Dialektik historischer Entwicklungen unter Einschluss ihrer Friktionen

Redaktion – 27. Juli 2024

Einführung in die Dialektik der historischen Entwicklung

Die Dialektik ist die Lehre von der allseitigen und widerspruchsvollen historischen Entwicklung, über die ich hier einige Aspekte skizzieren möchte. In einem Brief vom 12. Januar 1762 an Malesherbes, den Präsidenten der in Frankreich gegen die Aufklärung tätigen Zensurbehörde, schildert Rousseau die Eingebungen, die ihn beim Lesen der Preisfrage der Akademie von Dijon überfielen: Haben Künste und Wissenschaften zum Fortschritt der menschlichen Kultur beigetragen?

“Wenn je etwas einer plötzlichen Erleuchtung glich, so ist es die Bewegung, die sich bei dieser Lektüre in mir vollzog. Auf einmal fühle ich, wie mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, Massen von lebhaften Gedanken boten sich mir mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung stürzte. Ich fühle, wie mein Kopf von einem Schwindel ergriffen wird, wie bei einem Rausch. Ein heftiges Herzklopfen macht mich beklommen, hebt meine Brust, und da ich im Gehen nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Weg hinsinken und verharre dort eine halbe Stunde so erschüttert, daß ich beim Aufstehen entdeckte, daß meine Weste naß war von Tränen, ohne gemerkt zu haben, daß ich welche vergossen hatte. Ach, Monsieur, wenn ich je nur ein Viertel von all dem, was ich unter diesem Baum sah und empfand, niederschreiben könnte, wie deutlich hätte ich dann alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems aufgezeigt, wie kraftvoll hätte ich alle Missbräuche unserer Institutionen dargelegt, wie einfach hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur gut ist, und daß die Menschen allein durch die Institutionen böse werden“.

Aus dieser Erleuchtung leitet Rousseau ganz richtig den Satz ab: Wer anderen Menschen Befehle geben will, muss krank sein.
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Marx und die bürgerliche Revolution

Marx gibt im 18. Brumaire bei seiner Bestimmung des Charakters bürgerlicher Revolutionen dieses Timbre Rousseaus wieder: “Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt“1 . Es ist in der Forschung bisher offen, ob Marx seine brillante Passage aus dem Brief an Malesherbes schöpfte; ein gewisser Gleichklang ist nicht zu überlesen. Lenin wiederholte oft, dass es in der Politik nicht so gerade zugehe wie auf dem Alexander-Newski-Prospekt, der schnurgeraden Prachtallee in Sankt Petersburg, und dass besonders in revolutionären Situationen schroffe Übergänge und Sprünge zu registrieren sind.
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Die Entwicklung der Arbeiterbewegung

Skizzieren wir kurz die Entwicklung der Arbeiterbewegung in ihren anfänglichen Hauptetappen: Sie beginnt mit einer Rolle rückwärts und sträubt sich durch Maschinensturm und Brandlegung an Fabriken gegen die Industrialisierung, sieht dann in der Bourgeoisie ihr Zugpferd, das sie in die politische Bewegung hineinreißt: “Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also nicht ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bürger, die Kleinbürger“2. Der Fortschritt der Industrie vergrößert die proletarischen Massen, die, so heißt es im Manifest, ihre Kraft mehr und mehr fühlen. Was als Einzelkämpfertum: Prolet gegen Bürger begann, nimmt Klassencharakter an, die Arbeiter koalieren zwecks Behauptung ihres Lohnes. Mehr als der unmittelbare Erfolg zählt jedoch die “weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“3 .

Dann aber wieder eine Widersprüchlichkeit, an der die Klassenkampfgeschichte so reich ist: Die Herausformierung einer politischen Partei wird durch die Konkurrenz unter den Arbeitern wieder gesprengt, entsteht aber immer wieder, immer mächtiger, bis es zur revolutionsentscheidenden Gründung einer revolutionären proletarischen Klassenkampfpartei kommt, bis die Arbeiter zum Dezember/Januar 1847/48 geschriebenen Manifest der Kommunistischen Partei greifen.
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Friktionen in der marxistischen Theorie

Allerdings litt die Herausbildung der marxistischen Theorie gegen Ende der 40er Jahre selbst an einer Widersprüchlichkeit: Die beiden führenden Theoretiker waren sich noch nicht voll bewusst darüber, dass man beim Schreiben von Tagesgeschichte nicht instantan gleichzeitig bis zu den ökonomischen Wurzeln vorstoßen kann. Während der Revolutionszeit 1848/49 war es nicht möglich, die gleichzeitig sich vollziehenden ökonomischen Wandlungen zu verfolgen und zu erkennen, dass im Hintergrund der Revolution die Welthandelskrise von 1847 stand. Damit liegt eine Fehlerquelle vor, die man beim Schreiben von Tagesgeschichte generell nicht abstellen kann.

Deshalb die Täuschung nach der Niederlage der 48er Revolution, eine neue komme alsbald, sozusagen auch ohne Wirtschaftskrise, während die fabelhafte Entwicklung der Produktivkräfte eine andere Sprache sprach. Dieses Licht ging Marx auf, als er 1851 im Hyde Park die erste, zwischen dem 1. Mai und 11. Oktober stattfindende internationale Industrieausstellung besuchte. Anstatt eines kurzen Zwischenstopps in London im August 1848 starb Marx im März 1883 daselbst. Aber um die Jahreswende 1851/52 (Abfassung des 18. Brumaire vom Dezember 1851 bis zum März 1852) war sich Marx der Bedeutung der Widersprüchlichkeiten insbesondere in der proletarischen Revolution bewusst: “Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke.…“4. Dieses Zurückschrecken vor dem Kommunismus zeigt unter anderem an, wie tief den Völkern das Vorurteil der Herrschaftsnotwendigkeit in den Knochen steckt.
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Friktionen in der russischen Arbeiterbewegung 1910

Eine sehr interessante Widersprüchlichkeit können wir in der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung 1910 verfolgen. Aufschluss über diese gibt uns Lenins kleine Studie vom 23. Dezember 1910, betitelt: Über einige Besonderheiten der historischen Entwicklung des Marxismus (Lenin Werke, Band 17, Seite 23 bis 28). In sechs Jahren, zwischen 1907 und 1913, zeigte sich, dass sich trotz Gleichbleibens der fundamentalen Entwicklungslinien der Arbeiterbewegung, also trotz relativen Gleichklangs der Klassenkonstellationen und relativer Konstanz der ökonomischen Entwicklung, im klassenkämpferischen Detail sehr schroffe Wendungen auftaten.

Die Zeit vom Sommer 1907 bis zum Sommer 1910 schien wie in Feuerbrillanten gefasst zu sein, alle Klassen traten massenaktiv auf, die marxistische Taktik war gefordert angesichts der Spaltung der Bourgeoisie in eine groß-reaktionäre und eine klein-fortschrittliche, aber im Rahmen der bürgerlichen Ordnung bleibende. Dagegen fast ein sich allem fügender Stillstand ab dem Sommer 1910 bis zum Sommer 1913. Noch galt es für die Massen, die aufwühlende bürgerliche Revolution von 1905 zu verarbeiten, die durch sie aus einem tiefen mittelalterlichen Schlaf gerissen worden waren. Die lodernden Erfahrungen mussten sacken, Lenin sagt, die Massen konnten sich nicht lange auf dieser Höhe halten; ab dem Sommer 1910 brauchten sie eine Pause.

Wie eingangs gesagt: Die Dialektik ist die Lehre von der allseitigen und widerspruchsvollen historischen Entwicklung. Diese beinhaltet eine grundsätzlich gleichbleibende kapitalistische Entwicklung, die den historischen Inhalt als bürgerlichen bestimmt. Revolutionäre Erhebungen bis ins Ländliche hinein sowie radikale, bisher unbekannte Erfahrungen von Millionen Menschen erforderten eine Pause. „Die Dialektik der historischen Entwicklung gestaltete sich so, dass in der ersten Periode die Durchführung der unmittelbaren Umgestaltungen auf allen Lebensgebieten des Landes auf der Tagesordnung stand, in der zweiten dagegen die Verarbeitung der Erfahrungen, ihre Aneignung durch Schichten, das Eindringen dieser Erfahrungen – wenn man sich so ausdrücken darf – in die Untergründe, in die zurückgebliebenen Reihen der verschiedenen Klassen.5„.
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Krise des Marxismus

Daraus lässt sich eine Doppellehre ziehen: Sowohl ein Vorauseilen der Kader als auch ein Zurückbleiben dieser führen unweigerlich zu einer Krise des Marxismus, wie der auffallend schroffe Wechsel der Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens 1910 zu einer ernsten inneren Krise des Marxismus geführt hatte. Es zeigte sich und zeigt sich auch heute, dass der Marxismus objektiv bedingt krisenanfällig ist. In Krisen gilt es, die Grundlagen abzusichern. In der heutigen Phase des Imperialismus, der kapitalistischen Phase des Monopols, und von Seiten der Theorie des Leninismus, entspricht der Marxismus der Phase des klassischen Konkurrenzkapitalismus. Deshalb ist Stalins Schrift „Über die Grundlagen des Leninismus“ unverzichtbar als leuchtender Stern am Himmel der Theorie.
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Qualitativer Sprung der russischen Arbeiterbewegung

Zwischen dem März 1917 und dem Oktober 1917 gab es in der geschichtlichen Entwicklung der russischen Arbeiterbewegung einen qualitativen Sprung nach vorn. Waren die Bolschewiki im März in den Sowjets auffallend in der Minderheit geblieben, so besaßen sie vor der Oktoberrevolution sowohl in Moskau als auch in Petrograd die Mehrheiten in ihnen. Diese Mehrheiten waren die Bedingungen einer möglichen erfolgreichen Revolution. Die Mitglieder der Provisorischen Regierung zur Rettung der Revolution, was ja so wohlklingend ist, wurden in der Tat verhaftet und damit die politischen Spitzen der Anhänger des imperialistischen Krieges und des Mittelalters. Wohlklingend gewiss, wie denn auch Marx und Engels im Manifest „Verbesserer der Lage der arbeitenden Klasse“ (äußerst zuckersüß) als konservative Sozialisten rubrizierten. Denn die Arbeiterklasse kann sich nur selbst befreien, wie im Oktober 1917.
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Beseitigung feudaler Überreste

Die Provisorischen hatten den Widerspruch zwischen der kapitalistischen ökonomischen Evolution, die militärisch eine imperialistische Ausrichtung auflegte, und dem Bestehen einer ganzen Reihe feudaler, mittelalterlicher Institutionen nicht beseitigt. Deren Beseitigung gehörte inhaltlich zu den ersten Aufgaben der Oktoberrevolution. Erst der rote Oktober ließ Millionen Russinnen und Russen aus dem imperialistischen Krieg ausscheiden und räumte mit mittelalterlichem Gerümpel entschieden auf.
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Die Dialektik der russischen Arbeiterbewegung

In der Dialektik der russischen Arbeiterbewegung gab es ab der Februarrevolution 1917, wenn auch unterbrochen, mehrere Sprünge nach vorn. Die NEP wurde von den linken Kommunisten als Sprung nach hinten missdeutet und Lenin musste lange Überzeugungsarbeit leisten. Ab 1956 gab es mehrere kaum noch unterbrochene Sprünge nach hinten. Der 20. Parteitag, der die Auflösung der roten Union einleitete, war ohne Zweifel ein Riesenschritt rückwärts, aber kein finaler, wie die Konterrevolution unkte. Die Dialektik ist eben die Lehre von der allseitigen und widerspruchsvollen historischen Entwicklung, die auch Riesensprünge rückwärts einschließt.
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Imperialismus und Zerstörung der Zivilisation

Wir hatten die Geschichte der Arbeiterbewegung begonnen mit der Maschinenstürmerei der Klasse, der die Zukunft gehört. Heute hat sich alles umgedreht. Der Imperialismus hat im 20. und 21. Jahrhundert offenbart, wer die Zivilisation zerstört und großen Teilen der Weltbevölkerung die industriellen Grundlagen entzieht, sodass die Hungerfrage ungelöst bleibt. Allein die Arbeiterklasse und die Marxisten-Leninisten haben sich höher entwickelt und bilden heute den Schutzwall der Zivilisation gegen die faschistisch-chaotische Barbarei des Imperialismus, der nichts mehr von Ordnung an sich hat. Mit sozialdemokratischer Unterstützung setzt der Imperialismus darauf, in einem dritten Weltkrieg die Existenz der ganzen Menschheit aufs Spiel zu setzen. So stehen wir vor der dialektischen Weiche der Geschichte: Sieg der Massen, der Arbeiter und der Millionen Kleinbauern oder Weltuntergang. Ein dritter Ausweg ist völlig illusionär und widerspricht aller Entscheidungsdialektik der Weltgeschichte.

 

Quellenangaben

  1. Karl Marx, Friedrich Engels: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Werke, Band 8, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 118
  2. Karl Marx, Friedrich Engels: „Manifest der Kommunistischen Partei“, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 470
  3. a.a.O., Seite 471
  4. Karl Marx, Friedrich Engels, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Werke, Band 8, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 118
  5. Lenin: „Über einige Besonderheiten der historischen Entwicklung des Marxismus“, Werke, Band 17, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 26

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Dieser Artikel fußt auf eine Vorlage von Heinz Ahlreip. Eine Weiterveröffentlichung des Textes ist gemäß einer Creative Commons 4.0 International Lizenz ausdrücklich erwünscht. (Unter gleichen Bedingungen: unkommerziell, Nennung der verlinkten Quelle (»Der Weg zur Partei«) mit Erscheinungsdatum).

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