Säkularisierung, der soziale Bedeutungsverlust von Religion

Federzeichnung, um 1803 | Im Mittelpunkt dieser Karikatur steht ein Denkmal mit dem Adler als Symbol des Alten Reichs. Der bayerische Löwe verdrängt den Adler und stellt an die Stelle des Reichswappens die bayerischen Rauten. Neben dem Denkmal stehen ein bayerischer Soldat und ein staatlicher Kommissär, die die Ablieferung der Klostervermögen beaufsichtigen. Von allen Seiten schaffen Angehörige der verschiedenen Orden Truhen, Geldsäcke und Kirchengerät heran. Die Abgabe von Werkzeugen, wie Harke, Spaten und Anglergerät könnte auf den Verlust von Fischerei- und Landrechten hinweisen. | Maler: unbekannt

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Heinz Ahlreip

Heute ist es selbstverständlich, in den Schulen Texte der bürgerlichen Aufklärer Rousseau, Diderot und Voltaire zu lesen. Zu ihren Lebzeiten wurden sie verfolgt, weil sie im Geiste der französischen Aufklärung den Vollzug einer Säkularisierung wollten, deren Faustformel lautet, weltliche Fragen nicht in religiöse, sondern religiöse Fragen in weltliche aufzulösen. Sie forderten die Schätze, die Menschen von gestern an den Himmel verschleudert hatten, wieder auf die Erde zurückzuholen.

Die im menschlichen Erkenntnisprozess weltimmanent bleibende Soziologie, zwischen äußerer Objektivität und begrifflichem Denken hatte somit etwas im Gepäck: Die Durchtrennung der Nabelschnur des Menschen mit seiner Metaphysik, die ohnehin nach Immanuel Kant nur noch eine subjektive (rein subjektive Gottesexistenzsicherheit: Es gibt keinen allgemeinen Gott; es gibt ihn nur für mich) sein konnte.

Immanuel Kant, 1768 (Gemälde von Johann Gottlieb Becker)

Vor Kant hatte bereits der Rationalist Christian Wolff auf der andren Seite vertreten, dass im Wesen des Dinges der Grund von allem liege, was ihm zukomme. Zudem vertrat er, dass das Gute nicht durch Gottes Wille gut ist, sondern durch sich selbst; Moral also nunmehr von der Theologie als unabhängig bestimmbar war. Im Rationalismus Wolffs strahlt die Sonne der im Dienst des Lebens stehenden Wissenschaft. Eine Symbiose Wolff-Kant ergäbe die Überholtheit der Kardinalfrage des Okkasionalismus von Arnold Geulincx und Nicolas Malebranche, die sich nach der strengen cartesianischen Trennung von Körper und Geist ergab. Zwei gleichzeitig aufgezogene Uhren geben parallel immer die gleiche Zeit an, es ist Gott allein, der die Exaktheit verbürgt und Körper und Geist in rationale Übereinstimmung bringt.  Das gehört noch ganz der alten philosophischen Welt an.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
porträtiert von Jakob Schlesinger, 1831.

Gott und Metaphysik sind heute für uns Fremdwörter geworden und es hat sich gezeigt, dass der Mensch und die Welt für sich bestehen können, dass der Ausspruch: ‘Gott und die Welt‘ und Georg Wilhelm Friedrich Hegels Aussage, „ohne Welt ist Gott nicht Gott“, Schnee von gestern ist. Die Materie befindet sich in ständig dialektischer Bewegung. Im Großen der Philosophie ist statt Gott Dialektik zum Schlüsselwort gegenwärtiger Wissenschaftlichkeit geworden. Es wäre schön, wenn es so wäre; Gott aber hat als Geldgott sich bis heute gehalten. Geld ist heute das fremde Wesen, das der Mensch in göttlicher Weise anbetet, so dass die Dialektik heute mit einem neuen, die Natur herabwürdigenden Gott ringt. “Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an. Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden“ (Karl Marx, Zur Judenfrage, Werke, Band 1, Seite 375).

Auf wissenschaftlicher Ebene ist der Mensch nicht länger als Kreatur Gottes bestimm- und verhandelbar. Insofern verhalten sich Aufklärung und Säkularisierung affin zueinander, beide beinhalten Befreiung aus spekulativer Vereinnahmung durch ideologiegebundene Kreise von Klassenherrschaften, aber alles sehr zahm: Strebte die bürgerliche Aufklärung politisch einen aufgeklärten Absolutismus über den Weg der Prinzenerziehung an, so wurde die Säkularisierung im bürgerlichen Kontext nie als ein Zwischenglied zum Vergesellschaftungsprozess der Produktionsmittel gedeutet und konnte so unter bürgerlichem Horizont auch nicht gedeutet werden.

Es hat sich gezeigt, dass antifeudale Weltbilder nicht ohne religionskritische Gehalte auskommen können und dass wissenschaftlich fundierte Religionskritik im Feudalismus essentieller ist als im Kapitalismus.  Religionskritik, ja brüske Zurückweisung metaphysischer Anwandlungen, ist zum Markenzeichen des bürgerlichen ‚Neuen Menschen‘ geworden. Am dichtesten touchiert der mechanische Materialismus französischer Provenienz im 18. Jahrhundert als Kulmination europäischer Aufklärung: Den Atheismus, der in der französischen Revolution, ab dem Sturm auf die Bastille, in ihrer bilderstürmerischen, oft den Klerus karnevalesk verhöhnenden Entchristianisierungsphase 1793/94 ihren weltanschaulich-kämpferischen Höhepunkt fand. Am 23. November 1793 verabschiedete der Nationalkonvent ein Gesetz, das alle Kirchen von Paris den Konfessionen entzog und zu “Tempeln der Vernunft“ machte und unter Sprengung christlicher Feiertage verlangte, dass an jedem Décadi (zehnten Tag) des neuen Revolutionskalenders das “Fest der Vernunft“ gefeiert werden solle. In dieser brillanten Phase wurde die Ernte der französischen Aufklärung eingefahren. Zugleich endete die politisch als Reich der Vernunft versprochene, bürgerliche Republik in einer in der Weltgeschichte bisher unbekannten Bereicherungsorgie der Bourgeoise, die die Kinder des Vaterlandes über die nationalen Grenzen hinaustrieb. 

Im Vergleich mit der klassischen bürgerlichen Revolution in Frankreich steht heute das Einfahren der Ernte der marxistisch-leninistischen Aufklärung in Deutschland noch aus, auch sie wird kulturrevolutionär wirksam werden: Christliche Feiertage sprengen und vom ersten Mai, dem revolutionären Kampftag der Arbeiterklasse, bis zum fünften Mai, dem Geburtstag von Karl Marx, ein buntes Fest der Arbeiter und Bauern zelebrieren.
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