen.

Es ist notwendig, dass die Partei, besonders ihre führenden Elemente, sich der revolutionären Theorie des Marxismus, die mit der revolutionären Praxis unmittelbar verbunden ist, voll bemächtigen.

Es ist notwendig, dass die Partei die Losungen und Direktiven nicht aufgrund eingelernter Formeln und geschichtlicher Parallelen, sondern als Ergebnis einer sorgfältigen Analyse der konkreten Bedingungen der revolutionären Bewegung im Lande und im internationalen Maßstab ausarbeitet, wobei die Erfahrungen der Revolutionen aller Länder unbedingt mit in Rechnung gestellt werden müssen.

Es ist notwendig, dass die Partei die Richtigkeit dieser Losungen und Direktiven im Feuer des revolutionären Kampfes der Massen überprüft.

Es ist notwendig, dass die gesamte Arbeit der Partei, besonders wenn in ihr die sozialdemokratischen Traditionen noch nicht überwunden sind, auf neue, revolutionäre Art, jede ihrer Aktion naturgemäß zur Revolutionierung der Massen, zur Vorbereitung und Erziehung der breiten Massen der Arbeiterklasse im Geiste der Revolution führt.

Es ist notwendig, dass die Partei in ihrer Arbeit versteht, die höchste Prinzipienfestigkeit (nicht zu verwechseln mit Sektierertum) mit einem Maximum an Verbundenheit mit den Massen (nicht zu verwechseln mit Nachtrabpolitik) zu verbinden, da es ohne diese Bedingung für die Partei unmöglich ist, nicht nur die Massen zu lehren, nicht nur die Massen zu führen und sie auf das Niveau der Partei zu heben, sondern auch auf die Stimme der Massen zu lauschen und ihre brennendsten Nöte zu erkennen.

Es ist notwendig, dass die Partei es versteht, in ihrer Arbeit eine unversöhnliche revolutionäre Einstellung (nicht zu verwechseln mit revolutionärem Abenteurertum!) mit einem Maximum an Elastizität und Manövrierfähigkeit (nicht zu verwechseln mit Anpassungspolitik!) zu verbinden, da es ohne diese Bedingung für die Partei unmöglich ist, alle Formen des Kampfes und der Organisation zu meistern, die Tagesinteressen des Proletariats mit den grundlegenden Interessen der proletarischen Revolution zu verbinden und in ihrer Arbeit den legalen Kampf mit dem illegalen zu  verknüpfen.

Es ist notwendig, dass die Partei ihre Fehler nicht verhüllt, dass sie die Kritik nicht fürchtet, dass sie es versteht, ihre Kader an Hand ihrer eigenen Fehler zu verbessern und zu erziehen.

Es ist notwendig, dass die Partei es versteht, in die führende Gruppe die besten Elemente der fortschrittlichen Kämpfer aufzunehmen, die genügend Hingabe besitzen, um wahrhafte Vertreter der Bestrebungen des revolutionären Proletariats zu sein und die genügend Erfahrung haben, um wirkliche Führer der proletarischen Revolution zu werden, die fähig sind, die Taktik und die Strategie des Leninismus anzuwenden.

Es ist notwendig, dass die Partei die soziale Zusammensetzung ihrer Organisation systematisch verbessert und sich von zersetzenden opportunistischen Elementen reinigt, wobei sie die Erreichung einer maximalen Einheitlichkeit als Ziel vor Augen haben muss.

Es ist notwendig, dass die Partei eine eiserne proletarische Disziplin entwickelt, die auf der Grundlage der ideologischen Einheit, der Klarheit der Ziele der Bewegung, der Einheit des praktischen Handelns und des bewussten Verhaltens der breiten Parteimassen zu den Aufgaben der Partei erwächst.

Es ist notwendig, dass die Partei die Durchführung ihrer eigenen Beschlüsse und Direktiven systematisch überprüft, da ohne diese Bedingung die Gefahr besteht, dass sie sich in leere Versprechungen verwandeln, die nur geeignet wären, das Vertrauen der breiten proletarischen Massen zur Partei zu untergraben.

Ohne diese und ähnliche Bedingungen ist die Bolschewisierung ein leerer Schall.

Frage:

Sie sagten, dass neben den negativen Seiten des Dawes-Plans die zweite Voraussetzung für die Eroberung der Macht von Seiten der KPD eine solche Lage ist, bei der die Sozialdemokratische Partei vor den Augen der Massen völlig entlarvt dasteht und keine ernsthafte Kraft innerhalb der Arbeiterklasse mehr darstellt. Bis dahin ist in Anbetracht der realen Tatsachen noch ein weiter Weg. Hier machen sich die Mängel und Schwächen der jetzigen Arbeitsmethoden der Partei deutlich bemerkbar. Wie kann man sie beseitigen? Wie schätzen Sie das Resultat der Dezemberwahlen 1924 ein, bei denen die Sozialdemokratie – eine völlig korrupte und verfaulte Partei – nicht nur keine Stimmen verloren, sondern sogar etwa zwei Millionen Stimmen gewonnen hat?

Antwort:

Hier handelt es sich nicht um die Mängel der Arbeit der deutschen kommunistischen Partei. Hier handelt es sich vor allem darum, dass die amerikanischen Anleihen und das Eindringen des amerikanischen Kapitals, plus die stabilisierte Valuta, die die Lage etwas verbesserten, die Illusion von der Möglichkeit einer grundlegenden Liquidierung der mit der Lage Deutschlands verbundenen inneren und äußeren Gegensätze geschaffen haben. Auf dieser Illusion ritt auch die deutsche Sozialdemokratie wie auf einem weißen Ross in den gegenwärtigen Reichstag hinein. Wels tut sich jetzt mit seinem Wahlsieg groß, aber er begreift anscheinend nicht, dass er sich einen fremden Sieg zuschreibt. Gesiegt hat nicht die deutsche Sozialdemokratie, sondern die Gruppe Morgan. Wels war und  bleibt nur ein Kommis Morgans.

‚Prawda‘, Nr. 27, 3. Februar 1925, aus: Stalin-Werke, Bd. 7, Berlin  1952, S. 29ff).