Yenni Kellermann
Das Kunststück des Neoliberalismus
Die systemerhaltende Macht ist nicht mehr repressiv, sondern verführend
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Die Vermögen in Deutschland sind immer ungleicher verteilt. Heute besitzen die 45 reichsten Haushalte soviel wie die Hälfte der Bevölkerung. Dennoch wählten nur etwa 30 Prozent der WählerInnen die zwei linken Parteien.
Ich frage mich, warum das neoliberale Herrschaftssystem dennoch stabil bleibt? Warum gibt es kein großes Aufbegehren, warum laufen die punktuellen Widerstände so schnell ins Leere und weshalb formiert sich keine umfassende Protestbewegung trotz der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich? Ich denke ein wesentlicher Grund ist, wie Macht und Herrschaft heute funktionieren:
Wer ein Herrschaftssystem erhalten will, muss aufkommenden Widerstand schnell beseitigen. Das gilt auch für das neoliberale Herrschaftssystem. So hat Margaret Thatcher als Vorkämpferin des Neoliberalismus die Gewerkschaften als „Feind im Inneren“ bezeichnet und gewaltsam bekämpft. Gewaltsame Eingriffe zur Durchsetzung der neoliberalen Agenda ist jedoch nicht die systemerhaltende Macht mit der wir es heute zu tun haben.
Wenn früher Fabrikarbeiter durch Fabrikeigentümer brutal ausgebeutet wurden, zog diese Ausbeutung möglicherweise Proteste und Widerstände nach sich. Aufgrund dieser Symptomatik und der sich wechselnden Machtstellung war die Möglichkeit und die Gefahr einer Revolution, die das herrschende Produktionsverhältnis umstürzen würde, zumindest faktisch gegeben. In diesem repressiven System waren sowohl die Unterdrückten, als auch die Unterdrücker selbst, sichtbar. Es gab ein konkretes Gegenüber, einen sichtbaren Feind, dem der Widerstand galt.
Dem Neoliberalismus ist das Kunststück gelungen, aus dem unterdrückten Arbeiter einen selbst ausbeutenden Arbeiter zu generieren. Durch das Dogma von Flexibilität, dem Druck auf dem Arbeitsmarkt und der Abstiegsangst, wurde der Arbeiter selbst zu seinem Feind. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich dem Druck nicht standhalten zu können. Dem Arbeitnehmer wird eingeredet: Wenn DU keine Arbeit findest, dann ist dies DEINE Schuld und wenn du zu wenig verdienst, dann ist dies DEINE Schuld. Man problematisiert sich selbst anstatt die Gesellschaft. Eine Abwärtsspirale, aus der ein einzelner Arbeiter aus eigener Kraft nicht mehr aussteigen kann, ist entstanden. Und so verwandelte sich der Klassenkampf, also der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, langsam zu einem inneren Kampf jedes einzelnen Arbeiters und entzweite die klassische Arbeiterschaft.
Auch das Dogma der Flexibilität und Effizienzlogik auf dem Arbeitsmarkt eröffnete der Überwachung Tür und Tor. Noch in den 1980er-Jahren wurde heftigst gegen die Volkszählung protestiert. Es war eine Zeit, in der man glaubte, dem Staat als Herrschaftsinstanz gegenüberzustehen, der den Bürgern gegen deren Willen Informationen entreißt. Diese Zeit ist längst vorbei. 30 Jahre später geben wir private Informationen in sozialen Netzwerken und für Rabattsysteme aus freien Stücken Preis und erhalten so eine gefühlte Freiheit, die uns die Möglichkeit nimmt, eine kritische Gegenbewegung oder gar Proteste dagegen zu etablieren: Wogegen auch? Gegen sich selbst?
Diese Herrschaftstechnik des Neoliberalismus zerschlägt jeden möglichen Widerstand auf eine sehr effektive Art und Weise: würde sie Freiheit unterdrücken und angreifen, wäre sie längst nicht so stabil. Die Stabilität des neoliberalen Regimes ist nur deshalb unverrückbar, weil das Regime längst immun gegen jeden Widerstand geworden ist. Und als Mittel zur Immunisierung jeder Staatskrise wird in der heutigen Zeit stets die scheinbare Freiheit, die den Individuen durch den Neoliberalismus geschenkt wird, verwandt, statt die Freiheit des Einzelnen zu unterdrücken. Die Unterdrückung der Freiheit würde schnell Widerstand provozieren, hätten die Unterdrückten noch ein Bewusstsein dafür. Stattdessen beginnen im Neoliberalismus die einzelne Personen damit, sich gegen sich selbst und ihre Grundbedürfnisse zu richten, um sich von den Menschen, die im bestehenden System gescheitert sind und sich nicht selbst optimieren konnten, abzugrenzen.
Die groteske Logik unserer Zeit beruht auf der Ausbeutung der Freiheit selbst, was ein Aufbegehren gegen das Regime für die Menschen undenkbar macht..
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Foto: Hinzugefügt von der Redaktion AmericanRebel