Wie sich 1789 geschichtlich durchgesetzt und nicht durchgesetzt hat

Redaktion – 30. Juli 2024

Eine der bekanntesten Aussagen Lenins über das Wesen der Politik findet sich in seiner Aussage, dass es in der Politik nicht so gerade zugehe wie auf dem Alexander-Newski-Prospekt, einer 4,5 km langen, geraden Prachtallee im historischen Zentrum Leningrads. Im Kern bewegt sich die menschliche Gesellschaft nicht evolutionär, Stufe für Stufe aufwärts, sondern dialektisch, sich selbst durch innere Widersprüche sprunghaft entfaltend. Eine allmähliche Bewegung bricht plötzlich ab, Gegensätze schlagen ineinander um, wobei die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ ist. “Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.“1
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Die Bedeutung der russischen Oktoberrevolution

Die russische Oktoberrevolution, die die ersten hundert Millionen Menschen auf der Erde dem imperialistischen Krieg, der imperialistischen Welt entrissen hatte, ist dafür das Beispiel par excellence. Hieß es 1847 in den ‘Grundsätzen des Kommunismus‘ von Engels noch im Prospekt, dass sie eine universelle Revolution mit einem universellen Terrain nur sein könne, dass eine sozialistische Revolution in einem Land unmöglich sei, so bewies die Oktoberrevolution das Gegenteil. Sie widerlegte nicht Engels, der für die vormonopolistische Periode des Kapitalismus Recht hatte, sondern bestätigte zugleich Lenins neue Erkenntnis der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung in der Epoche des Imperialismus.
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Der Versuch des wissenschaftlichen Sozialismus in Russland

Die russische Oktoberrevolution war der Versuch, den wissenschaftlichen Sozialismus in einem Land der Kleineigentümer und Analphabeten politisch-praktisch durchzusetzen. Damit hing an den Flügeln dieser Revolution anfänglich ein doppeltes Bleigewicht, das sie hart zur bürgerlichen Revolution hinzog: Parzellierung des Agrarlandes in einer überwiegend analphabetischen Gesellschaft. Sie wies am Anfang tatsächlich Züge der klassischen bürgerlichen Revolution auf. Nicht von ungefähr wurde in Moskau ein Denkmal Robespierres enthüllt. 1917ff. zeigte, dass und wie eine bürgerlich-demokratische Revolution in eine proletarische hineinwuchs, die das Eis brach und eine neue Epoche in der Weltgeschichte begründete. “Die erste wächst in die zweite hinüber. Die zweite löst im Vorbeigehen die Fragen der ersten. Die zweite verankert das Werk der ersten. Der Kampf und nur der Kampf entscheiden, wie weit es der zweiten gelingt, über die erste hinauszuwachsen.“2 Und in dieser Reihenfolge kommt die schwierigste Aufgabe zuletzt: die Errichtung des ökonomischen Fundaments für das neue, sozialistische Gebäude an Stelle des zerstörten feudalen und des halbzerstörten kapitalistischen Baus.3
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Das Proletariat im Oktober 1917

Das Proletariat stellte im Oktober 1917 eine kleine Minderheit der Bevölkerung dar, und diese war fast in ihrer Gesamtheit in den Gewerkschaften organisiert, eine Klassenlage, die prädestiniert war für anarcho-syndikalistische Abweichungen. Die anarchistische Matrosenmeuterei von Kronstadt vom 1. bis 18. März 1921 kam nicht von ungefähr. Die KP war marginal, wie Lenin sagte, ein Tropfen im Ozean. Aber dieser Tropfen hatte eine weltgeschichtliche Potenz in sich. Trotz der beiden Bleigewichte wird die bürgerliche Revolution, die sich nach dem Guillotinieren Robespierres am 28. Juli 1794 in absteigender Linie bewegte, erst durch die Oktoberrevolution vollendet. Die Marseillaise wurde zwar nach der bürgerlichen Februarrevolution in den Straßen der Metropolen gesungen, aber die die Sowjets dominierenden kleinbürgerlichen Parteien unternahmen nichts, aber auch rein gar nichts im Sinne einer Beseitigung mittelalterlichen Gerümpels, der Überreste des Feudalismus und der Leibeigenschaft.
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Die Aufgaben der russischen Revolution

“Die unmittelbare und nächste Aufgabe der Revolution in Russland war die bürgerlich-demokratische Aufgabe, die Reste des Mittelalters zu beseitigen, sie bis zum letzten Stein wegzuräumen, Russland von dieser Barbarei, von dieser Schmach, von diesem größten Bremsklotz jeder Kultur und jedes Fortschritts in unserem Lande zu säubern. Und wir können mit Recht darauf stolz sein, dass wir diese Säuberung viel entschiedener, rascher, kühner, erfolgreicher, viel umfassender und tiefgreifender vom Standpunkt der Einwirkung auf die Masse des Volkes, auf seine breite Masse, durchgeführt haben als die Große Französische Revolution vor mehr als 125 Jahren … In nur zehn Wochen, angefangen mit dem 25. Oktober (7. November) 1917 und bis zur Auseinanderjagung der Konstituante (5. Januar 1918), haben wir auf diesem Gebiet tausendmal mehr geleistet, als die bürgerlichen Demokraten und Liberalen (die Kadetten) und die kleinbürgerlichen Demokraten (die Menschewiki und Sozialrevolutionäre) in acht Monaten ihrer Herrschaft geleistet haben.“4 Die acht Monate hatten gezeigt, dass die russischen Kleinbürger mit den Hütern der Leibeigenschaftstradition, den Gutsbesitzern, politisch paktierten.
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Der Übergang von der Bastille zum russischen Sowjetland

Was mit dem Sturm auf die Bastille als bürgerlich-demokratische Revolution in Paris begann, wird im russischen Sowjetland 125 Jahre später vollendet, gelöst im Vorbeigehen, als Nebenprodukt einer proletarischen Revolution. Erst Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts also ging die Sonne der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf, die zugleich ihre ersten, eigentumsbedrohlichen Schatten auf die altreichen Kulaken und neureichen NEP-Leute warf. Diese Parole war vor 125 Jahren widersinnig, ihr Gegenteil setzte sich durch: der Kapitalismus, also Lohnsklaverei, Ungleichheit, repressiver Terror von oben, um die Massen dem Kapital botmäßig zu machen.
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Die Revolution und ihre Folgen

Was Kant über diese Revolution sagte, dass sich ein solches Ereignis nicht vergesse, erst jetzt war es verankert. Aber nur für etwa 35 Jahre, dann hatte die Sonne des Humanismus ihren Zenit überschritten und neigte sich ihrem fatalen Perestroika-Untergang zu. Es ist bei den Konsequenzen der konterrevolutionären Machenschaften der Volksfeinde Chruschtschow und Gorbatschow, Anti-Lenins in seiner Toga durch und durch und ihrer degenerierten Cliquen übersehen worden, dass es nicht nur um die Annullierung sozialistischer Errungenschaften ging, ganz Europa ist am 26. Dezember 1991 in den Sumpf des Mittelalters zurückgestoßen worden, aus dem sich die Völker heute, mit Rückschlägen versehen – und das trifft nicht nur auf Polen und Ungarn zu –, mühsam wieder emporarbeiten müssen. In fast allen Ländern Europas erhebt der widerwärtige NATO-Faschismus mit mehr oder weniger faschistoiden Leibeigenschaftsaposteln an der politischen Spitze sein Haupt, um seine Völker militärisch zu dezimieren. Ganze Manöverserien bereiten gierig-fieberhaft, gleichwohl planmäßig großem Aderlass vor. Welche politische Physiognomie weist denn die EU heute auf, wenn nicht eine semi-mittelalterliche, völlig unfähig, monarchistischen Unrat hinwegzufegen, völlig unfähig, die volle Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen? Die französische Bourgeoisie lässt das französische Proletariat eine Fremdenlegion unterhalten, um in einem unvermeidbar kommenden rot-weißen Bürgerkrieg auf der Trikolore Robespierres und Dantons herumzutrampeln.

  1. Lenin: „Zur Frage der Dialektik“, Werke, Band 38, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 339
  2. Lenin: „Zum Vierten Jahrestag der Oktoberrevolution“, Werke, Band 33, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 34
  3. ebenda, Seite 37
  4. ebenda, Seite 31f.

 

Dieser Artikel fußt auf eine Vorlage von Heinz Ahlreip. Eine Weiterveröffentlichung des Textes ist gemäß einer Creative Commons 4.0 International Lizenz ausdrücklich erwünscht. (Unter gleichen Bedingungen: unkommerziell, Nennung der verlinkten Quelle (»Der Weg zur Partei«) mit Erscheinungsdatum).

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