Mao-Tse-tung als Macher der Kulturrevolution

Vierter Beitrag zur Einschätzung der „Mao-Tse-tung-Ideen“ – dem chinesischen Revisionismus

Seinen Artikel ‘Kulturrevolution‘ beginnt Michael Schoenhals in dem Großen China-Lexikon (Sonderausgabe 2008), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt mit dem Satz: „Maozedong begann 1966 die Kulturrevolution“. So kann man natürlich nicht beginnen. Männer selbst sogenannte große, einen Kult um sie herum noch zu ihren Lebzeiten in zehn- oder zwanzigfacher Größe ihres leiblichen Körpers erlebend, machen keine Geschichte aus selbst gewählten freien Stücken, diese ist zu umfassend, hat innere, tiefere, ökonomisch bedingte Ursachen, die ihre Bewegungswellen auslösen.

“Seit jahrzehten ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind“.1 Ein sich in seinem eigenen Personenkult verdoppelnder Geschichtstitan verleitet dazu, als ein objektive Gewalt annehmender Dreh- und Angelpunkt geschichtlicher Auslegung angesehen zu werden. So ergeben sich große geschichtliche Gestalten und winzige Punkte als Massen. Auf den Schlachtfeldern werden Tausende und Abertausende geopfert – es sei für die Geschichte, hört man die Herrschenden sagen. Ins Überdimensionale erhoben agieren die Gestalten nicht mehr unter irdischer Dialektik, die wichtigen drei Fragen aufwerfend: Zu welcher Zeit, in welchem Raum und unter welchen Umständen? Der chinesische Verteidigungsminister der mit Lichtblicken versehenen finsteren Epoche der chinesischen Kulturrevolution, Lin Biao, erklärte absurd genug Mao für fehlerfrei, somit nicht unter dem Banner der Selbstkritik stehend, die Entfernung vom wissenschaftlichen Sozialismus wurde immer dreister, größer, größenwahnsinniger, derweil er als bester Schüler Maos gehandelt wurde.

Lin Biao oder Lin Piao (1907 – 1971), Geburtsname Lin Yurong, war ein einflussreicher chinesischer Politiker an der Seite Maos. | Bild: Archiv: RoterMorgen

Mit Sprüchen aus der Mao-Bibel etwa lasse sich Krebs beseitigen, ohne Zweifel ein präaufklärerischer Gedanke, eine Phantasmagorie. Der Marxismus-Leninismus war durch kulturrevolutionäres Gezeter auf eine Narrenposse herabgesunken. Worin bestehen die objektiven Triebkräfte der subjektiven? Gesellschaftswissenschaftler lassen in der Regel die Geschichte der Industrie und die der Naturwissenschaften außen vor. Marx und Engels hatten im Frühling 1845 herausgearbeitet, dass es die Volksmassen sind, die gesellschaftlichen Fortschritt und Klassenkampfgeschichte mit der innergeschichtlichen Tendenz zu einem generellen Herrschaftsabbau voranbringen, die Herren der Geschichte werden immer kleiner. Man achtet viel zu viel auf die großen Haupt- und Staatsaktionen und übersieht, dass es die großen, kompakten Massen im Hintergrund sind, die armen Arbeitenden, die zusammenballend die eigentliche Geschichte oft unbewusst voranbringen. Es gilt, diese zu kombinieren und mit Kenntnisse dialektischer Entwicklungen auszustatten. Nur dass im feudal-bürgerlichen Kontext antirepressiver Abbau repressiven Aufbau miteinschließt. So linear ist der Fortschritt dann doch nicht. Napoleon als Spross der französischen Aufklärung und Revolution vervollkommnete den feudalen Staatsapparat zum spinnenartigen, allseitig vernetzten bürgerlichen. Die bürgerliche Aufklärung erwies sich als innerlich-theoretisch zu schwach gegen die großen Menschenmengen erwürgende etatistische Tendenz gegen die finsteren, mehrstöckigen Menschenmengen verschlingenden monotonen Horrorgebäude der bürgerlich weiterentwickelten feudalen Bürokratie, sprich Ministerien. Alle bürgerlichen Revolutionen vervollkommneten die Staatsmaschine, erst im Kommunismus sind die Menschen nicht länger Spielball fremder Mächte, was einen Bruch mit der ganzen bisherigen Geschichte, mit alten Ideen und alten Bewusstseinszuständen bedingt. Das China Maos war ein armes Land und hatte 1966/67 noch keine tiefen Spuren des Kommunismus vorzuweisen, nur 13.Prozent der Nutzfläche schlugen der Landwirtschaft zu Buche. 1949 betrug der Anteil der Frauen an den Universitäten gerade mal 18 Prozent und nur 38 Prozent aller Studierenden kamen aus Bauern- und Arbeiterfamilien. Noch wurden Elementarschulen beibehalten, um gegen den Analphabetismus besonders in ländlichen Gebieten anzugehen. Gesichert aber war das täglich bescheidene Brot und die Unmöglichkeit, die Notlage eines anderen auszunutzen. Heute ist die soziale Differenzierung unter den 1.466.449.939 Einwohnern Chinas (Stand Januar 2024) enorm unter Beibehaltung marxistisch-leninistischer Parteidiktaturrhetorik enorm. Man beschreite angeblich den Weg zum Kommunismus.

Welche Motive bedingen das Handeln der ‘Geschichtsmänner‘? China hatte 1967 zum Höhepunkt der Kulturrevolution 754 Millionen Einwohner und Mao war gewiss nicht in toto deren einziger Steuermann. So hätten die Maoisten es wohl gerngehabt. So haben sie sich selbst getäuscht und ihn überheblich ausgegeben als Großen Steuermann, der allerdings sei hinzugefügt angab, mehr aus historischen Romanen gelernt zu haben als aus der klassischen chinesischen Philosophie. Er hatte es aber verstanden, die Revolution auf sich zuzuschneiden und sein jugendliches Gefolge skandierte: ‘Wer keine Angst vor Vierteilung hat, reißt den Kaiser vom Pferd‘. Und es wurden viele nicht nur reaktionäre Kaiser vom Pferd gerissen auch in einer starken nationalen Ausrichtung: zu ihrem Höhepunkt der Revolution im Sommer 1967 kam es zu einer Krise in der Außenpolitik, nachdem die Roten Garden die britische Gesandtschaft in Brand gesteckt hatten, weil in Hongkong kommunistische Zeitungen unterdrückt wurden. Das bürgerlich-imperialistische England hatte die chinesischen Völker über Jahrzehnte wohl am stärksten gedemütigt. Gegen das zunehmende Chaotisieren des öffentlichen Lebens nahm auf dem Höhepunkt seine Militarisierung zu. Aber auch von der anderen Seite in der Innenpolitik. Auch nach dem Höhepunkt brachen immer noch nationale Aufstände gegen die Pekinger Zentralregierung aus, wobei aber in der absteigenden Kurve der Revolution die Durchpolitisierung des Alltagslebens und damit die Bedeutung der Ideen des Großen Steuermannes zurückgingen. Eine Überschrift zur spezifischen rotchinesischen Kulturrevolution könnte lauten: Durch Chaos unter dem Himmel zur großen Ordnung. Als Militärkarte stellt die Kulturrevolution in der Tat einen bunt wimmelnden Flickenteppich dar. Im Chaos blühte ein Verbalradikalismus: ‘Der Sohn eines Revolutionärs ist ein Held, der Sohn eines Reaktionärs, ein Bastard‘. Ein Wagnis war die Kulturrevolution allemal, es wird nicht immer darauf Acht gegeben, dass die Machthaber in Peking seit 1964 über die Atombombe verfügten und die große Revolution vor einem grauen-grauenhaften Hintergrund als Kriegstheater ablief. Das Land lag mit der Sowjetunion in einem ideologischen Clinch, die ebenfalls zu einem Atomwaffeneinsatz potent war. Nicht unbeachtet darf die gleichzeitige Bevölkerungsexplosion mit steigender Lebenserwartung bleiben. Alles zusammen ergab dann für den westeuropäischen Spießer neben einer roten Gefahr eine gelbe.

17 Jahre nach der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 regional dem Ende einzelner sowjetischer Kleinrepubliken, überregional dem Ende des Reiches der Mitte, brach im Mai 1966 die sogenannte Große Proletarische Kulturrevolution als wahrer Kontinuitätsbruch aus, das eingefahrene, auf Monopolherrschaft eingerastete Parteisystem wurde auf den Prüfstand gestellt, ob die Partei selbst ein Zentrum der Konterrevolution sein könnte. Der Parteielitepapst rief zur revolutionären Wachsamkeit gegen die Parteielite auf. Lenin hatte öfters bemerkt, dass die Massen weiter als die Partei sein können. Das ist richtig, es gibt kein starres Verhältnis zwischen Revolution und Konterrevolution. Einer Volksrepublik liegt natürlich auch wie aller politischen Begebenheiten die Dialektik von Revolution und Konterrevolution zugrunde und das historisch, flächenmäßig und landschaftlich so faszinierende Land brachte den Mann in einen Nr. 1-Personenkultstatus, der besessen bewusst den Kulturbruch herbeiführte, die Revolution aber nicht in Opposition gegen die wirtschaftliche Produktion stellen und sehen wollte.2 Alles seit dem 1. Oktober 1949 volksrepublikanisch Aufgestellte und vor allem alle Eliten wurden einer Durchforstung nach konterrevolutionären Fehlern unterworfen, allem Arbeiteraristokratischem von jungen Rotgardisten besessen und fanatisch nachgespürt. Durch diese Revolution stellte sich heraus, was der Parteivorsitzende dem Weltproletariat und den ausgebeuteten Kleinbauern des Globus als Vermächtnis mitgeben wollte: Rebellion sei gerechtfertigt und dass jeder Kommunist begreifen müsse, dass alle Macht aus den Mündungen der Gewehrläufe komme. Wir dürfen nicht der Sowjetunion folgen, nicht den Klassenkampf vergessen, denn im Sozialismus existieren noch Klassen, sodass der kapitalistische Weg immer noch offen ist. Das waren die Köder für die Massen. 1962 wandte Mao zum ersten Mal den Begriff “neue bourgeoise Elemente“ an, ‘neue‘ bedeutete: Elemente bereits aus dem Sozialismus heraus, Kommunisten, die oft unter fadenscheiniger Berufung auf die NEP der jungen Sowjetunion den kapitalistischen Weg gehen würden. Der Maoismus strahlte in alle Himmelsrichtungen, vor allem bis Peru aus, wo eine militante Organisation ‘Leuchtender Pfad‘ unter dem Kommando des Philosophieprofessors Guzman, er verstarb am 11. September 2021, militant Peru zehn Jahre an der Schwelle eines landesweiten Bürgerkrieges mit den Ideen Maos fesselte.  Unbedingte Militanz, Mao deutet eine Schlacht als ein farbenprächtiges, erhabenes Gemälde, das Militante bricht bei ihm durch als ein ästhetischer Symphonieaufschwung. Zugleich wird die Notwendigkeit der Nivellierung aller Mitglieder der Gesellschaft ganz in den Vordergrund gestellt. Keinen Karrierismus aufkommen lassen, keine Rangabzeichen mehr zu tragen, in der Armee visierte der Minister Lin Biao zudem den Vorrang politischer Bildung und einen ins Gigantische gehenden Mao Kult an. In der Spannung von Revolution und Konterrevolution vibriert die Beurteilung der Nachwelt, eine Seite verteufelt die maoistische Revolution als einen roten Holocaust wie in den erschreckenden Ausmaßen des Pol-Pot-Regimes, eine andere sah die versuchte Umwandlung einer Utopie zu einem sonnenrotklaren reinen gelben Reich der totalen Gleichheit sich in Umrissen und in einer blauen und grauen Uniform abzeichnen.

Kulturrevolution ist ein sehr schwierig zu fassender Begriff, der recht weit ausholen und vieles inhalieren kann, offen ist ein Bereich, in dem man auch vieles finden kann. Sie war ihrem Namen nach zunächst auf den kulturellen Sektor limitiert, also auf den Überbau, zunächst gegen akademische Autoritäten aus ihrem Selbstverständnis heraus mit einem starken Impuls gegen reines Bücherwissen, aber sprungbehaftet, wie wir sehen werden. Furore machte ein junger Mann namens Zhang Tiesheng, der bei naturwissenschaftlichen Testfragen versagte, aber in einem rasch von Millionen gelesenen Artikel die Bedeutung der praktischen Tätigkeit gegenüber bloßem Bücherwissen hervorhob. Das war überhaupt ein Grundzug der Zeit. Schwielen an den Händen berechtigen zum Hochschulzugang, gefragt waren Eisenmänner, die beim Platzen einer Ölpipeline mit ihrem eigenen Körper die Sprudelquelle zudeckten, bis der Reparaturingenieur eintraf.

Maos Frau Jiang Quing hatte im Auftrag ihres Mannes einen historischen Abriss über die kulturelle Entwicklung Chinas seit 1949 verfasst, aber die Endredaktion unterlag Mao. Dieser wollte eine Revolution machen und schon hierin lag, dass er kläglich scheitern musste. Vors erste kann man nach Lenin keine Revolution machen, wir können höchstens für die Revolution arbeiten. Sieht nicht Schoenhals Mao als den Macher der Kulturrevolution in Aktion? Was wollte gemacht sein? Erst war der Lichtkegel der Entlarvung bescheiden: Gegen die 4 Alten: Sijiu: Alte Ideen, Kultur, alte Sitten, alte Gewohnheiten, religiöse Symbolik, ganze Klöster wurden in einem Wirbelsturm der Roten Garden zerstört.

Eine Fundamentalschrift zum Verhältnis von Sozialismus und Religion liegt in der Schrift ‘Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion’ vor, die Lenin 1909 verfasst hat. Der Kampf gegen die Religion, gegen diese als jahrtausendalten Feind jeglicher Kultur und jeglichen Fortschritts ist natürlich für Materialisten selbstverständlich, es kommt aber darauf an, wie gekämpft werden muss. Die Maxime lautet: Der Kampf gegen die Religion muss dem Kampf gegen die Ausbeutung untergeordnet sein, er muss mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden werden, darf nicht vom Klassenkampf gegen diesen getrennt werden. Bei einem Streik kann atheistische Propaganda schädlich sein, wenn es auf die Kampfeinheit mit gläubigen Arbeitern ankommt. Die Atheisten dürfen den Krieg gegen Gott nicht um jeden Preis führen. Ausdrücklich hält Lenin es für unvereinbar, mit dem wissenschaftlichen Sozialismus Religionen einfach zu verbieten. Dieser Fehler lag klar in der chinesischen Kulturrevolution vor, und er wird oft begangen, klar, man weiß den Satz von Marx, Religion ist das Opium des Volkes, sie ist etwas Schlechtes, Negatives, Nachteiliges für das Volk, und man muss sie bekriegen, sie vernichten,   Das ist auf der Hand liegend, ist aber ein Kurzschluss, der den französischen Blanquisten in ihrem berühmten Londoner Manifest Eugen Dühring, der ultrarevolutionär sein wollte,  in seinem philosophischen System Bismarck in seinem Kulturkampf gegen den Katholizismus und Enver Hodscha in Albanien unterlief. Lenin hätte Hodscha in dieser Frage als Abc-Schützen des Materialismus bezeichnet. Der weitere Verlauf der Geschichte Albaniens hat gezeigt, dass das Volk dieses Landes noch nicht für den Atheismus reif war, dass eine absolute Grenze gesetzt worden war, wo es nur eine relative bewegliche hätte geben dürfen. Hier lag nicht die generelle opportunistische, Augenblickserfolge über Augenblickserfolge anpeilende Rechtsabweichung der Chruschtschowianer vor, sondern das Gegenteil, eine im Gefolge der chinesischen Kulturrevolution stehende spezifisch ultralinke. Um nicht abzuweichen, muss man sich die Losung einprägen: Keinen Krieg gegen die Religionen führen keine Verletzung religiöser Überzeugungen, kein Verbot von ihnen, sondern argumentativer Klassenkampf. Man darf nach den Klassikern den Klassenkampf gegen die Religion nicht militant ultralinks als antireligiösen Krieg führen, sondern als vom Atheismus überzeugenden Klassenkampf nicht als ein überredender, sondern auf wissenschaftliche Einsicht basierenden. Eine Kriegsansage an die Religionen sowie ihre Verfolgungen fördern diese und in Albanien kam dieser Fehler teuer zu stehen. Engels warnt die Arbeiterklasse davor, den oberflächlichen Antiklerikalismus Bismarcks, der vom Kampf für den Sozialismus ablenkte, mit seinen polizeilichen Verfolgungen der Zentrumspartei zu überbismarcken.

Die Dialektik fordert nicht das, was eigentlich auf der Hand liegt, kommandomäßiger Vernichtungskrieg der federführenden Kader gegen die Elite des Klerus, sondern zieht in ihr Denken die breiten Volksmassen mit ein, diese müssen von der wissenschaftlichen Richtigkeit der Gottlosigkeit geduldig überzeugt werden. Die politische Frontlinie ist wichtiger als die religiöse, und das wurde in der chinesischen Kulturrevolution zeitweise vertauscht. “Es heißt noch immer: der Mensch denkt und Gott (das heißt die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt“3, also ist ein angenehmer, rasch zum Helden machender Antiklerikalismus, wie er in der Französischen Revolution von 1789 auftauchte, unangebracht. Kapitalismus und Religion, diese Symbiose muss erst gesprengt werden, ehe man zum Sozialismus kommen kann.

Die deutsche Sozialdemokratie “hat sich zum Beispiel für die freie Betätigung der Jesuiten für ihre Zulassung in Deutschland für die Aufhebung aller polizeilichen Kampfmaßnahmen gegen irgendeine Religion ausgesprochen“.4 Das mag manchen, die nicht dialektisch denken können und folglich einen ultrarevolutionären Krieg gegen Gott führen wollen, als nachsichtig, als zu gemäßigt, gar als Rechtsabweichung erscheinen. Zulassung der Jesuiten wurden diese nicht in der Zeit der französischen Aufklärung in Frankreich verfolgt und verboten?

Eine zweite Gefahr für den Marxismus-Leninismus liegt darin, zu übersehen, dass die Religion gegenüber dem Staat eine Privatsache sei, so im Erfurter Programm von 1891, nicht aber gegenüber der Arbeiterpartei, denn diese spürt den entscheidenden sozialen Wurzeln der Religionen nach. “In den modernen kapitalistischen Staaten sind diese Wurzeln hauptsächlich sozialer Natur. Die soziale Unterdrückung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr entsetzlichste Leiden und unmenschlichste Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. – darin liegt heute die tiefste Wurzel der Religion“. 5. Zwar sagten die Maoisten am Ende der Kulturrevolution, die Partei führe die Gewehre. Doch es gab eben ultralinke Exzesse, die Mao gegenüber dem US-Journalisten Edgar Snow zugab, in denen der Mao-Partei die Kontrolle entglitt und statt von der wissenschaftlichen Richtigkeit des Atheismus zu überzeugen, Priester getötet wurden.

Konfuzius und Menzius als Götzen der Tradition, Beethoven als Repräsentant bürgerlicher Revolutionsmusik wurden angegriffen, bei Lin Biao, auch mit Konfuzius als Negativpersonen paarmäßig liiert, fand man klassische philosophische Texte, was ihn bereits verdächtig machte. In der Pekingoper verschwanden die traditionellen farbenprächtigen Kostüme und die Schminke aus den Gesichtern, es wurde unter Maos Frau, der Schauspielerin Jiang Quing, nur ein Stück gegeben: Das militante Rote Frauenbataillon, ein prächtiges militärisches rotmonotones Schauspiel von in grünen Uniformen steckenden Schauspielerinnen, so recht nach dem Geschmack Maos. Das Wort von einem Militärästhetizismus drängt sich hier förmlich auf. Schon 1957 hatte es im Zusammenhang mit der staatskritischen Hundert-Blumen-Bewegung eine Kampagne gegen rechts mit Umerziehung durch Arbeit gegeben, es ging fernerhin darum, Revisionismus sowohl den innerchinesischen als auch den sowjetischen abzuwürgen, Beamte und Bürokratencliquen entfernen, die sich von den Massen entfernt hatten, leitende Techniker, Verwaltungsexperten und Planungsbürokraten als Kopfarbeiter zur Orientierung aufs Kollektiv zu gängeln, eine in China vorhandene schwarze Linie mit schwarzen Klassen auszurotten. Der rote Staat hatte eine No-Go-Liste, darunter; Ehebruch und Homosexualität. Hatte? Letztere wird noch heute stigmatisiert.

China durch die russische Revolution von 1905 in den Strudel der Weltpolitik, in die heftigsten Weltstürme mit Rückwirkung auf Europa hineingerissen, sollte auf immer rot bleiben, was im September 1968 bis auf Taiwan als erreicht ausgegeben worden war, vor allem aber eine Restauration des Kapitalismus wie in der Sowjetunion zu verhindern. In Lenins Land läge ein sozialfaschistischer Staatstypus vor, aus dem Schisma zwischen den Großmächten war 1960 offene Feindschaft geworden, und die Sowjetunion hatte alle technischen Berater, auch die zum Bau einer Atombombe abgezogen. Nach Moskaus Lesart war die Kulturrevolution eine kleinbürgerliche linke Kinderkrankheit und die SED folgte dieser Auslegung. Eine auch anti-russisch-revisionistische Losung lautete: ‘Bekämpft den Privatgeist – Wandelt Euch zu sozialistisch bewussten Kämpfern‘. Durchgreifende, in hohem Wert stehende Nivellierungstendenzen sollten Extravaganzen vertilgen. Das Wort Lenins vom fortschrittlichen Asien und rückständigen Europa sollte sich erfüllen und damit der Anspruch Chinas auf die Führerschaft der Weltrevolution. Wie Lenin die II. Internationale herausgefordert hatte, so Mao das sozialdemokratische Europa mit Einschluss Russlands. Und das traurige Resultat? Eine ganze Kette von schon angedeuteten Abweichungen vom Marxismus-Leninismus.

Mit Superlativen wurde um sich geworfen. Am Anfang galt die Kulturrevolution 1966 als eine geistige Atombombe, als eine völlig neue Etappe im Weltkommunismus mit einer universalen Gültigkeit als eine neue Dimension in der Weltgeschichte. Anfang September 1976 sagte Mao auf seinem Totenbett: ‘Die größten Kulturrevolutionen in der Geschichte waren die Entdeckung des Feuers, die Erfindung der Dampfmaschine und der Marxismus-Leninismus – nicht unsere Revolution.‘ Das Letzte ist ganz richtig, aber was wäre der Marxismus ohne Pariser Commune? Uns läge der praxiserprobte Begriff der Diktatur des Proletariats zurzeit von Marx und Engels und deren richtungsweisenden Beurteilungen nicht vor. Was wäre der Leninismus ohne Oktoberrevolution? Nur die Hälfte wert. Oktober 1917 – Januar 1924, Lenin starb am 21. Januar 1924 in Gorki, gerade das war ja vor Stalin einzigartig, ein Klassiker prägt elementare Schlüsse ziehend die zweite Diktatur des Proletariats noch 3.½ Jahre. Marxisten-Leninisten lernen primär aus Revolutionen. An der 72 Tage währenden Pariser Commune nahmen Marx und Engels nicht aktiv-militant teil, lernten aber eine Menge aus ihr. Feuerdampf mag als die feurigste Produktivkraft bewertet werden, aber der Marxismus hat einen genuin humanistischen Kern. Massenrevolutionen zählen, warum setzt Mao die größte Massenrevolution außen vor? So ganz astrein mag diese nicht gewesen sein und es fallen einem die Worte von Engels ein, dass in jeder Revolution eine Menge Dummheiten passieren. Richtig war auf alle Fälle die Hervorhebung des Kerngewichts des Politischen insbesondre auch im Militärwesen. Die Abschaffung der Ränge in der Armee war komplementär der Gewichtigkeit der Politik bzw. der grundsätzlich revolutionären Grundhaltung der Soldaten. Die Entlassung des Stabschefs der Volksbefreiungsarmee, Liu Ruiquin im Dezember 1965 wurde mit der mangelnden Beachtung der politischen Qualifizierung der Truppe, also mit dieser ideologischen Vernachlässigung begründet. Im März 1966 unternahm er nach monatelangen Kritiksitzungen einen Selbstmordversuch, dessen Scheitern zu seiner Verspottung führte.6

Die chinesische Kulturrevolution, die sich nach Mao alle sieben oder acht Jahre wiederholen sollte und als städtische Bewegung definiert wurde, weist folgende Strömungsgruppierungen auf: Die radikale Linke Mao und seine Frau zusammen mit der Viererbande und Chen Boda, letzterer 1981 im Viererbandenprozess zu 18 Jahren Haft verurteilt, die Pragmatiker Zhou Enlai und Deng und die Revolutionsgewinnler wie etwa Hua Guofeng und folgende Chronologie auf: Lassen wir die Erziehungskampagne zwischen 1963 bis 1965, in der es  um den Vorrang der Korruptionsbekämpfung, den Liu für essenziell hielt, oder generell um den Konflikt Kapitalismus versus Sozialismus ging, von Mao vertreten, einmal draußen vor, so gilt generell: 1966 bis 1976 Phase der Kulturrevolution mit der Inkubationszeit November 1965 bis August 1966, hier wird eine Kritik von Yao Wen-yuan, einem späteren Mitglied der Viererbande,  an dem Theaterstück ‘Hai Rui wird aus dem Amt entlassen‘ mit dem Tenor: Kritik an der Bürokratie ist nötig, Gewalt verändert die Gesellschaft zum Positiven, nicht gute, saubere Advokaten – sodann mit dem Klimax  (Höhepunkt) der ganzen Periode:  November 1966 bis August 1967, zehn heiße Monate. Es fing an im Sommer 1966: Zwecks Praktizierung der Kulturrevolution in ganz China wurde der Unterricht an den Schulen und Universitäten gestoppt. Sie erwies sich erst mal nur als filigraner Machtkampf auf dem Rücken von ungefähr 755 Millionen Menschen. Die Pragmatisten um Deng Xiaoping, denen es primär um wirtschaftliches Wachstum, um die Entwicklung von Produktivkräften ging, achteten wenig auf die Reinheit des Marxismus-Leninismus, schon im Juli 1962 gebrauchte er das berühmt gewordene Bild von der Katze, deren Farbe egal sei, Hauptsache, sie fange Mäuse. Die zitatverhafteten Schriftgelehrten, nach allen Richtungen neueste Weisheiten und Weisungen der Klassiker verquickt mit Maos Ideen um sich werfend, scharten sich um Mao.

Es haperte in der Kulturrevolution zunächst mit den anvisierten Massenmobilisierungen. Jugendliche, in den Annehmlichkeiten der klassischen industriellen Länder großgeworden, hatten rasch spielerisch blauäugig Sichtweise und Habitus der blauen Ameisen angenommen und sich selbst gelb-roten revolutionsromantischen Dunst vorgemacht. Je perfider sie den westlichen Hochblütekapitalismus empfanden und je vehementer sie ihn verdammten, desto mehr schmolzen sie dahin in einer romantischen Liebe zu Agrarrevolutionär Mao, der in einem ökonomisch rückständigen Land residierte, als roter Ersatzvater nach dem Bruch mit dem eigenen bürgerlichen. Wir Älteren, die wir in den Stürmen der Zeit zu Frauen und Männern gereift haben noch die Bilder im Kopf von den zwischen August und November 1966 acht Mal stattfindenden gigantischen Massenaufläufen von Schülern und Studenten auf dem Tiananmen-Platz, dem Platz des Himmlischen Friedens, über den Massen junger Menschen, es sollen insgesamt 12 Millionen gewesen sein, man erkannte die Roten Garden an den roten Armbinden, strahlte die Mona Lisa der neueren chinesischen Geschichte. Diese Massenaufmärsche gelten heute, als dass revolutionäre Symbol schlechthin. TV-Bilder vom Tiananmen-Platz der in Blöcken marschierenden Roten Garden und Szenarien zerrissener Kriegsabläufe aus der Hölle des Vietnamkrieges setzten sich besonders in den Köpfen der 68er-Generation fest. Am 1. August 1966 versammelten sich eine Millionen Rotgardisten auf dem großen Platz, die zunächst Propaganda-Einheiten aufbauten. Aber schon sprach man vom roten August. In diesen Propaganda-Einheiten hatten Kinder von Mao-Vertrauten das Wort, nur Kinder proletarischer oder bäuerlicher Herkunft waren in diesen Stoßtrupps der Revolution geduldet. In zehntausenden jungen Händen wurde die von dem seit 1959 als Verteidigungsminister fungierenden Lin Biao aus Klassikerzitaten zurechtgestutzte Mao-Bibel geschwungen, ein hochgelobtes Buch, das in Wirklichkeit ein Machwerk, ein Missgriff ersten Ranges war, denn dialektisch denken beinhaltet u. a. die Fähigkeit, den allseitigen inneren und äußeren Zusammenhang der Prozesse untereinander in der Natur, in der Gesellschaft und in deren Denkreflexen zu erfassen, also darf man den Marxismus-Leninismus nicht durch eine Zitatensammlung, manchmal nur ein Satz, vermitteln wie Sprüche aus Kalenderblättern aneinandergeklebt. Das Wort Mao-Bibel ist – traurigerweise – richtig gewählt. Es ist ganz unwissenschaftlich, die wissenschaftliche Tiefe des Marxismus-Leninismus durch plakatives Zusammenlegen von Puzzlesteinen ergründen zu wollen. Drei Bücher haben im 20. Jahrhundert die politische Landschaft massenmäßig umgewälzt. Lenins ‘Staat und Revolution‘, Hitlers ‘Mein Kampf‘ und das kleine rote Mao-Büchlein. Es sind wohl die gigantischen Massenmobilisierungen, die Mao am Abend seines Lebens die Waage der Geschichte so taxieren ließ: Siebzig Prozent gut dreißig Prozent schlecht.

Am 9. September 1976 stirbt Mao, Verhaftung seiner Witwe und drei ihrer Kumpanen als Viererbande am 6. Oktober 1976, Interregnum unter Hua Guofeng, das 1981 endet. Ab 1978 Reformzeit unter Deng beschlossen auf dem dritten Plenum des 11. Parteitages mit dem Ende vom Lied:   Wirtschaftliche Effizienz ist wichtiger als der Marxismus-Leninismus. Die maoistische Revolution war eine tautologische Millionentote ohne historischen Ertrag, ohne Fortschritt im Bewusstsein der proletarischen Emanzipation. Was man aus der chinesischen Kulturrevolution lernen kann, ist, dass sie eine verfehlte, ein sich verfahrender Zickzack war. Lenin bezeichnete den Marxismus als System, Mao aber operierte bisweilen voluntaristisch. Ein diesem Ansatz bedingter Doppelfehler lag vor: Eine Revolution machen zu können und eine aus dem Überbau heraus machen zu können. Mao überstrapazierte die Dialektik, indem er tatsächlich dem Überbau Dominanz über die Basis einräumte, das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein. Das brachte den Marxismus durcheinander zu regelrechten Zitatenschlachten unter seinen Anhängern, das Wort ‘Zitatengymnastik‘ wurde geprägt. Clevere Pragmatiker konnten die theoretische Verwirrung unter den linken spinnenden Wunderheilern ausnutzen. Die den kapitalistischen Weg beschreitende rechte Seite konnte sich durchsetzen und heute leiden die Völker Chinas unter den milliardenschweren Geldbestien mit rotem Parteibuch. Die Volksrepublik China ist heute durch den während der Revolution zweimal gestürzten, zweimal wieder emporgekommenen Deng ein Land, in dem zwischen revolutionärem Partei- und Verfassungspapieranspruch und elendster sozialer Realität von Millionen nicht bloß Wanderarbeitern sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande Lichtjahre liegen. Engels sagte, in jeder Revolution werden eine Menge Dummheiten gemacht. Zwischen 1966 und 1976 waren es in China zu viele, sodass heute sowohl in der westlichen kapitalistischen Gesellschaft als auch in der volkschinesischen sich die Individuen als Karrieristen isolieren, ohne zu bedenken, wie brutal sie sich gegen die Lohnarbeiter benehmen, man sieht das nicht als tätlichen Vorgang, wie volksfeindlich sie entarten, man sieht auch das nicht als tätlichen Vorgang, und wie sehr sie kapitalistischen Volksfeinden, die sie nicht als solche erkennen, hinten reinkriechen, das kann man sich bildhaft sehr wohl vorstellen. Der Karrierismus ist eines der stinkenden Übel im Geldsystem, das Volk stellt sich selbst ein Bein, er ist ein ganz elementarer Bestandteil im Umwandlungsprozess des Humanen ins Animalische. Mit den Linkskräften musste abgerechnet werden, und zwar geschah dies durch einen großen Schauprozess mit sehr harten Urteilen.     

Heute ist die geistige Atombombe vollends als Bluff geplatzt. Es wird offiziell verkündet, dass die Kulturrevolution ein Fehler war, ja man spricht hinter der Hand von einem Trauma, von dem größten der Parteigeschichte, von einer zehnjährigen Katastrophe. Untersuchungen, Reflexionen, (Nach-)Forschungen zur Kulturrevolution sind in China nicht erlaubt. Offiziell verlautet, dass die Ereignisse seit 1981 umfassend verneint werden. Der ­heutige Staatschef Xi Jinping bestätigt das. Dabei scheinen gewisse Praktiken durchaus noch zum politischen Repertoire zu gehören. So erklärte es Xi für wünschenswert, dass junge Städter aufs Land ziehen, um dort zu arbeiten und die Armut zu bekämpfen. Xi selbst wurde während der Kulturrevolution als Jugendlicher zur Arbeit in der Provinz abkommandiert, nachdem sein Vater bei Mao in Ungnade gefallen war. “Sieben harte Jahre auf dem Land waren ein gutes Training für mich“. Aber im Großen Ganzen ist die Große Proletarische Kulturrevolution (wenhua da geming) nach zwei Jahren versandet.

Gehen wir von Überlegungen von Engels aus dem Jahr 1886 aus, so gilt Maos Kulturrevolution erst recht als missraten:  “Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die – bewusst oder unbewusst, und zwar sehr häufig unbewusst – hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehn und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Menschen handeln als um diejenigen, welche große Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in Bewegung setzen; und auch dies nicht momentan zu einem vorübergehenden Aufschnellen und rasch verlodernden Strohfeuer, sondern zu dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion“.7 Kein rasch verloderndes Strohfeuer, sondern eine Aktion, die zu dauernder in eine große geschichtliche Veränderung hinausläuft, das trifft die Sache ganz gut. Im Herbst 1968 hieß Mao, seine Claqueure an auszustreichen, zu streichen den Satz, dass die Revolution als eine in der Geschichte einzigartige zu bezeichnen sei. Das Zurückrudern begann. Wenn wir uns jetzt den Ereignisketten zuwenden, stehen uns also fantastische Zickzack- und tief innerliche, ruhelose Bewegungen bevor, Sprünge über Sprünge, Helden stürzen zu Todfeinden der Revolution herab, besonders krass beim rhetorisch geschickten Liu Shaoqi, der noch vor Deng der Nr. 2 als größter Wegbereiter des Kapitalismus eingestuft wurde. Nous verrons.

Im Sommer 1966 wurde der Unterricht an den Universitäten gestoppt. Sie erwies sich erst mal nur als filigraner Machtkampf auf dem Rücken von ungefähr 755 Millionen Menschen. Die Pragmatisten um Deng Xiaoping, denen es primär um wirtschaftliches Wachstum ging, achteten wenig auf die Reinheit des Marxismus-Leninismus, die zitatverhafteten Schriftgelehrten nach allen Richtungen neueste Weisheiten und Weisungen der Klassiker verquickt mit Maos Ideen um sich werfend, scharten sich um Mao. Es haperte in der Kulturrevolution zunächst mit den anvisierten Massenmobilisierungen. Jugendliche, in den Annehmlichkeiten der klassischen industriellen Länder großgeworden, hatten rasch spielerisch blauäugig Sichtweise und Habitus der blauen Ameisen angenommen und sich selbst gelben Dunst mit rotem Schimmer vorgemacht. Je perfider und recht oberflächlich sie den westlichen Hochblütekapitalismus verdammten, desto mehr schmolzen sie dahin in einer romantischen Liebe zu Mao, der in einem ökonomisch rückständigen Land residierte, als roter Ersatzvater nach dem Bruch mit dem eigenen bürgerlichen. Wir Älteren, die wir in den Stürmen der Zeit zu Frauen und Männern gereift haben noch die Bilder im Kopf von den acht Mal stattfindenden gigantischen Massenaufläufen von Schülern und Studenten auf dem Tiananmen-Platz, über den Massen junger Menschen, man erkannte die Roten Garden an den roten Armbinden, strahlte die Mona Lisa der neueren chinesischen Geschichte. TV-Bilder vom Tiananmen-Platz der in Blöcken marschierenden Roten Garden und Szenarien zerrissener Kriegsabläufe aus der Hölle des Vietnamkrieges setzten sich besonders in den Köpfen der 68er-Generation fest. Am 1. August 1966 versammelten sich eine Millionen Rotgardisten auf dem großen Platz, die zunächst Propaganda-Einheiten aufbauten. In diesen Propaganda-Einheiten hatten Kinder von Mao-Vertrauten das Wort, nur Kinder proletarischer oder bäuerlicher Herkunft waren in diesen Stoßtrupps der Revolution geduldet. In zehntausenden jungen Händen wurde die von Lin Biao aus Klassikerzitaten zurechtgestutzte Mao-Bibel geschwungen, ein Missgriff, denn dialektisch denken beinhaltet u. a. die Fähigkeit, den allseitigen inneren und äußeren Zusammenhang der Prozesse untereinander in der Natur, in der Gesellschaft und in deren Denkreflexen zu erfassen, also darf man den Marxismus-Leninismus nicht durch eine Zitatensammlung vermitteln wie Sprüche aus Kalenderblättern aneinandergeklebt. Das Wort Mao-Bibel ist – traurigerweise – richtig gewählt. Es ist ganz unwissenschaftlich, die wissenschaftliche Tiefe des Marxismus-Leninismus durch plakatives Zusammenlegen von Puzzlesteinen zu ergründen.

Schüler waren die ersten Täter der Kulturrevolution, Lehrer ihre ersten Opfer in einer solchen keine zufällige Liierung. Mao Zedong forderte von seinen Untergebenen eine “Entlarvung der Rinderdämonen und Schlangengeister“. Das Erscheinen Maos riss einen jungen Studenten hin: “Die reale Sonne erbebte und verschwand hinter den Wolken wie ein gerupfter Phönix“.8 Es war klug, sich mit Mao-Sprüchen zu bewaffnen, wenn zum Beispiel Priester welche parat hatten, entgingen sie Prügel durch die Roten Garden bei deren Such- und Vernichtungsfeldzügen. Ab Mitte Mai 1966 kam die Bewegung gegen die Autoritäten auf Touren, eines der ersten Opfer der instantan aus dem Boden gestampften ZGK (Zentrale Gruppe Kulturrevolution/Zhongyang wenhua geming xiaozu) und ZGzFu (Zentrale Gruppe zur Falluntersuchung/Zhongyang zhuan`an shencha xiaozu) war Peng Shen, der Bürgermeister von Peking. Ab Oktober 1966 sprang die anfänglich auf den kulturellen Bereich eingegrenzte Revolution auf das ganze Land über bis ins kleinste Dorf. Die Roten Garden befanden sich zum großen Austausch revolutionärer Erfahrungen auf landesweiten Märschen, man bedenke Chinas Flächen. Im Herbst 1966 konnten die Rotgardisten kostenlos mit der Eisenbahn fahren. Das aufpeitschende Milieu des Klassenkrieges stieg unaufhaltsam, um dem Parteielitekonzept gemäß Kader im Chaos eines kontrollierten Bürgerkriegs zu vernichten. Polizei und Armee wurden von den Maoisten angewiesen, sich zurückzuhalten, den Orkanböen freien Lauf, jugendliche revolutionäre Kreativität sich entfalten zu lassen. 1968 kam es in Nanning zu Panzergefechten und zum Einsatz von Boden-Luft-Raketen sowie der Verwendung von Napalm im Kreis Wuxuan zu Fällen von Kannibalismus.9 Am 1. Januar 1969 stellte die Volkszeitung fest, dass ein entscheidender Sieg der Kulturrevolution errungen worden sei, aber noch kein endgültiger. Mao sagte laut dem Verteidigungsminister Lin Biao, dass noch jahrzehntelang gegen alte, überlebte Klassen gekämpft werden müsse.

Mao wurde am 26. Dezember 1893 im 2. 900 Seelen zählendem Dorf Schaoschan   in der Provinz Hunan geboren. Einer der Höhepunkte der Kulturrevolution war der 73. Geburtstag Maos am 26. Dezember 1966. Fünf Tage bevor das Jahr 1967 begann, erklärte er es zu einem Jahr des Bürgerkrieges, in dem es schon nicht mehr allein um Kulturkreise von Intellektuellen und deren Korrektur ging. Und er sollte Recht behalten. Im Sommer wurden drei wochenlang zwischen Ende Juli und Mitte August Waffen aus Kasernen verteilt. Für den Einsatz im Vietnamkrieg vorgesehene Waffenbestände wurden geplündert, nach Mao die äußerste Grenze des Kontrollverlustes.10 Mao galt als der doppelt abgesicherte Große Vorsitzende, als die röteste aller roten Sonnen in unseren Herzen, als dass größte Genie der Gegenwart, er als ‘Zentrum Mao‘ war es auch als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der KPCh, er hatte die höchste politische und militärische Position inne, die Armee als Stabilisierungsfaktor, besonders im Winter 66/67 in der Hinterhand haltend. Ein Personenkult nahm überhand. Schoenhals weiß zu berichten, dass Soldaten der Volksbefreiungsarme in Zhejiang 146 Zivilisten erschossen, damit Maos Sonderzug komplikationsfrei durch den Bahnhof der Stadt fahren konnte.11 Das war die bizarrste Blüte des personenkultischen Exzesses während der Kulturrevolution, die doch jeglichen Extravaganzen den Vernichtungskrieg angesagt hatte – einen in Gigantomanie ausufernden Personenkult, den wir weder mit Marx und Engels noch mit Lenin und Stalin assoziieren dürfen, nicht einmal mit dem französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. Der Oberlobhudler Lin Biao, äußerst kreativ in der Personenkultentfaltung, ging über rationale Hemmschwellen hinweg: Jeder Satz von Mao sei die Wahrheit, ein Satz von ihm übertreffe 10.000 Sätze von uns. Und die Steigerung: Wer ihn kritisiert, muss hingerichtet werden. Gegenteiliger zum Sozialismus kann es nicht zugehen.

‘Wer sich in den Ozean der Revolution stürzen will, braucht einen Steuermann‘, skandierten die roten Knüppelbrigaden. Der tiefste Tabubruch in der chinesischen Kulturrevolution wurde in dem Umstand deutlich, dass selbst die nur wenigen überlebenden Teilnehmer an dem legendären ‘Langen Marsch‘ vom Oktober 1934 bis zum Oktober 1935 über 12.500 km nicht mehr von Gardisten Attacken verschont blieben. Alle führenden namhaften kommunistischen Parteiakteure hatten ja am so verlustreichen Marsch teilgenommen, zwei Drittel waren von den Truppen der Kuomintang ausgeschaltet worden, nur 60.000 erreichten die Berghöhlen von Yennan, einer ärmlichen, abgelegenen Region am Mittellauf des Gelben Flusses in der Provinz Shaanxi. Nach diesen herben Verlusten wurde der deutsche Militärberater Otto Braun außer roten Diensten gesetzt. Von allen Marschteilnehmern blieb nur Mao als die röteste aller roten Sonnen im Tabuzenit.

Derweil es seinen Rivalen bitter ging. Die Zentrale Gruppe zur Falluntersuchung schnüffelte in der politischen Vergangenheit von Liu Shaoqi und Deng herum, man glaubt es kaum, auch er ein Teilnehmer am Marsch, die als Bereiter des kapitalistischen Weges galten, Liu hatte sich jetzt äußerst nachteilig zu Beginn der Kulturrevolution gegen eine offene Massenmobilisierung ausgesprochen, setzte auf Kritik durch Kader,  Deng war so clever, immer rechtzeitig Selbstkritik zu üben, Liu, anfangs federführend beteiligt an der Inauguration der maoistischen Kulturrevolution, wurde der chinesische Chruschtschow genannt und starb in einer Arrestzelle langsam und qualvoll im Beisein roter Falluntersucher. Wie es Liu erging, so auch dem Verteidigungsminister Lin Biao, dem zweiten Mann hinter Mao. Er wurde unter dem Code 571 mit seinem Militärflugzeug am 13. September 1971 auf der Flucht in die Sowjetunion 1971 über der Inneren Mongolei mit 9 Generälen an Bord abgeschossen, sagen die einen, er sei verunglückt, die anderen. Auch wurde den lebhaften, nicht lange fackelnden Rotgardisten das Feuer genommen, viele wurden bereits im Winter 66/67 als Konterrevolutionäre verhaftet, noch mehr wurden aufs Land geschickt, 17 Millionen bis 1978. Das waren Ausläufer der Revolution, das Datum ihrer Beendigung ist zehn Jahre früher zu setzen. Das Bahnhofsmassaker, die Verfolgung von Homosexualität, der Foltertod des Kohleministers am 22. Januar 1967, die Quälerei Lius und die Demütigungen von Liu Ruiquin anlässlich seines gescheiterten Selbstmordversuches sind extrem kriminelle Taten und können mit dem Marxismus-Leninismus nichts gemein haben. Auch zu Grabschändungen, Hooliganismus und sexuellen Übergriffen ist es im Laufe der Kulturrevolution gekommen, das jüngste Opfer in den Revolutionswirren soll 38 Tage alt gewesen sein.12 Erinnern wir uns: Unter lautem Jubel wurde während der Pariser Commune die Guillotine verbrannt. Es kann die Behauptung der Maoisten nicht passieren, dass die Pekinger oder die am fünften Februar 1967 gegründet Schanghai Commune der Kulturrevolution größer seien als die Pariser von 1871. Ebenso muss die Außerkraftsetzung des Politbüros von Mitte 1967 bis Oktober 1968 bemängelt werden und ebenso die Einberufung des IX. Parteitages erst im April 1969, der laut Verfassung mehr als 7 Jahre früher hätte abgehalten werden müssen.13 Das Verbrennen der Guillotine 1871 zu Paris sagt genug aus: Wer den Marxismus-Leninismus und den Maoismus zusammenbringt, versteht von beiden Strömungen nichts. Ein Kopf muss fallen und ist gefallen. MARX ENGELS LENIN STALIN … denn das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt nicht das gesellschaftliche Sein, wie der Träumer Mao meint. Eine Meinung ist mein. Eine Meinung ist das philosophische Abseits.

 

ANMERKUNGEN:

  1. Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960,467
  2. Vergleiche Daniel Leese, Die chinesische Kulturrevolution 1966 bis 1976, Beck Verlag München, 2016,46
  3. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Werke, Band 20, Dietz Verlag Berlin, 1960,295
  4. Lenin, Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion, Werke, Band 15, Dietz Verlag Berlin, 1960,406
  5. a.a.O.,508
  6. Vergleiche Daniel Leese, Die chinesische Kulturrevolution 1966 bis 1976, Beck Verlag München, 2016,34
  7. Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960,298
  8. Vergleiche Liao Yiwu: Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs. S. Fischer 2023,112
  9. Vergleiche Michael Schoenhals, Kulturrevolution, in: Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte, Das Grosse China Lexikon, Institut für Asienkunde, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Primus Verlag, Sonderausgabe 2008,412
  10. Vergleiche Daniel Leese, Die chinesische Kulturrevolution 1966 bis 1976, Beck Verlag München, 2016,66f.
  11. Vergleiche Michael Schoenhals, Kulturrevolution, in: Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte, Das Grosse China Lexikon, Institut für Asienkunde, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Primus Verlag, Sonderausgabe 2008,412
  12. Vergleiche Daniel Leese, Die chinesische Kulturrevolution 1966 bis 1976, Beck Verlag München, 2016,49
  13. Vergleiche a.a.O.,413
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LITERATURLISTE:

  • Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Werke, Band 20, Dietz Verlag Berlin, 1960
  • Friedrich Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960
  • Leese, Daniel: Die chinesische Kulturrevolution 1966 bis 1976, Beck Verlag München, 2016
  • Lenin, Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion, Werke, Band 15, Dietz Verlag Berlin, 1960
  • Karl Marx, Karl / Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960
  • Schoenhals, Michael: Kulturrevolution, in: Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte, Das Grosse China Lexikon, Institut für Asienkunde, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Primus Verlag, Sonderausgabe, 2008
  • Yiwu, Liao: Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2023

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Fortsetzung: Shanghai-Börse – Die viertgrößte Börse der Welt

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