René Wolf
Probleme der Linken
Wahlfamilien
Die meisten linken Gruppierungen sind Wahlfamilien, die ihre Differenzen zu politischen Nachbarn maßlos überhöhen, um ihre Identitätsbaracken nicht verlassen und in einen solidarischen Klassenkampf ziehen zu müssen – der freilich auch andere, ganz und gar nicht psychologische Nachteile bedeutete.
Feindbilder
Die Rationalisierung dieser Nesthockerei funktioniert immer nach demselben Muster. Ich zitiere:
„Nein, das sind Rassisten / Antisemiten / Sexisten / Feministen / Leninisten / Trotzkisten / Bellizisten / die haben ‚Das Kapital‘ nicht systematisch / nicht historisch / rein akademisch / unakademisch interpretiert / die haben eine autoritäre Diskussionskultur / die pinkeln im Stehen / die mögen keine Zwölftonmusik / die halten Denundden für ein Genie / einen Volltrottel / die interessieren sich nicht für Ökologie / sind Ökofaschisten / essen Fleisch / sind vegane Spinner / haben das Widerstandpotential der Popmusik nicht erfasst / die sehen sich Pornos an / sehen sich keine an / die beziehen sich auf Bücher aus dem Verlag X, obwohl das derselbe Verlag ist, der vor zehn Jahren in einem Sammelband einmal eine Rede von Y abgedruckt hat, der ja erwiesenermaßen ein Rassist / Antisemit / Sexist / Trotzkist / Bellizist / Stehpinkler ist, was man in unserer Clubgazette Z nachlesen kann. Die verstehen also nicht ansatzweise, worum es in dieser ganzen Scheiße eigentlich geht! Was zu tun ist und so. Deshalb kann man mit denen nicht reden oder zusammenarbeiten. Jeder Kompromiss mit denen wäre reaktionär / faschistoid / antisemitisch / rassistisch / sexistisch / trotzkistisch / bellizistisch / wie wenn man erst Fleisch isst und danach im Stehen pinkelt etc. und damit unvertretbar. Das sind Leute, die bekämpft werden müssen!“
Kein Klassenkampf ohne Reinheit der Lehre
Dieses Muster beinhaltet eine vielleicht nicht bewusst, aber akzeptiert unrealistische Forderung nach Reinheit der Lehre, die als Ausrede für mangelnde Praxisorientierung benutzt wird. Nur wenn alle den von der eigenen Gruppe mehr oder weniger einheitlich erreichten Grad an Erkenntnis und dogmatischer Reinheit erreicht haben, kann man erst beginnen, gemeinsam – was in diesem Falle gar nicht mehr hieße ‚gemeinsam‘, sondern eben einfach ‚wie eine Person‘ – gegen den eigentlichen Gegner vorzugehen, nämlich den Kapitalismus, in dessen Analyse sich komischerweise viele unterschiedliche Gruppen in grundsätzlichen Punkten (Scheinpolitik, Krisenhaftigkeit, Verarmung, Umweltzerstörung, globale Ausbeutungszusammenhänge, ideologische Nebenwirkungen, Kriege usw.) einig sind. Dabei ist jeder einzelnen Gruppierung klar, dass es NIEMALS dazu kommen wird, dass auch nur die Hälfte aller Linken ihrer eigenen Dogmatik beipflichten oder die auch nur dulden wird – sie, die jeweilige Gruppe selbst ist ja ein Beleg der Gründe und Mechanismen, die sie ebenso wie die anderen daran hindern. Die Beseitigung inhaltlicher Unterschiede – notabene nur bei den anderen! – ist also ein nicht erreichbares Scheinziel, das man sich setzt, um das wirkliche Ziel, nämlich die Ablösung der bestehenden Verhältnisse, dessen Erreichung das Erreichen des Scheinziels strategisch vorgeschaltet ist, gar nicht erst ansteuern zu müssen, weil es weniger amüsante Konsequenzen haben könnte.
Gehts Linken irgendwie doch ganz gut?
Aus dem Widerstand, für den sich in früheren Zeiten Kommunisten haben foltern und ermorden lassen müssen, ohne dass sie ihn aufgegeben hätten, wird ein pubertäres Spiel mit Codes und Fahnenwörtern, das nichts und niemanden weiterbringt außer dem eigenen Ego. Ich schließe daraus, dass für ebendiese Gruppen das bestehende System dann eben einfach nicht das drängende Problem ist. Es ist ganz okay so. Starbucks, Internet, Gratisfilme, ab und zu einen durchziehen und über ein paar Leute lästern, zur Not halt auf Hartz IV, alles easy. Es fehlt in Deutschland die persönliche Betroffenheit, die Widerständler in anderen, härteren Zeiten und an anderen Orten so mutig, aber auch so kaltblütig gemacht hat und immer noch macht. Was dann vom linken Studenten in Germanien in seinem Blog eifrig kritisiert werden kann.
Gemütlich: Vollidiot sein
Ob sie sich also mit der Filterlosen im einen und einem verbalen Distinktionsbeweis im anderen Mundwinkel in der Berliner Szenekneipe schon dermaßen lebenskönnerisch und solitär vorkommen, dass es in einer alternativen Gesellschaft gar nicht mehr besser für sie laufen könnte. Diese Selbstverliebtheit, die typisch ist für unsere Gesellschaft, in der jeder glaubt, dass man sich für ihn interessieren müsse, zugleich aber keiner sich für den anderen interessiert und niemand diesen Widerspruch überhaupt bemerkt – dieser Narzissmus, der die gesellschaftliche Bedrohung, die mögliche Zerstörung des geliebten Selbst so völlig verkennt, verdrängt oder vergisst, weil die alltägliche Zerstörung fremder ‚Selbste‘ ja nicht in dieselbe Kategorie fällt, das ist heute der Wendepunkt vom vielleicht richtigen zum ganz sicher falschen Bewusstsein, von der Vernunft zur Ideologie, von der Kritik zur Affirmation, vom Menschen zum Konsumenten, vom Sozialisten zum Sozialdemokraten, vom Linksradikalen zum Bohemien und in jedem Fall zum Vollidioten!
Quelle: https://deadwallreveries.wordpress.com/…/familie-contra-kl…/
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