Klar auf Distanz zur revisionistischen Linie der KPdSU ging W. Ulbricht jedoch in Fragen der Ökonomie. N.S. Chruschtschow hatte bekanntlich das abenteuerliche Ziel vorgegeben, die USA ökonomisch in nur zehn Jahren ein- und überholen zu wollen und in 20 Jahren in der SU den Kommunismus zu erreichen.
Dagegen wandte sich W. Ulbricht in einem Vortrag über die Bedeutung des Werks von Karl Marx für die Schaffung des Systems des Sozialismus auf einer internationalen wissenschaftlichen Tagung im September 1967. In diesem Vortrag fasste er die internationalen und die eigenen Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus zusammen und gelangte zu der bisher nirgendwo ausgesprochenen Schlussfolgerung, »dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige sozial-ökonomische Formation in der historischen Etappe des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab«. Diese Feststellung war ein deutlicher Einspruch gegen das Moskauer Geschwätz von der Nähe der »lichten Höhen des Kommunismus« und wurde dort auch durchaus so verstanden. (…)
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Der Wechsel an der Parteispitze von W. Ulbricht zu E. Honecker
Die Ablösung W. Ulbrichts durch E. Honecker, offiziell auf Wunsch des ersteren und mit der Berufung auf sein Alter von ihm selbst erklärt und der Partei bekannt gemacht, hatte eine Vorgeschichte und erfolgte nicht ohne Einfluss aus Moskau. (…)
Während der fast 20 Jahre, in denen E. Honecker an der Spitze der SED und des Staates stand, ging es ihm subjektiv ehrlich um das Wohl der DDR. Zunächst erschien es so, als sei mit ihm die Ära der größten Erfolge der DDR angebrochen. Unter der Losung der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« wurde ein umfassendes Sozialprogramm verkündet, dass von den Werktätigen freudig begrüßt wurde. Aber es handelte sich bei den ersten Fortschritten im Grunde nicht um Erfolge der neuen Führung, sondern die Ernte der vorangegangenen Jahre. Bald stellte sich heraus, dass das erhoffte Wachstum der Arbeitsproduktivität und Wirtschaftskraft nicht wie geplant eintrat. Es garantierte nicht die hohen Sozialleistungen – insbesondere das gewaltige Wohnungsbauprogramm – einer- und die erforderlichen Akkumulationen andererseits. Die Erwartungen der Menschen, die immer mehr Vergleiche mit dem Lebensstandard der BRD zogen, wurden enttäuscht. Das wäre zu ertragen gewesen, wenn die Partei offen die Ursachen der negativen Entwicklung dargelegt und mit den Parteimitgliedern und den Massen darüber beraten hätte, wie man sie meistern könnte.
Die SED-Führung ging aber den anderen Weg, den des Administrierens, der Vertuschung von Widersprüchen und Problemen und der Schönfärberei, der in der Medienpolitik Ausdruck fand. Die Kluft zwischen Partei und breiten Teilen der Massen war groß geworden und innerhalb der Partei verlor die Führung immer stärker das Vertrauen der einfachen Mitglieder.
Besonders dramatische Auswirkungen hatten die unter Einfluss der Thesen des XX. Parteitags und der sie vertretenden revisionistischen Kräfte der KPdSU getroffene Einschätzung der internationalen Beziehungen und die damit verbundene Abweichung von der klaren marxistisch-leninistischen Definition der friedlichen Koexistenz als Form des internationalen Klassenkampfs. Diese neue Einschätzung ging davon aus, »dass die imperialistischen Kräfte nunmehr die von der SU und der sozialistischen Staatengemeinschaft verfochtenen Prinzipien der friedlichen Koexistenz als einzig mögliche Grundlage für die Normalisierung der Beziehungen von Staaten entgegengesetzter Gesellschaftsordnung anerkennen müssen«. (…)
Natürlich konnte von einer plötzlichen »Friedensfähigkeit« des Imperialismus keine Rede sein. Völlig zutreffend war stattdessen die weitsichtige Einschätzung der neuen imperialistischen Strategie »Wandel durch Annäherung«, die der erfahrene Kommunist und Außenpolitiker O. Winzer getroffen hatte: Es handele sich dabei um nichts anderes als um die »Konterrevolution auf Filzlatschen«.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese mit dem – Ende August 1987 auch im »Neuen Deutschland« veröffentlichten – gemeinsamen Papier von SED und SPD »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«, mit dem die Autoren – Vertreter der »Grundwertekommission« der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED – Vorarbeit für den Herbst 1989 leisteten. An zentraler Stelle heißt es darin:
»Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt […] Beide Systeme müssen sich gegenseitig für friedensfähig halten […] (…)
Wesentliche Teile der Akademie für Gesellschaftswissenschaften – des ideologischen Zentrums der Partei – hielten also den Imperialismus für »friedens-« und »reformfähig« – und das wohl nicht erst seit dem Entstehungszeitpunkt dieses Papiers. An die Stelle der friedlichen Koexistenz als Form des internationalen Klassenkampfs trat der die Gegenseite harmonisierende Terminus »Systemwettbewerb«. Über die nur zwei Jahre später eintretenden Konsequenzen dieser Erosion von Imperialismus-Theorie und Klassenstandpunkt darf man sich natürlich nicht wundern… (…)
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Ein Beispiel noch für die Aufweichung ursprünglich marxistisch-leninistischer Positionen in der SED:
Im auf dem IX. Parteitag (Mai 1976) beschlossenen Parteiprogramm wurde – in Übereinstimmung mit der von N.S. Chruschtschow vorgegebenen revisionistischen Moskauer Linie – der Kommunismus als reales Ziel formuliert. In einer nachfolgenden Beratung mit Jugendaktivisten erklärte E. Honecker »die Jugend der DDR zum Erbauer des Kommunismus« und ergänzte, »dass auch er davon ausgeht, den Kommunismus noch zu erleben«. Die Ähnlichkeit mit den großmäuligen Prognosen eines N.S. Chruschtschow und die Realitätsferne angesichts der tatsächlichen Lage in der Gesellschaft der DDR sind frappierend!
D. Itzerott und K. Gossweiler kommen in ihrer Abhandlung »Die Entwicklung der SED« zu folgender Einschätzung:
»Die Saat Gorbatschows tat schließlich – trotz unbestrittener Bemühungen Erich Honeckers und anderer, sie in der DDR nicht aufgehen zu lassen – ihr Werk. Der die DDR zersetzende Revisionismus war nicht nur ein Moskau-Import-Produkt, sondern zum Teil auch hausgemacht.« (Itzerott/Gossweiler 2009, 86)
In der Endphase der DDR erwies sich die SED-Führung als nicht willens und fähig, die für jeden erkennbaren Schwierigkeiten und Mängel zur Sprache zu bringen. Stattdessen wurde die Wirklichkeit schön geredet und Tag für Tag nur von Erfolgen berichtet, von denen die Menschen in ihrem Alltag schon längere Zeit nichts mehr verspürten. (…)
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Schädlich ausgewirkt haben sich schließlich:
• Die Vernachlässigung der ständigen objektiven Bewertung des tatsächlichen Bewusstseinsstands:
Es gab die Neigung, das Niveau des Bewusstseins zu überschätzen. Man hielt, wie H. Keßler bemerkte, an einer vereinfachten Sicht auf die Arbeiterklasse fest und beschränkte sich auf die verbale Betonung ihrer Rolle als historisches Subjekt, ja man ging sogar zu einer Idealisierung über. Die Langzeitwirkung bürgerlicher Denk- und Verhaltensweisen wurde unterschätzt. (…)
• Die Vernachlässigung der politisch-ideologischen Arbeit:
Statt der Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus kamen immer mehr Reden der Mitglieder des Politbüros und Parteibeschlüsse auf die Liste der von den Teilnehmern am Parteilehrjahr zu lesenden »Pflichtliteratur« – gleichsam ein Wesensmerkmal revisionistischer Aufweichungen: die Abkehr vom Grundlagenstudium und damit von der Wissenschaftlichkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung (…)
• Die Vernachlässigung offener Informationspolitik der Medien:
Schönfärberischer Aktionismus, dauernde Erfolgsmeldungen, Kampagnenhaftigkeit und peinliche »Hofberichterstattung« prägten zunehmend deren Bild. (…)
• Die Vernachlässigung der wissenschaftlich-theoretischen Arbeit:
Bei der Bewertung des Wirkens einer marxistisch-leninistischen Partei ist die Frage nach Niveau und Verfasstheit ihrer theoretischen Arbeit von großer Bedeutung. Die SED verfügte über leistungsfähige Theoriekapazitäten und besaß marxistisch gebildete Kader. Auf vielen Gebieten wurde eigenständige innovative Forschung betrieben. Andererseits haben Erscheinungen wie die Leugnung und Unterschätzung von Widersprüchen im Sozialismus sowie der voluntaristische Umgang mit der »Gesetzmäßigkeit« eines Sieges (Unumkehrbarkeitsthese) fatale Wirkungen gehabt. (…)
• Die Vernachlässigung der innerparteilichen Demokratie und des Prinzips des demokratischen Zentralismus:
Der demokratische Zentralismus ist das von W.I. Lenin formulierte Organisationsprinzip einer marxistisch-leninistischen Partei. Als solche verstand sich die SED. Der schöpferische Umgang mit ihm war in ihrem Statut festgeschrieben. Ohne eine Praxis auf seiner Grundlage wären die Erfolge der SED bei der Führung der gesellschaftlichen Entwicklung nicht möglich gewesen. Aber der demokratische Zentralismus wurde im Kontext mit den konkreten Erscheinungen des Klassenkampfs und der Probleme mit dem von der KPdSU ausgehenden Revisionismus verzerrt angewandt. Die innerparteiliche Demokratie als eine entscheidende Voraussetzung wurde immer mehr eingeengt. Das führte zu einer unzulässigen Verschärfung bürokratisch-zentralistischer Tendenzen sowie gleichzeitig zum Aufkommen des Karrierismus. (…)
• Die Vernachlässigung der Reinheit der Partei:
W.I. Lenin wandte sich stets gegen die Definition der Partei als »Massenpartei« und vertrat den Standpunkt, dass eine strenge, qualitative Auswahl die zahlenmäßige Stärke der Partei bestimmen müsse: »Es ist besser, zehn Arbeitende bezeichnen sich nicht als Parteimitglieder […] als daß ein Schwätzer das Recht und die Möglichkeit hat, Parteimitglied zu sein«. (LW 6, 502) Überdies sah er die Gefahr, »dass die Versuchung, in die Regierungspartei einzutreten, riesig groß ist und damit Karrieristen in die Partei kommen«. 1922 stellte er fest, dass die Zahl von 300.000–400.000 Mitgliedern »übermäßig hoch« sei (vgl. LW 33, 241). Die ausufernde Mitgliederentwicklung der SED stand zu W.I. Lenins Auffassung in krassem Gegensatz (…)
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Der Sieg der Konterrevolution
Für die letzten Monate der DDR konstatieren D. Itzerott und K. Gossweiler eine »Atmosphäre der Ausweglosigkeit und des Pessimismus […] Die Mitglieder des SED-Politbüros verkannten völlig, dass sie ihre letzte Chance verspielt hatten.« Der Zusammenbruch von Staat und Partei, betrieben von der inneren wie äußeren Konterrevolution und begünstigt durch den Verrat M.S. Gorbatschows, war nicht mehr zu verhindern, »auch weil die politischen Zentren der DDR bis Ende September handlungsunfähig waren. Es herrschte politische Sprachlosigkeit.« (Itzerott/Gossweiler 2009, 91 f.) (…)
Der am 1. Dezember 1989 auf Antrag der SED-Fraktion durch die Volkskammer beschlossene »Verzicht auf den Führungsanspruch der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei« gab schließlich jeden Spielraum auf und wurde zum politischen Suizid.
Die innerparteiliche, revisionistische Opposition inszenierte ihren Putsch widerstandslos und voll auf der Linie M.S. Gorbatschows mit einer »antistalinistischen« Hetze sondergleichen: Hervorragende und verdiente Genossen der SED wurden von den neuen Herren der SED/PDS ausgegrenzt, mit Parteistrafen belegt oder ganz aus der Partei ausgeschlossen und obendrein strafrechtlich verfolgt.“ (…)