Fiete Jensen

Nachbetrachtungen zur Berliner Manifestation der 242 Tausend

Autor Fiete Jensen

Fiete Jensen

Das Volk ist wieder in Bewegung. Seit Mai, wo das neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) im bayrischen Landtag verabschiedet wurde, gab es etliche Protestaktionen und Großdemonstrationen mit Zehntausenden von Menschen. Junge Menschen setzte in München mit einer Demonstration mit mehr als 2000 Teilnehmer/innen ein starkes Zeichen gegen eine reaktionäre Politik und einem Überwachungsstaat. Im Hambacher Forst protestierten 50 Tausend Menschen gegen die Vernichtung der Natur und der Gier nach Profiten durch den Energiekonzern REW und in Dresden gingen 10 Tausend Menschen gegen Rassismus und Ausgrenzung auf die Straße. Am 14. Oktober demonstrierten in Berlin 242 Tausend Menschen  unter dem Motto: »Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung!« Die Größe der Demo-Teilnehmer/innen zeigt, wie gewaltig die Empörung und der Widerstand gegen die Regierung des Kapitals ist.

Schon im Vorfeld gab es Kritik am Aufruf und an der Teilnahme an der Berliner Demonstration, sodass einige Organisationen gar nicht und andere nur halbherzig zur Teilnahme aufriefen. Das u. a. auch Politiker/innen wie Andrea Nahles und Heiko Maas, Leute diese Demo unterstützten, dessen Partei, die SPD, ja selbst mitverantwortlich für die katastrophale Lage und den zunehmenden Rassismus im Land sind, irritierte viele demonstrationsbereite Menschen und sie blieben zu Hause. „Ich halte es für sehr wichtig, dass die Menschen auf der Straße waren. Frau Nahles war ja nicht zu sehen. Und nur weil sie demagogisch ein paar nette Worte über die Presse verbreitet, ist sie nicht persönlich dabei. Ich denke, dass die meisten Teilnehmer/innen ihr sowieso nicht mehr vertrauen.“ schrieb Diethard Möller von Arbeit Zukunft in einem Kommentar.

Und weiter: „Die Kritik an der Demo ist aus meiner Sicht vor allem eine Kritik an der eigenen Inaktivität. Die aufgezeigten Klassenpositionen zur Migration sind richtig, aber sie müssen eben von irgendjemand in die Demo hinein getragen werden. Das ist die Aufgabe von Revolutionären und Kommunisten. Wir können die Menschen nicht dafür kritisieren, dass sie das nicht sind. Im Gegenteil! wir müssen uns freuen, dass sie auf die Straße gehen, wenn auch teilweise mit falschen Vorstellungen. Aber auf der Straße ist es möglich in der gemeinsamen Demo, im gemeinsamen Kampf mit ihnen zu sprechen und zu arbeiten – gegen Illusionen und bürgerliche Einflüsse (…)“.
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Schauen wir uns die Situation einmal etwas genauer an

Ich habe für American Rebel einige Einschätzungen, Artikel, Berichte, Ausarbeitungen und Aufsätze über die Demo und die Veranstalter zusammengetragen, lasst uns hier darüber diskutieren!

Für die zur Verfügung gestellten Beiträge danke ich den Autoren/innen und hoffe das die vertretenen Ansichten allen die Möglichkeit geben in die Diskussion ein zu steigen. Es ist möglich dieser Sammlung weitere Texte hinzuzufügen. Bitte schickt diese an: AmericanRebel(at)gmx.net.
Nutzt bitte auch die Kommentarfunktion am Ende dieser Seite!

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Inhalt

Autor Titel Erstveröffentlichung
Dagmar Henn Aufbruch ins Ungefähre – Kritik eines Aufrufs Das kalte Herz
Martin Emko 242.000 Leute demonstrierten am Sonntag (…)
Anhang von Andreas Grünwald:
Migration, Ein- und Zuwanderung bei Marx, Engels, Lenin
Einheit-ML
Diethard Möller Berlin, 240.000! #unteilbar war #unübersehbar Arbeit-Zukunft
Eren Gültekin #Unteilbar: Wie geht es nun weiter? NeuesLeben/YeniHayat

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Dagmar Henn
(aus Das kalte Herz, 12. Oktober 2018)

Aufbruch ins Ungefähre – Kritik eines Aufrufs

Dagmar Henn

Am kommenden Samstag findet in Berlin eine Demonstration statt, zu der eine beeindruckende Liste von Organisationen aufgerufen hat; auch viele, die traditionell auf der Linken verortet werden. Das Ganze nennt sich „Unteilbar“, und die Hauptlosung lautet „Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung!“
Vorneweg – mich hätte bereits die Verwendung des Begriffs „offene Gesellschaft“ ferngehalten. Mein Gedächtnis raunt mir zu, dabei handele es sich um einen antikommunistischen Kampfbegriff; die Kombination „offen und frei“ gibt dem Ganzen schon einen starken Beigeschmack von McCarthy, zumindest, wenn die eigene historische Erinnerung bis zum Vietnamkrieg zurückreicht.

Dass der erste und der zweite Teil der Hauptlosung sich eigentlich feindlich gegenüber stehen müssten, weil sie völlig entgegengesetzte politische Wurzeln haben (Solidarität ist eben nicht Caritas, nicht Mildtätigkeit, sondern wechselseitiger Beistand von Menschen identischer Interessenlage), ist auch noch recht offensichtlich. Ehe wir aber in die Tiefen des Textes steigen und versuchen, die Abgründe auszuleuchten, sind einige Erklärungen nötig, zumindest für all jene, die selbst keine Erfahrungen damit haben, wie solche Texte entstehen.

Es handelt sich um einen Bündnisaufruf. Das ist der erste wichtige Punkt, denn von ihm lässt sich einiges ableiten, unter anderem das Recht, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.

Bündnisse sind nie eine einfache Sache; schlicht formuliert, stehen sie immer vor der Wahl zwischen Breite und Inhalt; je mehr beteiligt sind, desto unschärfer wird der größte gemeinsame Nenner. Jede einzelne beteiligte Organisation oder Gruppe muss die Entscheidung treffen, ob ihr der verbliebene Inhalt noch genügt, oder ob ein Punkt erreicht ist, an dem der Aufruf nicht mehr mitgetragen werden kann.

Man kann und muss also davon ausgehen, dass jede beteiligte Organisation diese Frage positiv entschieden hat.

Der Text eines solchen Bündnisaufrufs ist nichts, was eine einzelne Person mal eben geschrieben hat. Als Textform ist er mit einem Vertrag zwischen mehreren Parteien vergleichbar, der mit relativ viel Zeitaufwand ausgehandelt worden ist. Im Regelfall braucht ein solcher Aufruf mindestens eine Wochenendsitzung von Vertretern der auslösenden Organisationen, und danach noch wenigstens einen regen Mailverkehr, in dem um einzelne Sätze oder Worte gerungen wird. Im Gegensatz zu Texten, die von einzelnen Personen verfasst werden, ist also jeder Satz wohl abgewogen und mehrfach überprüft; damit besteht ein ganz anderer Grad von Verantwortung für den Inhalt, als bei einem Zeitungsartikel oder einem Kommentar. Es ist völlig legitim, diese Aussagen ernst zu nehmen und auf ihren Gehalt zu prüfen, bis hinunter auf die Ebene impliziter Aussagen und erkennbarer Auslassungen.
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Betrachten wir also diesen Aufruf so genau wie möglich

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„Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig.“

Was behauptet dieser Satz? Vor allem, Rassismus und Menschenverachtung seien bis vor einem unbenannten Zeitpunkt in jüngerer Zeit nicht „gesellschaftsfähig“ gewesen. Man kann davon ausgehen, dass der Zeitpunkt, auf den Bezug genommen wird, die Grenzöffnung des Sommers 2015 ist, wenn nicht gar im Grunde auf noch später liegende Wahlerfolge der AfD angespielt wird.

Aber ist dieser Satz wahr? War die bundesdeutsche Gesellschaft vor vier Jahren weniger rassistisch, als sie es heute ist? Ist die Menschenverachtung nicht spätestens seit der von Wolfgang Clement verantworteten ‚Parasiten‘-Broschüre „gesellschaftsfähig“? Die Langzeit-Studie von Heitmeyer zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit belegt durchgängig beeindruckende Werte. Wer diese Studien kennt, dem wird allerdings auffallen, dass in dem Aufruf zwar von Menschenfeindlichkeit gegenüber Muslimen die Rede ist; die Gruppe, die noch weit stärker Opfer besagter Menschenfeindlichkeit wird als jene wird im Aufruf aber nicht benannt – die ‚Langzeitarbeitslose‘ betitelten einheimischen Armen. Hier hat nicht nur Hartz IV dazu geführt, dass jede Wahrnehmung für Erwerbsgeminderte oder gar Alleinerziehende verschwunden ist, weil sie hinter dem Etikett ‚Langzeitarbeitslose‘ für HartzIV-Bezieher völlig verschwinden; es wurde unter dem heuchlerischen Titel ‚Fordern und Fördern‘ auch ein Sozialstrafrecht etabliert, das zu einer tiefen Verrohung der Binnenverhältnisse der besitzlosen Klassen führte.

Wenn dieser Zusammenhang nicht erwähnt wird, dann deshalb, weil seine Benennung die Breite des Bündnisses verringert hätte. Fröhliches Rätselraten, welcher der Beteiligten hier die Verantwortung trägt. Festzuhalten bleibt jedenfalls, der erste Satz ist eine blanke Lüge.

„Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität.“

Dieser Satz spielt mit dem Unbewussten. Denn die Steigerung undenkbar-unsagbar-Realität macht nur Sinn, wenn sie das Bild eines Genozids aufrufen soll. Unsagbarkeit, das ist ein gesellschaftliches Tabu, etwas Unsagbares ist etwas, das von den Hörern der Aussage mit Ausgrenzung oder Verachtung geahndet wird. Undenkbar, da bewegen wir uns im Bereich psychischer Verbote. Was heute Realität sein soll, muss gestern als so ungeheuerlicher Verstoß gegen jedes Ethos gegolten haben, dass es nicht einmal als Fantasie, ja, nicht einmal als Dystopie vorstellbar war.

Nun, mir fallen aus der jüngeren Geschichte einige Dinge ein, die diesen Kriterien zumindest ansatzweise entsprechen. Die Bombardierung Belgrads beispielsweise. Die ökonomische Strangulation des griechischen Volkes. Der militärische Aufmarsch der NATO an der russischen Grenze. Alles Dinge, die undenkbar waren und sein mussten, weil sie Variationen über das Thema der Brandschatzung Europas durch die Hitlerfaschisten darstellen. Die aber die Strecke vom Undenkbaren zur Realität relativ mühelos hinter sich gebracht haben.

Allerdings ist diese Realität sicher nicht gemeint; Kriegsführung und deutsche Beteiligung daran, militärisch oder ökonomisch, kommen im Aufruf nicht vor. Was kann also dann gemeint sein? Unterhält die AfD irgendwo in Deutschland geheime Vernichtungslager, die nur mir bisher entgangen sind? Werden quer durch die Republik Flüchtlinge durch die Straßen gehetzt und erschlagen?

Nein, diese Realität gibt es nicht. Der Kontext des Aufrufes erzwingt eine Verortung dieses Tabubruchs auf dem Feld des Rassismus. Nur leider hat, wenn man mal von der hysterischen Willkommenspropaganda absieht, die wohl bei einigen den Eindruck erweckte, jetzt sei alles gut, gar keine massive Veränderung stattgefunden. Wer erinnert sich noch an die Kampagne der hessischen CDU gegen die doppelte Staatsangehörigkeit? An die vor Rassismus triefenden Artikel über die ‚Pleitegriechen‘ quer durch die deutsche Mainstreampresse? Oder die ebenfalls sehr traditionelle Darstellung Russlands und seiner Menschen, die entweder idiotische Alkoholiker oder verschlagene Finsterlinge sein müssen? Nichts davon kollidierte auch nur ansatzweise mit der ‚Willkommenskultur‘.
Eine auffällige Veränderung der gesellschaftlichen Debatte gab es allerdings. Die Wahrnehmung der Grenze zwischen Reden und Handeln wurde (und ich fürchte, zielgerichtet) geschliffen. Tendenzen dazu gab es bereits davor; sie äußerten sich in unsauberen Losungen wie „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“, dessen eine Lesart ein legitimer Hinweis auf die historischen Verbrechen ist, dessen andere Lesart aber tatsächlich eine Meinung zum Verbrechen erklärt.

In meinem Text „Die dunkle Seite“ habe ich versucht, anhand der Kämpfe im Donbass herauszuarbeiten, wo die Frontlinie zwischen Faschisten und Antifaschisten verläuft. Der Kernpunkt, das Konzentrat gewissermaßen, war die Haltung Menschen gegenüber. Die antifaschistische Position erkennt an, dass Menschen lernfähig sind; dass sie Fehler begehen, aber Fehler auch korrigieren können. Es liegt außerhalb der historischen Kenntnisse der Meisten heute, aber Organisationen wie das Nationalkomittee Freies Deutschland konnten nur unter dieser Vorgabe existieren, so wie der Aufbau eines antifaschistischen Staates auf deutschem Boden nur unter dieser Vorgabe überhaupt möglich war. Die Schwelle, ab wann dem ehemaligen Feind Erkenntnis und Entwicklung abgesprochen wurden, lag sehr hoch, definitiv oberhalb von Mord; wie sonst hätte man mit ehemaligen Wehrmachtssoldaten umgehen können, die an der Ostfront eingesetzt waren – nur wenige von ihnen konnten sich dem mörderischen Geschehen entziehen. Der historische Antifaschismus gibt sein Gegenüber selbst dann nicht völlig auf, wenn es Blut an den Händen hat.

Der historische Faschismus handelte entgegengesetzt. Für die Nazis waren Worte bereits todeswürdige Verbrechen; in den letzten Jahren gab es Todesurteile, die auf in privaten Gesprächen geäußerten Witzen beruhten. Da der Mensch, an diesem Punkt ganz nach konservativer Lesart (konservativ hier im Sinne von Burke) als determiniert, von Rasse und Abstammung unabänderlich geprägt gesehen wurde, konnten Worte mit Taten gleichgesetzt werden, da die Gesinnung bereits feststeht und ihre Umsetzung in eine Tat nur noch vom günstigen Zufall abhängt, der Träger falscher Gesinnung also unausweichlich zukünftiger Täter ist.

Wir haben oben bereits festgestellt, dass die ‚Realität‘, auf die sich der zitierte Satz des Aufrufs bezieht, nur in Aussagen bestehen kann. Während der Satz Assoziationen an sehr reale physische Verbrechen aufruft, meint er Ereignisse auf dem Feld der Worte. Durch die eröffnete Spanne zwischen der Assoziation und der wirklich möglichen Aussage setzt er aber Worte mit Handlungen gleich. Auf welcher Seite der Frontlinie zwischen Faschisten und Antifaschisten befindet sich also dieser Satz?

„Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen.“

Wer ist der Angreifer? Auf dieses Merkmal stößt man immer wieder im Text dieses Aufrufs. ‚Es findet statt‘, ‚es wird‘. Würde man mir diesen Satz einzeln vorlegen, ich würde den Angreifer in der herrschenden Klasse und ihren politischen Handlangern sehen, anders formuliert, in der Regierung Merkel und den Länderregierungen. Ja, selbst im Bereich der Religionsfreiheit, auch wenn mir hier eher die Freiheit von Religion und das Recht darauf einfällt, und die Leidenschaft von Regierungen selbst unter Beteiligung der Linkspartei, auf mehrheitlich nicht religiösem Gebiet Kindergärten, Jugendhilfeeinrichtungen, Krankenhäuser den Kirchen zuzuschanzen; eine administrative Zwangschristianisierung. Gemeint ist sicher einzig die Religionsfreiheit der Moslems, und auch hier insbesondere die Freiheit, den rechten Flügel des politischen Islam hierzulande auszuleben.

(Übrigens wiederholt sich auch im Zusammenhang mit der Frage des Islams das Muster, das so etwas wie Pegida überhaupt möglich macht: da Einwände gegen die Zwangschristianisierung in der eingewesteten Gesellschaft nicht möglich sind, verschiebt sich die vorhandene Wut darüber auf das nächstgelegene ähnliche Objekt. Der Diakonie auf die Pfoten hauen, wenn sie sich in fremdes Gebiet hineindrängt, geht nicht; dann will man sich wenigstens den Islam vom Leib halten… wenn es eine klar säkulare Linke gäbe, wäre weder die religiöse Kolonisierung noch der Sekundärnutzen aus der tabuisierten Wut möglich).

Ja, es gibt Angriffe auf den Rechtsstaat. Ich würde sogar behaupten, die Rechtsstaatlichkeit dieser Republik befindet sich im Zustand fortgeschrittener Auflösung. Das zeigt sich, nicht überraschend, besonders deutlich am Rechtsgebaren der Jobcenter, die massenweise rechtswidrig bescheiden, aber im Falle einer Klage (und erst dann, und nur im jeweiligen Einzelfall) plötzlich ihre Fähigkeit entdecken, rechtskonform zu bescheiden, um Präzedenzfälle zu vermeiden, die die rechtswidrige Praxis als Ganze beenden könnten.

Oder ich denke an einen Bundestag, der durch Überhangsmandate wächst wie ein Krebsgeschwür, obwohl seit vielen Jahren Verfassungsgerichtsurteile vorliegen, die eine Einschränkung dieser Praxis verlangen. Oder ich denke, ja, auch, an die Grenzöffnung, die legal hätte sein können, aber auf illegale Weise passierte. Ich denke an den Verfolgungsunwillen gegenüber organisierter Kriminalität wie Cum-Ex-Geschäften; an Geheimverträge wie bei Toll-Collect und demnächst sicher bei den Autobahnen. Es gibt viele Punkte, an denen sich diese Republik weit von dem entfernt hat, was einmal als Rechtsstaatlichkeit galt. Aber auch das ist wieder nicht gemeint.

Nur, wer kann tatsächlich Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat angreifen? Doch nur jemand, der die Macht dazu hat. Die Formulierung lautet ja nicht, ‚in Frage gestellt‘ oder ‚schlecht geredet‘, nein, sie heißt ‚angegriffen‘. Bei einem ‚normalen‘ Text wäre das unbedeutend. Die Meisten schludern hier und da beim Schreiben (die Verfasserin nicht ausgeschlossen). Aber bei einem Text, der durch die Hände vieler Korrektoren gegangen ist, hätte die Unterscheidung zwischen Wort und Tat gewahrt bleiben müssen.

Und warum, um des Himmels Willen, ist diese gigantische Bündelung von Organisationen sogar noch zu feige, AfD zu schreiben, wenn sie AfD meinen? Oder geht es dabei genau darum, dass dieses unscharfe Geraune weder klare Belege verlangt, noch eine Begrenzung durch die Wirklichkeit erfährt, sich also jeder das Bild so schwarzbraun zu malen vermag, wie ihm gerade genehm ist? Denn eins ist klar, die Bundesregierung können sie nicht meinen mit ihrer Kritik. Das könnte man ja nun wirklich hinschreiben.
„Es ist ein Angriff, der uns allen gilt.“

Aha. Uns allen. Mir und anderen Armen genauso wie Frau Klatten und Herrn Otto oder Herrn Piech, verstehe ich das richtig? Also, mal abgesehen von den Angreifern natürlich. Unser aller Menschenrechte sind gleichermaßen von den unbenannten Finsterlingen bedroht.
Abgesehen davon, dass es außer der Zugehörigkeit zur gleichen Gattung wenig gibt, das mich und Frau Klatten verbindet, und im Allgemeinen das, was mir gut tut oder täte, das ist, was ihr zum Nachteil gereichte und umgekehrt – wer konstituiert dieses ‚uns‘? Alle Bewohner dieses Landes? Alle Bewohner minus AfD und ihre Anhänger? Der nebulöse Angreifer kann ja schließlich nicht gleichzeitig Angegriffener sein; also muss er vom ‚uns‘ subtrahiert werden.

Volksgemeinschaft minus one, sozusagen. Und, oh je, das ist erst der erste Absatz.

„Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden.“

Wieder ein Satz, den man mit der Lupe betrachten muss. „Wir lassen nicht zu“ impliziert, dass der Zustand, dessen Abwehr angekündigt wird, noch nicht eingetreten ist; sonst müsste es heißen, „wir lassen nicht länger zu“. Die erste Aussage ist also, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegenwärtig nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass dies nur droht.
Vielleicht kann mir jemand die Adresse der Republik geben, von der hier die Rede ist. Ich kenne ein Land, dessen Regierung zwar fähig war, über eine Million Menschen ins Land zu holen, die aber leider mindestens ebenso fähig ist, die Tatsache zu ignorieren, dass Menschen ein Dach über dem Kopf benötigen und dass es bereits viel zu viele gibt, die ebendort keines haben. Ich kenne ein Land, in dem Flüchtlinge vom Mindestlohn ausgenommen werden. Ich kenne ein Land, dessen Industriekapitäne anfangen, von Fachkräftemangel zu jammern, sobald es nur noch zwei Ingenieure auf eine Stelle gibt, weil ihnen dann womöglich das Elend droht, anständig bezahlen zu müssen. Und wenn es zu wenige Tellerwäscher, Straßenkehrer oder Putzfrauen gibt, könnte auch dort das gleiche Ungemach drohen, eine Bezahlung, von der man leben kann. Ich kenne ein Land, in dem Politiker (und zwar nicht von der AfD) immer wieder laut darüber nachdenken, man müsse die Renten weiter kürzen, schließlich müssen ja die Flüchtlinge finanziert werden…

Aber vielleicht ist das nur ein böser Traum, den ich alleine träume, und in Wirklichkeit versucht niemand, Flüchtlinge als Brechstange am Sozialstaat anzusetzen, und niemand setzt sich mit elegantem Schweigen über reales Elend hinweg. Überhaupt gibt es ja in diesem Satz das übliche Problem, dass nicht benannt wird, wer hier wen gegen wen ausspielt. Es ‚wird‘, und ‚wir‘ werden das nicht zulassen.
So selbstbewusst, wie sich dieses ‚wir‘ in diesem Satz in die Brust wirft, kann man sich nur fragen, wo es denn die letzten drei Jahre verbracht hat, in denen in der Wohnungsfrage gar nichts voranging.

Übrigens, und da wird es wirklich unheimlich, die Zuordnung der Begriffe ist uneindeutig; es ist nicht klar, dass nur Sozialstaat gegen Migration gestellt wird, es entsteht vielmehr ein Dreieck zwischen den Punkten Sozialstaat, Flucht und Migration, und es stellt sich die Frage, wie ein Ausspielen von Flucht gegen Migration oder von Migration gegen Flucht beschaffen sein könnte. Leider fällt mir dazu nur die Vorstellung ein, dass reale Flucht (die für die Flüchtenden selbst ein vorübergehender Zustand mit Rückkehrabsicht ist) in Migration umgewandelt werden soll, und dass ein gegeneinander ausspielen nur bedeuten kann, dieser Umwandlung zu widersprechen. Ich kann aber im Nicht-Widersprechen, also im Übergehen des Wunsches, den Flüchtende üblicherweise haben, keinen menschenfreundlichen Akt erkennen, im Gegenteil. Schon gar nicht, wenn die deutsche Industrie wieder das Lied vom… ihr wisst schon.

„Wir halten dagegen, wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen.“

Und schon wieder kein Täter, kein Schuldiger, kein Gegenüber. Sie sollen eingeschränkt werden. Von wem? Wart ihr euch darüber nicht einig? Weil ja auch die SPD daran beteiligt ist? Weil auch die Regierung Merkel mit ihren Zensurbemühungen Grundrechte attackiert?

Ach, wie angenehm und klar sind doch Texte, die eine Haltung haben und nicht so amöbenhaft dahergekrochen kommen. Sklavensprache, nannte man das einmal, in den Anfängen des 19.Jahrhunderts, als Veröffentlichungen noch einem Zensor vorgelegt werden mussten und bestimmte politische Äußerungen nur verdeckt möglich waren. Das hübsche Kinderlied ‚Oh hängt ihn auf‘ legt davon Zeugnis ab. Oder hat es damit zu tun, dass die Regierung Merkel ja irgendwie zu den Guten gezählt werden muss, also zum ‚uns‘ dazugehört, und nur die böse AfD die Grundrechte einschränkt – halt, die regieren ja gar nicht, die können nicht – pfui, weg mit dieser bösen Realität, wenn sie die Moral stört.

„Das Sterben von Menschen auf der Flucht nach Europa darf nicht Teil unserer Normalität werden.“

Das ist, auf eine Distanz von wenigen Sätzen, das vierte Mal, dass eine unmittelbare Vergangenheit behauptet wird, die es so nie gab. Eine Vergangenheit, in der es in Deutschland keinen Rassismus und keine Menschenverachtung gab (in ganz Deutschland, nicht nur in der DDR), in der Humanität und Menschenrechte gesichert waren und nichts gegen den Sozialstaat ausgespielt wurde (auch keine schwarze Null oder Demografie oder Bankenrettung oder…). Üblicherweise wird eine Utopie in die Zukunft gelegt; in diesem Fall liegt die Utopie in der Vergangenheit. Nun, auch wenn es meine persönlichen Fähigkeiten übersteigt, zu erkennen, an welchem Zeitpunkt wir uns in dieser Utopie befanden, die Autoren des Aufrufs werden schon gewusst haben, wann sie meinen.

Die Transsahararoute existiert seit 25 Jahren, seit einem Vierteljahrhundert ertrinken Menschen im Mittelmeer, die sich, aus welchen Gründen auch immer, auf den Weg nach Europa machten; das ist kein Teil unserer Normalität? Wann wäre es das, nach fünfzig Jahren? Nach hundert? Da wird nichts, da ist.

Und was ist mit dem Sterben, das abseits der Transsahara-Mittelmeerroute geschieht, im Jemen zum Beispiel, mit deutscher Billigung und unter Einsatz deutscher Waffen? Welcher Partikel zum Menschsein fehlt jenen Opfern auch deutscher Politik, dass ihr Sterben als Normalität kein Problem darstellt? Ist es der unbedingte Wille nach Europa, diese innere Unterwerfung unter den Kolonialherren, der dazu führt, dass der eine Tod so viel näher geht als der andere? Die Tatsache, dass die verhungernden Kinder im Jemen nicht in der Tagesschau gezeigt werden? Seit wann lässt sich eine (zugegeben, irgendwie) oppositionelle Bewegung von den geopolitischen Entscheidungen ihrer Regierung vorgeben, welchen Opfern sie ihr Mitgefühl widmet?

„Europa ist von einer nationalistischen Stimmung der Entsolidarisierung und Ausgrenzung erfasst.“

Ja, es sind wieder nicht die sozialen Barbareien gemeint, die diversen europäischen Nachbarn aufgezwungen wurden. Nicht diese Entsolidarisierung und Ausgrenzung ist gemeint, nicht die jungen Spanier oder Griechen, die keine Arbeit finden, oder die griechischen Rentner, denen jüngst die 23. Rentenkürzung verordnet wurde.

Nein, nicht die deutschen Spardiktate sind die nationalistische Stimmung. Es ist auch nicht der Aufmarsch an der russischen Grenze. Soll ich raten? ‚Entsolidarisierung‘ bezieht sich auf die Weigerung anderer europäischer Länder, von Deutschland Flüchtlinge zugeteilt zu bekommen oder die politische Position zur Migration nachzuvollziehen. Ja, es gibt wirkliche nationalistische Stimmungen, aber es gibt auch wirkliche Fragen der Souveränität; und Merkeldeutschland und jeder, der sich mit Merkeldeutschland identifiziert, mit seiner gnadenlosen Exportwalze, seiner Spargarotte und seiner großdeutschen Überheblichkeit, sollte das Wort ‚Nationalismus‘ als Vorwurf gegen andere gänzlich aus seinem Sprachschatz streichen.

Übrigens, die Ukraine ist mit diesem Satz bestimmt nicht gemeint. Diese echten Nazis gelten als gute Demokraten. Das haben sie mit syrischen Kopfabschneidern gemein…

„Kritik an diesen unmenschlichen Verhältnissen wird gezielt als realitätsfremd diffamiert.“

Es sind, das versteht sich von selbst, keine unmenschlichen Verhältnisse in Deutschland, sondern bei unseren Nachbarn. ‚Wir‘ sind schließlich moralisch überlegen (AfD und Sympathisanten ausgeschlossen).
Nachdem sich der Satz nicht auf die ‚nationalistische Stimmung‘ beziehen kann, muss er sich auf das ‚Sterben von Menschen auf der Flucht nach Europa‘ beziehen. Die Herstellung des Zusammenhangs gelingt nur rückwärts, durch Nachdenken darüber, was als ‚realitätsfremd diffamiert‘ wird.

Da fällt mir ein einziger Punkt ein. Die Forderung nach offenen Grenzen, die in so gut wie jedem anderen europäischen Land tatsächlich als völlig realitätsfremd gilt. Interessant, dass sie in diesem Aufruf nur implizit auftaucht. Das lässt zwei Schlussfolgerungen zu, zwischen denen ich, ehrlich gesagt, unentschlossen bin: entweder die gesamte Autorengruppe des Aufrufs ging davon aus, dass sich dieser Punkt von selbst versteht und daher nicht mehr explizit erwähnt werden muss, oder die Aussage wurde so gut verborgen, weil sonst die Breite des Bündnisses darunter gelitten hätte.

Auch hier muss man die Aufmerksamkeit auf das nicht Gesagte lenken. Es sind nicht die Verhältnisse, die Menschen zur Flucht treiben, die als Ziel der Kritik benannt werden, sondern die Ausgestaltung der Fluchtstrecke. Wie an allen anderen Stellen, die sich dafür anbieten würden, unterbleibt jede Stellungnahme gegen die Bundesregierung, ihre Kriegspolitik, die deutschen Konzerne und die Folgen ihrer wirtschaftlichen Macht; nicht einmal der militärisch-industrielle Komplex und seine Waffengeschäfte dürfen benannt werden.

„Während der Staat sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft, die Überwachung ausbaut und so Stärke markiert, ist das Sozialsystem von Schwäche gekennzeichnet: Millionen leiden darunter, dass viel zu wenig investiert wird, etwa in Pflege, Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung.“

Der Staat. Es wird zu wenig investiert. Gibt es noch Menschen in Berlin, oder werden wir von einer anonymen künstlichen Intelligenz regiert? „Das Sozialsystem (ist) von Schwäche gekennzeichnet“ – hat es sich eine Grippe zugezogen? Leidet es unter Rheuma? Man kann es mit dem Motiv der ‚unsichtbaren Hand‘ auch wirklich zu weit treiben.

Aber es ist an der Zeit, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, was eine solche Darstellung mit Sätzen ohne Handelnden bewirkt und bedeutet. Die Assoziation mit der ‚unsichtbaren Hand‘ des Marktes kommt nicht von ungefähr; sie ist ein Kerngedanke der neoliberalen Ideologie; der Reichtum der Reichen und die Armut der Armen sind gleichsam naturgegeben und daher weder zu kritisieren noch zu ändern (was übrigens nur noch wenig mit den Vorstellungen von Adam Smith, der den Begriff der ‚unsichtbaren Hand‘ im 18. Jahrhundert erfunden hat). Es ist nicht sicher, ob es nur die Feigheit vor dem Feind ist, die dazu führt, dass Handelnde in diesem Text so konsequent zum Verschwinden gebracht werden, oder ob es eine tiefe innere Nähe zum Neoliberalismus ist, eine Textvariante auf „es gibt keine Alternative“. Auf jeden Fall aber hat eine solche Beschreibung der Wirklichkeit keine befreiende Wirkung, weil sie ein Gefühl eines unabänderlichen Schicksals fördert, nicht das Wissen um die Gestaltung der menschlichen Verhältnisse durch den Menschen.

„Unzählige Menschen werden jährlich aus ihren Wohnungen vertrieben.“

Wer? Für wen? Gut, die Frage muss ich nicht jedesmal wiederholen, das wird inzwischen öde. Interessant ist, in welche Widersprüchlichkeit sich dieser Satz begibt. Unklar, ob es einem der vielen Verfasser aufgefallen ist. „Ihre Wohnungen“ sind umgangssprachlich ganz selbstverständlich die Wohnungen, in denen sie wohnen. Die Mehrzahl derjenigen, die aus einer von ihnen bewohnten Wohnung vertrieben werden, wird dies allerdings gerade, weil es nicht ihre Wohnung ist, nicht ihr Eigentum, sondern das eines Anderen, dessen Anrecht auf Verzinsung in dieser Gesellschaft höher steht als das menschliche Bedürfnis nach einer Behausung. (Und man muss hier präzise sein, denn die früher nicht grundlos ‚Mietzins‘ genannte Wohnungsmiete ist die Verzinsung eingesetzten Kapitals und berührt das Eigentum am eingesetzten Kapital selbst nur über eine sehr lange Zeitspanne hinweg. Verteidigt wird mit der Rechtsstellung der Vermieter also nicht das Recht am Eigentum, sondern der Anspruch auf das Geld, das durch Geld geheckt wird, obwohl das Grundgesetz zwar ein Eigentumsrecht kennt, aber kein Verzinsungsrecht. In Unkenntnis dieser Tatsache gerieren sich nicht nur die Freunde der Vermieter, sondern auch die kläglichen Reste ihrer Gegner stets so, als ginge es um das Eigentum selbst. Eine gesetzliche Mietobergrenze, wie sie in Deutschland immerhin jahrzehntelang bestand, ist nur ein Eingriff in den Zinsanspruch, nicht in das Eigentum).

„Die Umverteilung von unten nach oben wurde seit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben.“

Es gibt Aktivsätze im Deutschen. Wirklich, auch wenn man es angesichts dieses Textes kaum mehr glauben möchte.
„Steuerlich begünstigte Milliardengewinne der Wirtschaft stehen einem der größten Niedriglohnsektoren Europas und der Verarmung benachteiligter Menschen gegenüber.“

Hier muss ich einmal loben (keine Sorge, es dürfte dabei bleiben): irgendwer in dieser trauten Runde erinnerte sich noch an das schöne deutsche Wort „benachteiligt“, durch das hindurch man den Vorteil geradewegs riechen kann; eigentlich hätte ich bei einem sonst so ungefähr schwebenden Text das abscheuliche „sozial Schwache“ erwartet. Aber dennoch: selbstverständlich steht die Verarmung nicht den Milliardengewinnen gegenüber, sondern sie bedingen sich wechselseitig, die Verarmung durch die Hartz-Gesetze war unmittelbare Vorbedingung für die Milliardengewinne der deutschen Exportwalze, die Armut der einen ist Vorbedingung des Reichtums der anderen. „Gegenüberstehen“ ist im Deutschen allerdings keine Formulierung für kausale Zusammenhänge.

„Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein, in der Menschenrechte unteilbar, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind.“

Entwerfen kann man viel, in der Umsetzung liegt das Problem… und die Verwendung des Begriffs ‚Lebensentwürfe‘ besagt genau dies, dass man sich mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Umsetzung gerade nicht befassen will.

Wer eine ‚offene und solidarische Gesellschaft‘ wünscht, könnte aber schon am Entwurf scheitern. Hier ist er wieder, der Begriff der ‚offenen Gesellschaft‘, bei dem man an die Soros-Stiftung und Farbrevolutionen denkt, und der im Kern das Gegenteil von ‚solidarisch‘ meint. Denn Solidarität setzt die Bildung einer größeren Gruppe von Gleichen voraus, das, was man ein Kollektiv nennt; der Erfinder der ‚offenen Gesellschaft‘, Popper, war hingegen jeder Form des Kollektivs abhold. Der Begriff ‚offene Gesellschaft‘ und die mit ihm verbundene Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus (realer ethischer Gegenpole, wie weiter oben beschrieben) dienten vor allem einem Zweck – den Liberalismus von jeder Nähe zum Faschismus reinzuwaschen. Das ist so weit gelungen, dass inzwischen selbst der Neoliberalismus, der als siamesischer Zwilling des putschenden chilenischen Faschismus die politische Bühne betrat, sich im Denken einstmals fortschrittlicher Organisationen einnisten konnte wie ein Fuchsbandwurm. ‚Offen‘ ist die Gesellschaft vor allem, indem getan wird, als gäbe es keine sie prägenden kollektiven Interessen, und als gäbe es nicht in jeder Gesellschaft eine deutlich umrissene soziale Gruppe, die ihre kollektiven Interessen durch ihre wirtschaftliche Macht um ein vielfaches besser durchsetzen kann als der ganze übrige Rest. In der wirklichen Welt hat eine Studie der Princeton-University längst statistisch den Beweis geführt, dass die USA (und ohne Zweifel auch die BRD) Oligarchien sind, keine Demokratien, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sich Interesse und Willen der Bevölkerungsmehrheit in politisches Handeln umsetzen, um Größenordnungen niedriger ist, als dass sich Interesse und Willen der Kaste der Milliardäre durchsetzen.

Die ‚offene Gesellschaft‘ kennt keine Solidarität, und Selbstbestimmung wird im echten Leben durch den Geldbeutel ermöglicht, ist also, wie der Inhalt desselben, höchst ungleich verteilt. Es wirkt, als hätten die Autoren in der ganzen beeindruckenden Breite noch nie von den Käfighaltungsvorgaben von H4 gehört, nach denen jedes Verlassen des Wohnortes vom Jobcenter genehmigt werden muss… vielfältig und selbstbestimmt, aber hallo.

Vor einigen Jahren, als aus WASG und PDS die Linkspartei gegründet wurde, schien es so, als sei der Antikommunismus (eine verbrecherische Ideologie, die als Oberbegriff unter anderem den italienischen, deutschen und spanischen Faschismus umfasst) kurz davor, zu verschwinden; statt dessen hat er schlicht eine neue Lage Schminke aufgelegt. Heute unterzeichnen Vertreter von Organisationen Aufrufe mit antikommunistischen Kernvokabeln, die sich mit Grausen davon abwenden sollten, wenn ihnen ihre eigene Geschichte auch nur einen Pfifferling wert ist (ja, die VVN steht unter diesem Aufruf).

„Wir wenden uns gegen jegliche Form von Diskriminierung und Hetze.“

Ich nicht. Gegen die Oligarchen darf man hetzen, und man sollte sie diskriminieren. Ich bin sogar entschieden für eine scharfe Form der Diskriminierung, für den Entzug jedes Eigentums an Produktionsmitteln und eine scharfe Kontrolle über den Zugang zu politischem Einfluss, für diese Oligarchen selbst und ihre Funktionsträger. Wer einmal deutsche Journalisten im Gespräch mit einem dieser überlebten Ex-Feudalherren mit irgendeinem von und zu erlebt hat, wie ihm der innere Bückling die Stimme verformte, dem ist klar, dass die Spuren einer Oligarchie nicht gleichzeitig mit ihren Voraussetzungen verschwinden.

Ich würde auch keinen Aufruf ‚Gegen Hass‘ unterzeichnen. Was ist mit dem Hass auf Ungerechtigkeit? Ist das keiner? „Auch der Haß gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser“, schrieb einmal Brecht in An die Nachgeborenen. Dennoch sind sie nötig.

„Gemeinsam treten wir antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und LGBTIQ*-Feindlichkeit entschieden entgegen.“

Lange detaillierte Listen haben einen Nachteil. Wenn ich, statt zu sagen, ich bin angezogen, erkläre, ich trüge einen Büstenhalter, eine Hose, eine Strumpfhose und eine Bluse, dann erkläre ich damit gleichzeitig, dass ich barfuss bin und keine Unterhose anhabe.
Im Englischen gibt es einen Begriff für Diskriminierung aus Klassendünkel; er lautet ‚classism‘. Es ist Klassendünkel, wenn wieder vom Pöbel die Rede ist; wenn über das Unterschichtfernsehen schwadroniert wird; es ist Klassendünkel, wenn man es für erforderlich hält, Arme zu drangsalieren, weil wer nicht arbeitet auch nicht essen soll, bei jenen Empfängern von Milliarden, deren einzige Leistung im geboren werden bestand, aber schamhaft zur Seite zu blicken, wenn sie die mittlerweile verzwergten Steuern darauf auch noch hinterziehen. Es ist Klassendünkel, wenn man gerade jener Bevölkerungsgruppe, die die Hälfte ihres Einkommens schon in der Miete verliert, Rassismus vorwirft, wenn sie weitere Konkurrenten um bezahlbaren Wohnraum nicht begeistert in Empfang nimmt.
Wer wissen will, wie ausgeprägt der Klassendünkel ist, dem sind die Heitmeyer-Studien zu empfehlen. Und auch wenn ich mich mit dieser Aussage wiederhole: von allen Varianten der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist diese in der Bundesrepublik die stärkste, die Verachtung der Habenichtse.

In einem Aufruf, der vermeintlich sozial sein soll, wurde zwar penibel auf die aktuelle Erweiterung von LGBT(…)xyz*=³ geachtet, die Diskriminierung der Habenichtse kommt aber nicht einmal als Andeutung vor. Man ist solidarisch, aber nicht mit den Habenichtsen. Denn um der Erkenntnis ausweichen zu können, dass man es in einer Gesellschaft, in der der Mensch dem Menschen Wolf ist, mit den erfolgreichen Wölfen hält, solange das eigene Gesäß noch im Trockenen sitzt, muss man so tun, als hätten die erfolglosen Wölfe diese ihre Stellung frei gewählt. Denn dann, und nur dann, hätte man das Recht, sie zu verachten.
Und nun bitte ich Entschuldigung für den langen Satz, der folgt. Ich habe seine Länge nicht zu verantworten, aber sie bedrängt mich dennoch.

„Ob an den Außengrenzen Europas, ob vor Ort in Organisationen von Geflüchteten und in Willkommensinitiativen, ob in queer-feministischen, antirassistischen Bewegungen, in Migrant*innenorganisationen, in Gewerkschaften, in Verbänden, NGOs, Religionsgemeinschaften, Vereinen und Nachbarschaften, ob in dem Engagement gegen Wohnungsnot, Verdrängung, Pflegenotstand, gegen Überwachung und Gesetzesverschärfungen oder gegen die Entrechtung von Geflüchteten – an vielen Orten sind Menschen aktiv, die sich zur Wehr setzen gegen Diskriminierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung.“

Uff. Ja, wirklich ein Satz.

Und eine Matschepampe aus Selbstorganisation und Caritas, aus demokratischen Strukturen und den durchaus problematischen NGOs, mit einem Themenbündel, das das große Thema Armut weitgehend draußen hält… noch eine Liste der Variante barfuß ohne Unterhose.

Wobei nach der vorhergehenden Aufzählung der Satz nach dem Spiegelstrich wieder einen Widerspruch mit der vorhergehenden Liste enthält. Denn ‚Menschen (…) die sich zur Wehr setzen gegen Diskriminierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung‘ können nur Betroffene sein. Nicht Betroffene können sich dagegen einsetzen, aber sich nicht dagegen zur Wehr setzen. Die Liste enthält aber nur zu einem kleinen Teil Selbstorganisationen; NGOs fallen in der Regel gar nicht darunter.

NGO ist ohnehin ein Stichwort. Meine Generation wurde ja bereits darauf konditioniert, NGOs besser zu finden als Parteien. Unsere Helden waren bei Greenpeace. Die Frage, wer darüber entscheidet, mit welchen Themen sich eine NGO überhaupt befasst, ob sie demokratisch strukturiert ist und welchen Einfluss eventuelle Großspender auf die Ausrichtung ihres Handelns haben, all das wurde von der Heroisierung der ‚spektakulären Aktion‘ überlagert. Inzwischen sollte man allerdings gelernt haben, dass manche Arten von NGOs mit äußerster Vorsicht zu behandeln sind, und dass Großspenden relativ leicht dafür sorgen können, dass unmittelbaren privaten Interessen des Spenders gefolgt wird. Wer miterlebt hat, wie politischer Protest sich in manchen Fällen auf fünfminütige Fototermine von Mandatsträgern verkürzt, schon auf der kommunalen Ebene, der lernt auf einmal die zähen Prozesse in ordentlich demokratischen Organisationen zu schätzen.

Eine demokratische innere Verfasstheit ist aber keine Voraussetzung für Bündnisfähigkeit, das belegt auch die Liste der Unterzeichner dieses Aufrufs. Erstaunlich, in den 1970ern wurden gegenüber den damals noch zahlreicheren Kommunisten in der BRD gern der Vorwurf erhoben, demokratischer Zentralismus sei „nicht richtig demokratisch“. Inzwischen werden mühelos Strukturen in politischen Zusammenhängen akzeptiert, die eigentlich dem folgen, was die Nazis „Führerprinzip“ nannten. Religionsgemeinschaften sind übrigens meist auch keine demokratischen Vorzeigeobjekte, da muss man nicht einmal die DITIB bemühen, die eingeborenen Geschmacksrichtungen genügen.

„Gemeinsam werden wir die solidarische Gesellschaft sichtbar machen! Am 13. Oktober wird von Berlin ein klares Signal ausgehen.“
Weißes Rauschen.

„Für ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit!“

Also gegen den EU-Vertrag? Dem völlig fremd ist, was immer mit ‚sozialer Gerechtigkeit‘ gemeint ist, der nur vier Grundfreiheiten kennt, die Freiheit des Kapitalverkehrs, des Warenverkehrs, der Dienstleistungen und als letztes die Arbeitnehmerfreizügigkeit… mehr Freiheit ist nicht vorgesehen. Oder doch nicht?

Und wie steht es denn mit den Artikeln 23 bis 27 der UN-Menschenrechtscharta? Recht auf Arbeit, irgendwer? Hat die elende Lage der Alleinerziehenden in Deutschland irgend etwas mit „Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung“ zu tun?

Diese Artikel 23 bis 27 passen nicht in die Welt der EU-Verträge. So einfach ist die Nummer nicht mit den Menschenrechten. Da sollte schon etwas klarer sein, welche Menschenrechte gemeint sind, und in welcher Form sie in Bezug zu Europa gebracht werden sollen… aber pfui, das ist ja konkret und stört beim Träumen.

„Für ein solidarisches und soziales Miteinander statt Ausgrenzung und Rassismus!“

Und wer sorgt dafür? Wer steht dem im Weg?

„Für das Recht auf Schutz und Asyl – Gegen die Abschottung Europas!“

Schutz ist schon wieder ein Begriff, der ins Endlose ausdehnt. Wer ist wovor zu schützen? Ist wirklich die „Abschottung Europas“ das Problem oder nicht vielmehr die skrupellose Ausdehnung seiner wirtschaftlichen Macht, die erzwungenen Freihandelsverträge, die blanke Ausbeutung? Hätte man nicht wenigstens, wenn man es schon nicht schafft, gegen Kolonialkriege Stellung zu beziehen, ein klitzekleines „gegen Freihandel“ einfügen können?

„Für eine freie und vielfältige Gesellschaft!“

Ich bin auch für gutes Wetter. Und weil ich Kälte nicht mag, bitte in der Variante Sommer und Sonnenschein.
„Solidarität kennt keine Grenzen!“

Doch. Kennt sie. Die Grenzen zwischen den Klassen. Kennt sie die nicht mehr, handelt es sich nicht um Solidarität, sondern um Wohltätigkeit.

Man kann es sich lebhaft vorstellen, die Versammlung schon etwas angejahrter Autorinnen und Autoren, wie sie über dem Aufruf brüten und meinen, man müsste doch einmal für etwas sein. Aber eine Demonstration hat immer ein Gegenüber, das, durch die Menge beeindruckt, etwas anders tun soll als bisher.

Wer also soll etwas anders tun? Die Regierung kann nicht gemeint sein, die wird ja sogar an Stellen zum Verschwinden gebracht, an denen sie unbestreitbar verantwortlich ist. Die Teilnehmer der Demonstration selbst können es auch nicht sein, denn die sind ja schon die Guten, und klopfen sich in großer Zahl wechselseitig auf die Schulter, weil sie die Guten sind. Bleiben also die Bösen. Jene, die mit dem ‚uns‘ und ‚wir‘ nicht gemeint sind.

Wenn wir den Normalfall einer Demonstration nehmen, beispielsweise eine Demonstration gegen das bayrische Polizeigesetz, dann ist alles klar. Der Gegenstand des Streits ist das Gesetz, die Forderung besteht darin, dieses Gesetz nicht zu verabschieden oder zumindest wesentlich zu ändern, und die Adressaten der Forderung sind notwendigerweise jene, die sie umsetzen können, also die Landtagsabgeordneten und die Staatsregierung. Bei einer Streikdemonstration ist der Adressat der jeweilige Unternehmer.

Wie gesagt, die Regierung ist erkennbar nicht Adressat der Forderungen; es ist eher eine Konsensdemonstration, und jene, die das zu einer Art Wertewestenprozession erklären, liegen nicht völlig daneben. Die Zustimmung zur bestehenden Regierung entsteht mindestens so sehr durch das Nichtgesagte wie durch das Gesagte – weil von Kriegseinsätzen, wirtschaftlicher Machtausübung, der Verantwortung für Verarmung etc. gar nicht erst die Rede ist, wird der nötige Widerspruch von vorneherein unterlassen. Und selbst mit einer überwältigenden Teilnehmerzahl wird diese Demonstration keinen Druck aufbauen können, denn – wohin, wofür, wogegen? Jede Kraft braucht eine Richtung, das lernt man im Physikunterricht.

Der einzige Adressat, der erahnt werden kann, ist aber die AfD und ihre Anhänger. Denen wird in ein und demselben Atemzug mitgeteilt, dass sie nicht dazugehören, aber gefälligst für ein „Europa der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit“ zu sorgen hätten. Da das als Botschaft völlig absurd ist, ist das, was übrig bleibt, ein leeres Ritual zur Selbsterhöhung, das auf der einen Seite der ohnehin scharfen Spaltung innerhalb der beherrschten Klassen zusätzlichen Schwung verleiht, auf der anderen Seite die herrschende Klasse von jeder Verantwortung, gar Schuld freispricht. Im günstigsten Fall ein reaktionäres Spektakel; im ungünstigsten Fall, wenn man die Aussagen zum Verhältnis zwischen Wort und Tat betrachtet, ein weiterer Baustein auf dem Weg zu Faschismus Variante B. Das wahrhaft Erschütternde daran ist, wenn man anhand der Liste der Unterzeichner feststellen muss, wie klein die Zahl derjenigen ist, die das erkennen.



Martin Emko
(aus Einheit-ML vom 16. Oktober 2018, Bitte beachtet auch die Kommentare)

242.000 Leute demonstrierten am Sonntag nach Veranstalter-Angaben in Berlin unter der sie einigenden Kurzformel #unteilbar.

Martin Emko

Dass sehr viele Menschen aus ehrlichen Beweggründen gegen den Rassismus von AfD & Co. auf die Straße gingen, ist gut. Dass Klassenpositionen dort aber deutlich zu vermissen waren, ist schmerzlich und führte von Beliebigkeit über Unklarheiten über den Adressaten bishin zum unhinterfragten Auftreten der terroristischen „syrischen“ „Opposition“. Und es führte auch dazu, dass mit Andrea Nahles und Heiko Maas, Leute diese Demo unterstützten, deren Partei selbst mitverantwortlich ist für die soziale Zuspitzung im Land – und damit auch den zunehmenden Rassismus.

Es war die SPD-Vorsitzende Nahles selbst, die im Mai 2018 tönte: „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen„. Dieser Satz scheint für BRD-Bürger – oberflächlich angehört – fast „selbstverständlich“ und wird häufig zitiert. Doch ist er bei genauerer Betrachtung rechts und nicht links, sondern nur link und hinterhältig. Dazu möge z.B. genügen: In der Klassengesellschaft der BRD gibt es kein „wir / uns“ – allein mit diesen zwei Pronomen wird bereits ausgespielt, „wir“ gegen andere, gegen die da, „alle“. Also „alle“? Dieses Wort ist in seiner Tendenziösität geeignet, Angst und Abwehr zu erzeugen: Ende des Jahres 2017 waren 68,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Sie „alle“ wollen also in die BRD? Solch vernebelnder Unfug treibt Leute nach rechts; ein andermal mehr dazu.

Wichtig sollte uns sein, auf der Basis von Klassenpositionen auf Leute zuzugehen und mit ihnen zu diskutieren. Als ersten Baustein hierzu sei ein Artikel empfohlen, in dem Andreas Grünwald untersucht, welche Positionen die marxistischen Klassiker zur Migration vertraten. Der Artikel läuft auf folgende Zusammenfassung hinaus:

1. Migration, Aus- und Einwanderung sind unter imperialistischen Bedingungen ein Prozess zu dem die Migranten durch die imperialistische Herrschaft und die verschärfte Ausbeutung der abhängigen Länder gezwungen sind. Er vollzieht sich unabhängig vom Willen des Einzelnen.

2. Die Bourgeoisie in den kapitalistischen Kernländern nutzt die Migration, um die Löhne, die sozialen Standards, das allgemeine Niveau des Lebens weiter zu senken, also um auch die bisherigen Arbeitskräfte im eigenen Land noch besser auszubeuten.

3. Sie befördert damit und mit entsprechenden Ideologien gleichzeitig die Spaltung der Arbeiterklasse auch in den kapitalistischen Kernländern und mindert so auch dort ihre Kampfkraft.

4. Sozialisten können auf diesen Prozess nicht in der Weise reagieren, in dem sie sich ihrerseits zu Fürsprechern möglicher Einwanderungsbeschränkungen machen. Warum nicht: weil sie sich damit selbst der Ideologie der Herrschenden ausliefern.

5. Internationale Solidarität mit den Migranten muss vor allem darin bestehen, für eine Verbesserung der Arbeits- und Kampfbedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern einzutreten und diesen Kampf, der dort in der Form ein nationaler Kampf ist, solidarisch durch internationale Aktion zu unterstützen. Das ist die eine Seite der Internationalen Solidarität. Die andere besteht darin, in den kapitalistischen Kernländern selbst Kolonalisierung politisch zu bekämpfen.

6. Um im eigenen Land wirksam zu kämpfen, um demokratische Reformen, ökonomische Kämpfe erfolgreich zu bestehen, um Prozesse der sozialen Revolution einzuleiten, muss alles dafür getan werden, dass auch die eingewanderten Arbeiter gleiche Rechte haben. Für den eigenen Kampf müssen sie als gleichberechtigter Teil in den Formierungsprozess gewerkschaftlicher und politischer Bewegungen einbezogen werden.

7. Die Kapitalisten versuchten, die immigrierten Arbeiter zum Drücken der Löhne und zur Spaltung der Arbeiterklasse zu benutzen. Aber für Sozialisten ist das nicht als „Schwäche“ des „kulturell minderwertigen immigrierenden Arbeiters“ hinzustellen, sondern als objektive Funktion, die die Bourgeoisie ihnen zudenkt. Dies kann nur durchkreuzt werden, wenn auch das inländische Proletariat den Kampf um gleiche Rechte für die ausländischen Arbeiter mit aufnimmt und sich mit ihnen verbindet.

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Andreas Grünwald

Migration, Ein- und Zuwanderung bei Marx, Engels, Lenin …

Andreas Grünwald

Eine durchaus berechtigte Angst, weshalb eine offene Debatte dazu dringend erforderlich ist. Die geschieht nicht zum Selbstzweck, sondern natürlich mit dem Ziel die eigene Handlungsfähigkeit nach Möglichkeit zu optimieren.

Für mich als Marxisten gehört dazu auch (nicht nur!) der Blick in die Klassiker, denn Flucht, Migration und Einwanderung sind keine neuen Erscheinungen, sondern im Kapitalismus ein sich immer wieder wiederholendes Phänomen. Diesen Blick will ich hier ein wenig entwickeln.

Es ist das Verdienst von Karl Marx, Friedrich Engels und anderer Theoretiker des wissenschaftlichen Sozialismus in einer Vielzahl von Werken die objektiven Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft aufzuzeigen. Dazu gehört auch die Migration. Zunächst die vom Land in die Stadt, die in der Phase der Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaft schon vor 200 oder 300 Jahren eine besondere Rolle spielte. Aus der Sicht des Kapitals ein notwendiger Prozess um freie Lohnsklaven den neuen Ausbeutungsbedingungen zu unterwerfen.

Migration befördert zudem die Bildung Industrieller Reservearmeen. Diese entstehen zuallererst aus dem Ablauf des Kapitalverwertungsprozesses selbst, der in Zeiten der Überproduktion immer wieder Millionen bisher erwerbstätiger Menschen in eine erwerbslose Reservearmee verwandelt. Durch die Migration wird dieser Prozess befeuert. Die Reserven entstehen dauerhafter und stabiler. Die objektive Funktion solche Reservearmeen besteht immer darin, noch intensivere Formen der Ausbeutung – vor allem durch die Senkung der Lohnkosten – durch das Kapital durchzusetzen.

Menschen migrieren, wandern aus. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Auch die Art der Migration – von saisonal bis dauerhaft – weist viele Varianten auf. Gemeinsam ist allen diesen Migrationsbewegungen freilich, dass sie zu einer Stärkung solcher Reservearmeen für den Ausbeutungsprozess im Kapitalismus beitragen. Sie verändern damit zugleich die ökonomische Basis einer kapitalistischen Gesellschaft, und vermittelt darüber natürlich auch das jeweilige Alltagsbewusstsein. Auch und gerade das der abhängig Beschäftigten.

Friedrich Engels hat dies an Hand der Migrationsbewegungen die Mitte des 19. Jahrhunderts auftraten, mehrfach beschrieben. Millionen von Menschen wanderten damals von Europa und Asien nach Amerika aus:

„Die Zahl der amerikanischen Geldfürsten ist [dort] noch weit größer [als in Deutschland]. Und diese fabelhafte Reichtums-Akkumulation wird durch die enorme Einwanderung in Amerika noch von Tag zu Tag gesteigert. Denn direkt und indirekt kommt dieselbe in erster Linie den Kapitalmagnaten zugute. Direkt, indem sie die Ursache einer rapiden Steigerung der Bodenpreise ist, indirekt, indem die Mehrzahl der Einwanderer den Lebensstand der amerikanischen Arbeiter herabdrückt. Schon jetzt finden wir in den zahllosen Streikberichten, welche unsere amerikanischen Bruderorgane melden, einen immer größeren Prozentsatz von Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen, und die meisten auf Lohnerhöhung abzielenden Streiks sind im Grunde auch nichts anderes, denn sie sind entweder hervorgerufen durch die enorme Steigerung der Preise oder durch das Ausbleiben der sonst im Frühjahr üblichen Lohnerhöhungen.“

Trotzdem spricht sich Friedrich Engels in der damaligen Zeit strikt dagegen aus sich an Restriktionsdebatten zu beteiligen. Er begründet dies Mitte des 19., Jahrhunderts damit, dass …

„auf diese Weise … der Auswandererstrom, den Europa jetzt jährlich nach Amerika entsendet, nur dazu bei [trage], die kapitalistische Wirtschaft mit all ihren Folgen auf die Spitze zu treiben, so daß über kurz oder lang ein kolossaler Krach drüben unvermeidlich wird.“

Dann aber werde der …

„Auswandererstrom stocken oder vielleicht gar seinen Lauf zurücknehmen, d.h. der Moment gekommen sein, wo der europäische, speziell der deutsche Arbeiter vor der Alternative steht: Hungertod oder Revolution!“

Und weiter:

„Darum, so sehr wir auch mit der ‘New Yorker Volkszeitung’ die Auswanderung aus Deutschland bedauern, so sehr wir überzeugt sind, daß dieselbe zunächst eine wesentliche Verschlechterung der Lage der amerikanischen Arbeiter im Gefolge haben wird, und so sehr wir ferner mit ihr wünschten, daß die deutschen Arbeiter ihr ganzes Augenmerk ausschließlich auf die Verbesserung ihrer Lage in Deutschland richteten, so können wir ihren Pessimismus doch nicht teilen. Wir müssen eben mit den Verhältnissen rechnen, und – da dieselben, dank der Kurzsichtigkeit und Habgier unserer Gegner, eine Entwicklung im wirklich reformatorischen Sinne immer mehr ausschließen – unsere Aufgabe darin suchen, die Geister allen Angstmeiern zum Trotz, vorzubereiten auf den revolutionären Gang der Ereignisse.“

Und weiter:

„Für den Konflikt: Riesenhafte Konzentration des Kapitals einerseits und wachsendes Massenelend andererseits, gibt es nur eine Lösung: Die soziale Revolution!“ (Geschrieben am 3. Mai 1882 – Friedrich Engels, „Über die Konzentration des Kapitals in den Vereinigten Staaten“, MEW, Bd. 19, S. 307)

Engels argumentiert grundsätzlich (an der Migration selbst lasse sich nichts ändern) und dann strategisch (soziale Revolution), woraus sich für ihn auf der taktisch-politischen Ebene ergibt von jeglicher restriktiven Debatte seitens der Arbeiterbewegung abzusehen.

Doch heute wissen wir: dieses Ereignis – sozialen Revolution befeuert durch Migration – trat nicht ein, denn die moderne kapitalistische Gesellschaft, die Gesellschaft des sich Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus bildenden Imperialismus sowie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, verfügt über gewaltigere ökonomische, vor allem aber auch politisch-ideologische Regulierungsmethoden, wie dies Friedrich Engels in seiner Zeit hätte voraussehen können. Große Wirtschaftskrisen – und seien sie auch begleitet durch eine enorme Armut – führen allein noch lange nicht zum Ende dieses Systems.

Dies hervorzuheben, ist mir wichtig, denn mit Zitaten, die aus dem Zusammenhang eines vollständigen Gedankengangs und seiner Prämissen und Voraussetzungen gerissen werden, wird bekanntlich auch viel Unsinn begründet.

Welche unmittelbare Wirkung Masseneinwanderung für die Arbeiterklasse eines Landes haben kann, schildert Friedrich Engels indes mit sehr deutlichen und drastischen Worten im Abschnitt „Die irische Einwanderung“ seines Buchs „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, das 1845 heraus kam. Diesen Abschnitt hier zu zitieren, wäre zu umfangreich, aber ich rate allen da mal rein zu lesen, vor allem jenen, die häufig auch eine Scheu davor haben kulturelle Gegensätze und Spannungen, die im Zusammenhang mit Migration auftreten, offen anzusprechen. Zumindest Friedrich Engels hatte da geringere Probleme, wenn er diesem Abschnitt beispielsweise mit den Worten schloss:

„Denn wenn fast in jeder großen Stadt ein Fünftel oder ein Viertel der Arbeiter Irländer oder in irischem Schmutz aufgewachsene Kinder von Irländern sind, so wird man sich nicht darüber wundern, daß das Leben der ganzen Arbeiterklasse, ihre Sitten, ihre intellektuelle und moralische Stellung, ihr ganzer Charakter einen bedeutenden Teil von diesem irischen Wesen angenommen hat, so wird man begreifen können, wie die schon durch die moderne Industrie und ihre nächsten Folgen hervorgerufene indignierende Lage der englischen Arbeiter auf eine hohe Stufe der Entwürdigung gesteigert werden konnte (1892) … indignierende Lage der englischen Arbeiter noch entwürdigender gemacht werden konnte.“

Aber lest selber:
»http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_

Die Wirkung solcher Migrationsbewegungen analysierte auch Karl Marx. Ebenfalls am Beispiel der nach England einwandernden irischen Arbeiter:

„Zweitens hat die englische Bourgeoisie das irische Elend nicht nur ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten. Das revolutionäre Feuer des keltischen Arbeiters vereinigt sich nicht mit der soliden, aber langsamen Natur des angelsächsischen Arbeiters. Im Gegenteil, es herrscht in allen großen Industriezentren Englands ein tiefer Antagonismus zwischen dem irischen und englischen Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den standard of life (Lebensstandard) herabdrückt. Er empfindet ihm gegenüber nationale und religiöse Antipathien. Er betrachtet ihn fast mit denselben Augen, wie die Poor whites (armen Weißen) der Südstaaten Nordamerikas die schwarzen Sklaven betrachteten. Dieser Antagonismus zwischen den Proletariern in England selbst wird von der Bourgeoisie künstlich geschürt und wachgehalten. Sie weiß, daß diese Spaltung das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht ist.“ (Karl Marx, „Resolutionsentwurf des Generalrats über das Verhalten der britischen Regierung in der irischen Amnestiefrage“, Januar 1870, MEW, Bd. 16, S. 388)

Marx betont hier also einen anderen Zusammenhang. Die Kampfbedingungen der englischen Arbeiter verschlechtern sich. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf kulturelle Gegensätze. Diese sind vorhanden, also nichts künstliches, sie werden freilich durch die Bourgeoisie noch weiter vertieft.

Wie tief die kulturellen Spannungen in der Arbeiterklasse sein können, tritt Massenmigration auf, hatte ich zuvor schon am Beispiel des Textes aus dem Buch von Friedrich Engels zur Entwicklung der Arbeiterklasse in England verdeutlicht.
Diese – durchaus nicht widerspruchsfreien Kernpunkte – finden sich mehr oder weniger in allen Aussagen von Marx und Engels zur Migration wieder:

  1. Migration, als ein ein objektiver unaufhaltsamer Prozess des Kapitalismus. Unabhängig von dem Willen des einzelnen werden Millionen in diesen Prozess einbezogen.
  2. Die Folge ist eine verschärfte Ausbeutung und Unterdrückung vor allem der Arbeitsmigranten, aber auch eine Verschlechterung der Lage der einheimischen Lohnarbeiter.
  3. Migranten und einheimische Arbeiter finden von allein nicht zusammen. Kulturelle und nationale Unterschiede behindern diesen Prozess.
  4. Die Bourgeoisie optimiert diese Spaltung durch nationalen Chauvinismus, der die Spaltungsprozesse in der Gesellschaft, vor allem auch die Spaltung unter den Proleten weiter vertieft und somit den demokratischen wie den revolutionären Prozess behindert.

Migration im Imperialismus
Lenin stand vor der Aufgabe diesen Prozess für die imperialistische Phase des Kapitalismus noch genauer zu analysieren, denn bereits zu seinen Zeiten hat sich die Migration nun zu einem weltweiten Phänomen fortentwickelt. Die imperialistischen Staaten ziehen alle Länder der Welt n das Getriebe des Finanzkapitals. Die kolonialisierten, abhängigen oder unterdrückten Länder, in der die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, werden in vollkommen neuer Qualität ausgepresst und ausgebeutet. Die Folge sind riesige Migrationsbewegungen, wie etwa die der mexikanischen Landarbeiter, der nordafrikanischen Vertragsarbeiter oder der Wanderarbeiter in Südafrika. Jüngere Bewegungen dieser Art bezogen sich zum Beispiel auch auf philippinische oder indische Bauern, die als Arbeiter in die arabischen Golfstaaten zogen. Und auch zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Millionen von Menschen durch Armut, Hunger und Not dazu gezwungen sich in tausende von Kilometer entfernt liegende Länder transportieren zu lassen, um dort ihre Arbeitskraft anzubieten. In den Ländern, in die sie immigrierten, waren sie häufig die am stärksten Ausgebeuteten und Unterdrückten, häufig die ersten, die in der Krise die Knute der Arbeitslosigkeit und des Elends traf.

Wie sich solche Wanderungsbewegungen in der imperialistischen Phase der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vollziehen, untersuchte Lenin in Reihe von Artikeln und Aufsätzen:

„Zu den mit dem geschilderten Erscheinungskomplex verknüpften Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende Abwanderung aus den imperialistischen Ländern und die zunehmende Einwanderung (Zustrom von Arbeitern und Übersiedlung) in diese Länder aus rückständigen Ländern mit niedrigen Arbeitslöhnen.“ (Lenin, „Der Imperialismus das höchste Stadium des Kapitalismus“, LW, Bd. 23, S. 287)

Für die Entwicklung in Deutschland führte Lenin seinerzeit aus:

„Deutschland, das mit Amerika mehr oder weniger Schritt hält, verwandelt sich aus einem Land, das Arbeiter abgegeben hat, in ein Land, das fremde Arbeiter heranzieht.“ (LW, Bd.19, S. 449)

In seinem Artikel „Kapitalismus und ArbeiterImmigration“ präzisiert Lenin die Gründe für diesen Entwicklungsprozess wie folgt:

„Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Länder, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an.

Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reißt sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber …

Es besteht kein Zweifel, daß nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands, usw. miteinander vereinigt …

Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der anderen auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewußten Arbeiter, die begreifen, daß die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.“ (Lenin, „Kapitalismus und Arbeiterimmigration“, Oktober 1913, LW, Bd. 19, S. 447-450)

Wie dieser Artikel zeigt, analysiert Lenin umfassend die Migration als ein Merkmal in der Entwicklung des Imperialismus. Sie wird angestoßen durch die besondere Form der Ausbeutung der abhängigen Länder, aber auch durch Extra-Profite in den imperialistischen Hauptländern, die es gestatten dort höhere Löhne zu zahlen.

Wenn Lenin in diesem Artikel sagt, daß die auswandernden künftigen Arbeiter „aus ihren Krähenwinkeln“ gerissen werden und so zu Teilnehmenden einer weltgeschichtlichen Bewegung werden, so muss freilich auch dies in einem geschichtlichen Rahmen gesehen werden, denn seit Lenin hat hat sich der Imperialismus inzwischen auf dem ganzen Globus ausgedehnt, und mit der informellen Durchdringung in der Form elektronischer Medien sowie der Herausbildung einer Arbeiterklasse auch in den Ländern Asiens und Afrikas, haben sich natürlich auch diese „Krähenwinkel“ verändert.

Die von Lenin benannte „fortschrittliche Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung“ und sein Verweis darauf, dass nur „Reaktionäre davor die Augen verschließen können“, muss ebenfalls in diesem Kontext betrachtet werden: Lenin führt aus, dass es eine „Erlösung vom Joch des Kapitalismus“ nicht „ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf“ geben könne. Zu Zeiten Lenins vollzog sich dies vor allem durch die Konzentration der Arbeiterheere in den wenigen hoch entwickelten Ländern Europas und Amerikas. Doch heute hat sich die moderne kapitalistische Produktionsweise mehr oder weniger auf den ganzen Globus ausgedehnt, so dass durchaus veränderte Bedingungen vorliegen.

Lenin nahm zu seiner Zeit an, dass durch Konzentration von immer mehr Migranten in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern selbst, die Möglichkeit zum Niederreißens der religiösen, nationalen und sonstigen Schranken im Rahmen eines revolutionären Prozesses leichter macht. Doch was dabei nicht vergessen werden darf, das ist der Umstand, dass dies kein gesetzmäßiger sich selbst vollziehender Prozess sein kann, sondern einer, der daran gebunden ist innerhalb dieser Länder die ideologische Vorherrschaft der imperialistischen Bourgeoisie durch politische Aufklärung starker sozialistischer Bewegungen aktiv zu durchbrechen.

Sind die Einwanderer freilich einmal im Land oder stehen sie als Reservearmee den Herrschenden unmittelbar zur Verfügung, so ergeben sich für diese aus Lenins Sicht dann die folgenden Anforderungen, die er im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Revision des Parteiprogramms der SDAPR (B) (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands/Bolschewiki) (1917) diskutierte:

Lenin forderte in diesem Zusammenhang eine Ergänzung ein, die auf die zunehmende Verwendung der „Arbeit ungelernter aus rückständigen Ländern importierter Arbeiter“ hinweist. Die besonders brutale Ausbeutung der eingewanderten Arbeiter und ihre vollkommene Rechtlosigkeit in den Einwanderungsländern sei mit dem „Parasitismus dieser Länder“ verknüpft und der auch dadurch ermöglichten besseren Stellung eines Teils der „einheimischen Arbeiter“:

„Gerade für den Imperialismus ist eine solche Ausbeutung der Arbeit schlechter bezahlter Arbeiter aus rückständigen Ländern besonders charakteristisch. Gerade darauf basiert in einem gewissen Grade der Parasitismus der reichen imperialistischen Länder, die auch einen Teil ihrer eigenen Arbeiter durch eine höhere Bezahlung bestechen, während sie gleichzeitig die Arbeit der ‘billigen’ ausländischen Arbeiter maßlos und schamlos ausbeuten. Die Worte ‘schlechter bezahlten’ müßten hinzugefügt werden, ebenso wie die Worte ‘und oft rechtlosen’, denn die Ausbeuter der ‘zivilisierten’ Länder machen sich immer den Umstand zunutze, daß die importierten ausländischen Arbeiter rechtlos sind.“ (LW, Bd. 26, S. 155)

Lenin sieht also einen elementaren Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer Arbeiteraristokratie, die den demokratischen, wie auch den revolutionären Prozess behindert und der Instrumentalisierung solcher Migrationsbewegungen durch das Kapital. Er fordert daher:

„Gleichstellung der ausländischen Arbeiter mit den einheimischen (besonders wichtig für imperialistische Länder, die fremde Arbeiter in steigender Zahl, wie z.B. die Schweiz schamlos ausbeuten und rechtlos machen)…“ (LW, Bd. 23, S. 81)

Diese Forderung von Lenin durchzieht dann auch die gesamte weitere Debatte in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung.

Allerdings soll hier auch auf einige Feinheiten dieses Diskussionsprozesses hingewiesen werden: Schon Marx und Engels traten dafür ein, dass es eine besondere Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziationen sein müsse, den

„Intrigen der Kapitalisten entgegenzutreten, die stets bereit sind, in Fällen von Arbeitseinstellungen und Ausschlüssen die Arbeiter fremder Länder als Werkzeuge zur Vereitlung der Ansprüche der Arbeiter ihrer eigenen Länder zu mißbrauchen. Es ist [daher] einer der größten Zwecke der Assoziation, daß die Arbeiter verschiedener Länder sich nicht allein wie Brüder fühlen, sondern auch als vereinte Teile der Emanzipations-Armee zu handeln wissen.“(„Der Vorbote“, Nummer 10/1866)

Konkret bezog sich diese Forderung vor allem auf die Situation in England, wo die englischen Kapitalisten Arbeiter des Kontinents zum Streikbrechen herangezogen hatten.

Ein Jahr später wird im Aufruf des Generalrates zur Einberufung des Lausanner Kongresses 1867 auf die Internationalisierung der Ausbeutung und verschärfte Konkurrenz zwischen den Arbeiter der verschiedenen Länder verwiesen und als einzige mögliche Antwort der internationale der Zusammenschluss der Arbeiter propagiert:

„… allein das Kapital sieht vermöge neuer industrieller Erfindungen seine Kraft tatsächlich wachsen, wodurch eine große Anzahl nationaler Genossenschaften in eine ohnmächtige Lage geraten, die Kämpfe der englischen Arbeiterklasse studierend, gewahrt man wie die Fabrikherren, um ihren Arbeitern zu widerstehen, sowohl fremde Arbeiter kommen, als auch die Waren dort anfertigen lassen, wo die Arbeitslöhne billiger stehen. Gegenüber dieser Sachlage muß die Arbeiterklasse, wenn sie ihren Kampf mit einiger Aussicht auf Erfolg fortsetzen will, ihre nationale Associationen in internationale umgestalten“. („Der Vorbote“, Nr.8/1867)

In dem Bericht des Generalrats der I. Internationale an den Kongress von Lausanne 1867 wird entsprechend Bilanz gezogen:

„Die zahlreichen Dienste, welche die Internationale Arbeiterassoziation in den mannigfachen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit in den verschiedenen Ländern erwiesen hat, zeigen deutlich die Notwendigkeit einer derartigen Organisation. Wenn die Arbeiter die willkürlichen Bedingungen der Kapitalisten in England zurückwiesen drohten diese, sie durch ‘Hände’ vom Kontinent zu ersetzen. Die Möglichkeit einer solchen Importation hat in mehreren Fällen genügt, die Arbeiter zum Nachgeben zu veranlassen. Die Wirksamkeit des Generalrats verhinderte, daß solche Drohungen zutage traten wie ehedem. So oft derartiges vorkommt, genügt ein Wink, um die Pläne der Kapitalisten zum Scheitern zu bringen. Bricht ein Streik oder eine Aussperrung unter den Vereinen aus, die zur Internationalen Arbeiterassoziation gehören, dann werden sofort die Arbeiter aller Länder von der Sachlage unterrichtet und vor den Werbeagenten der Kapitalisten gewarnt. Diese Wirksamkeit des Generalrats beschränkt sich übrigens nicht bloß auf die Vereine der Internationalen Arbeiterassoziation die Unterstützung der Assoziation wird allen zuteil die sie anrufen. Vor allem half die Internationale den englischen Arbeitern dadurch, daß sie die gewerkschaftliche Organisation allenthalben außerhalb Englands aufs lebhafteste förderte.“
(„Die Neue Zeit“, 1906-1907, Bd 2 S. 51 /52)

Was heißt das? Die dargestellten Überlegungen der Klassiker verweisen deutlich darauf, dass der Prozess der Migration durch Marx und Engels zwar als ein objektiver Prozess betrachtet wird, der sich aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus selbst ergibt, dass aber andererseits die vom Kapital im Rahmen von Arbeitskämpfen instrumentalisierte Migration, um Arbeitslöhne in den kapitalistischen Kernländern zu drücken, vor allem damit beantwortet werden sollte, den Kampf um eine Verbesserung der sozialen Lage in diesen Herkunftsländern selbst zu führen und sich dafür im Rahmen internationale Assoziation abzusprechen und zu stützen, so dass also zumindest in diesem Zusammenhang Migration nicht mehr instrumentalisiert werden kann.

In der Sache, in seinem Inhalt ist der Arbeiterkampf ein internationaler Kampf. Entsprechend auch der Orientierung des Kommunistischen Manifests „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“. In seiner konkreten Form bezieht er sich freilich zuallererst auf den jeweiligen nationalen Rahmen, der wiederum durch internationale Solidarität besser abgesichert wird.

Von vielen wird in diesem Zusammenhang leider immer wieder auch wieder auch vergessen, dass mit zu zitieren, was vor und nach jenem berühmten Satz des Manifest steht „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“:

„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden. (…)
das Proletariat [müsse} zunächst .. die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren ..,[Es ist ] selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. (…)
Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor. Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder.
(…) Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Kommunistisches Manifest)

Mit der „Vereinigung der Proletarier aller Länder“ ist also nicht erster Linie gemeint, dass sich die Arbeiter in einem Land vereinigen, etwa durch Migration, sondern gemeint ist vorrangig die internationale Klassensolidarität aller Länder – gegen ihr nationales Kapital und ebenso gegen das international agierende imperiale Kapital der kapitalistischen Hauptländer!

Zum Verständnis des Marxismus ist es ebenfalls erforderlich, die Begriffe Kapital, Arbeiterklasse, Arbeiter, Proletariat richtig zu verstehen. Diese Begriffe beschreiben das Verhältnis der Arbeiterklasse und des Kapitals zu den Produktionsmitteln. Es handelt sich um Begriffe der politischen Ökonomie und es geht dabei darum, wer die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besitzt. „Arbeiter“ ist also keineswegs ein Substitutionsbegriff für „Mensch“ oder „Bürger“ im Allgemeinen, sondern beschreibt ein ökonomisches Verhältnis. Der Satz „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben“ beschreibt ergo das die einzelnen Nationen übergreifende Verhältnis von Kapital und Arbeit zu den Produktionsmitteln, welches objektiv die gemeinsame Situation und Interessen der ökonomischen Klassen definiert.

Ähnliche Überlegungen finden wir auch in den Debatten des Stuttgarter Kongresses der 2. Internationale 1907. In der Zeitschrift „Die Neue Zeit“ werden in Vorbereitung des Stuttgarter Kongresses der II. Internationale und des vierzehn Tage nach diesem stattfindenden Essener Parteitages der SPD viele Artikel zu dieser Frage abgedruckt. In diesen Debatten zeigt sich nun noch eine präzisere Forderung:

„‘Dem beständigen Geschrei der britischen Kapitalisten, daß die längere Arbeitszeit und die geringeren Löhne der kontinentalen Arbeiter eine Lohnherabsetzung unvermeidlich machten, kann man nur durch das Streben erfolgreich begegnen, die Arbeitszeit und Lohnhöhe durch ganz Europa auf das gleiche Niveau zu bringen. Das ist eine der Aufgaben der Internationalen Arbeiterassoziation’.

Also nicht Einwanderungserschwerungen für freie Arbeiter , nichts von alledem forderte der Generalrat, also auch Marx, zum Schutze der englischen hohen Löhne und kurzen Arbeitszeiten, sondern das Erringen derselben Löhne und derselben Arbeitszeiten durch Gewerkschaften und Arbeiterschutz in allen kapitalistischen Ländern.

Das ist in der Tat die einzige Methode, die Errungenschaften günstiger gestellter Teile des internationalen Proletariats sicherzustellen. …Wo es unter dem Einfluß kurzsichtiger Zünftlerei der letzteren Methode verfällt, macht sie früher oder später bankrott und wird sie von vorneherein eines der verderblichsten Mittel zur Lähmung des proletarischen Emanzipationskampfes“. („Die Neue Zeit“, 1906/907, Bd 2 , S. 51l- 512)

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Worin besteht dieser neue Gedanke?

Erstmalig tritt hier jetzt ganz klar die Forderung auf, sich keineswegs für Einwanderungserschwerungen stark zu machen! Stattdessen soll alles dafür getan werden Arbeitszeit und Lohnhöhe für alle Länder, Nationen und Völker auf das gleiche Niveau zu bringen.

Doch der Kongress wendet sich explizit auch gegen die „Ausschließung bestimmter Nationen und Rassen von der Einwanderung“, auf die seinerzeit vor allem auch die Delegation der Sozialistischen Partei Amerikas drängte. Der Kongress forderte stattdessen, die

„Abschaffung aller Beschränkungen welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren“.

Lenin schätzt die Debatte auf dem Kongreß in dem Artikel „Der internationale Sozialistenkongreß so ein:

„Über die Resolution zur Aus- und Einwanderungsfrage wollen wir nur einige Worte sagen. Auch hier wurde in der Kommission versucht, zünftlerisch beschränkte Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus den rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen. Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger „zivilisierter“ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen. Auf dem Kongreß selbst fanden sich keine Verfechter dieser zünftlerischen und spießbürgerlichen Beschränktheit. Die Resolution entspricht durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie.“ (Lenin, „Der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart“, LW, Bd. 13, S. 77)

An dieser Stelle wird Lenin also sehr prinzipiell! Es sei eine Frage der Klassensolidarität sich solchen arbeiteraristokratischen Forderungen zu verweigern. Um diese sehr prinzipielle Haltung Lenins richtig einzuordnen, muss man freilich auch wissen, dass die Debatte zu den Einwanderungsfragen auf dem Kongress selbst eher ein Randthema war. Voranging ging es um Fragen der Kolonalisierung, in der einige reformistische Vertreter sehr chauvinistische Positionen einbrachten. Dass es prinzipiell mit sozialistischen Positionen nicht vereinbar ist Kriege gegen andere Länder zu führen bzw. diese zu unterdrücken, war das Hauptergebnis dieses Kongresses, bei dem sich freilich auch schon die Spaltung zwischen der späteren Sozialdemokratie und der kommunistischen Bewegung abzeichnete. Die zusätzliche Debatte zur Einwanderungsfrage ergab sich vor allem in diesem Kontext.

Entsprechend auch die Bewertung dieser Debatte durch Clara Zetkin:

„Die fünf Gegenstände, auf die sich der Stuttgarter Kongreß in seinen Verhandlungen beschränkt hat, waren: die Kolonialpolitik, der Militarismus, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften, die Ein- und Auswanderung und das Frauenwahlrecht. In allen diesen Fragen kam ein Gegensatz der prinzipiellen und der opportunistischen Auffassung zum Ausdruck, und der Meinungskampf in den einzelnen Kommissionen sowie im Plenum des Kongresses war ein treues Spiegelbild des Widerstreits der verschiedenen Tendenzen, der das Innere der modernen Arbeiterbewegung in allen Ländern aufwühlt, zur Selbstkritik und zur Vertiefung der sozialistischen Auffassung führt. … Ein nahe verwandtes Problem hatte die Frage der Ein- und Auswanderung aufgerollt. Auch hier entstand der unbedingten Klassensolidarität der Proletarier aller Länder und Rassen eine Gegnerin in der kurzsichtigen Politik, die Lohninteressen organisierter Arbeiter in den Einwanderungsländern, wie Amerika und Australien, durch Einwanderungsverbote gegen rückständige, angeblich ‘nicht organisationsfähige’ Proletarier aus China und Japan schützen wollte. Es sprach aus dieser letzteren Tendenz derselbe Geist der Ausschließung und des Egoismus, der die alten englischen Trade Unions als eine Arbeiteraristokratie in Gegensatz zu der großen Masse der vom Kapitalismus am brutalsten ausgebeuteten und herabgedrückten Klassengenossen gebracht hatte. Der Kongreß hat hier, im Sinne und Geiste der deutschen Gewerkschaften und ihrer Praxis entsprechend, die Solidarität der Klasse als eines großen Weltbundes des Proletariats aller Rassen und Nationen hochgehalten, wie er in der Kolonialfrage den großen Weltbund der gleichen und verbrüderten Menschheit aller Kulturstufen und Weltteile zum Triumph geführt hat“. (Clara Zetkin, „Der Internationale Sozialistenkongreß zu Stuttgart“, Artikel in der Zeitschrift „Die Gleichheit“, Bd. 1, S. 360-362)

Ähnlich auch Karl Liebknecht, der in seiner Rede auf dem folgenden SPD Parteitag die Bedeutung der Resolution des Stuttgarter Kongresses zur Ein- und Auswanderung konkret für die Bedingungen Deutschlands unterstrich. Er wendet sich gegen jegliche die Migranten diskriminierenden Ausnahmegesetze:

„lch habe mich zum Worte gemeldet, um einige Ausführungen über die Frage der Ein- und Auswanderung zu machen, die in der Diskussion etwas kurz weggekommen ist. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die eminente Wichtigkeit dieser Frage lenken. Ich habe viel Gelegenheit, die Misere der Einwanderer in Deutschland und insbesondere ihre Abhängigkeit von der Polizei zu beobachten, und ich weiß, mit welchen Schwierigkeiten diese Leute zu kämpfen haben. Ihre Vogelfreiheit sollte gerade uns deutsche Sozialdemokraten besonders veranlassen, uns mit der Regelung des Fremdenrechtes, besonders der Beseitigung der Ausweisungsschmach schleunigst und energisch zu beschäftigen. Es ist ja bekannt, daß die gewerkschaftlich organisierten Ausländer mit Vorliebe ausgewiesen werden. . .

… Die Kongreßresolution fordert also die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande. Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, daß die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein. Die Beschäftigung mit der Wanderungsfrage ist ein Ruhmesblatt für den Internationalen Kongreß.“ (Liebknecht, Bd. 2, S. 72-73)

Die wesentlichen Argumente in der internationalen Diskussion der sozialistischen Weltbewegung zu diesen Fragen lassen sich knapp also so zusammenfassen:

  • Sozialisten sollten auf die Instrumentalisierung von Migranten durch das Kapital keineswegs so reagieren, dass sie ihrerseits Einwanderungsbeschränkungen fordern, da dies dem Prinzipien internationaler Solidarität widerspricht, indes dieses dazu beiträgt den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse innerhalb eines Landes und international zu erschweren.
  • Sie sollten sich solchem Denken auch deshalb verweigern, weil es ein Eigentor in Richtung chauvinistischer Bestrebungen ist.
  • Kampf gegen jegliche Diskriminierung der bereits eingewanderten Arbeiter und demokratischer Kampf um rechtliche Gleichstellung.
  • Aufklärung und Organisierung auch des immigrierten Teils der Arbeiterschaft.
  • Den Schwerpunkt sehen die Klassiker freilich aber auch nicht darin, diese durch das Kapital bewirkten Migrationsbewegungen auch noch anzuheizen, sondern eindeutig darin durch Internationale Assoziationen den jeweils nationalen Kampf in den einzelnen Ländern für eine Verbesserung der dortigen Lage zu führen.

Lenin geht in einem Kommentar zu diesem Kongress so ein:

„In unserem Kampf für wahren Internationalismus und gegen ‘Jingo Sozialismus’ (als ‘Jingo-Pseudosozialisten’ bezeichnet Lenin die ‘Sozialisten’, die 1915 im 1.Weltkrieg für den „Verteidigungskrieg“ eintraten, siehe LW, Bd. 21, S. 433) verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, daß die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongreß von 1907 und entgegen seinen Beschlüssen). Wir denken, daß niemand Internationalist sein und zugleich für derartige Beschränkungen eintreten kann. Und wir behaupten, daß Sozialisten in Amerika, besonders englische Sozialisten, die der herrschenden, also einer unterdrückenden Nation angehören, wenn sie sich nicht gegen jedwede Einwanderungsbeschränkung und gegen die Besitzergreifung von Kolonien (Hawaiinseln) wenden, wenn sie nicht für die volle Unabhängigkeit der letzteren eintreten, daß solche Sozialisten in Wirklichkeit ‘Jingos’ sind.“ (Lenin, „An den Sekretär der ‘Liga’ für sozialistische Propaganda“, LW, Bd. 21, S. 435)

Lenin argumentiert hier als auch deshalb sehr grundsätzlich, weil ein Abweichen und das Eingehen auf restriktive Verfahren politisch und ideologisch dazu beiträgt den Geist des Opportunismus und Arbeiteraristokratie in den jeweiligen Ländern selbst zu stärken, was wiederum die Entfaltung demokratischer und revolutionärer Bestrebungen bremst.

Fassen wir diese Dinge noch einmal zusammen:

  1. Migration, Aus- und Einwanderung sind unter imperialistischen Bedingungen ein Prozess zu dem die Migranten durch die imperialistische Herrschaft und die verschärfte Ausbeutung der abhängigen Länder gezwungen sind. Er vollzieht sich unabhängig vom Willen des Einzelnen.
  2. Die Bourgeoisie in den kapitalistischen Kernländern nutzt die Migration um die Löhne, die sozialen Standards, das allgemeine Niveau des Lebens weiter zu senken, also um auch die bisherigen Arbeitskräfte im eigenen Land noch besser auszubeuten.
  3. Sie befördert damit und mit entsprechenden Ideologien gleichzeitig die Spaltung der Arbeiterklasse auch in den kapitalistischen Kernländern und mindert so auch dort ihre Kampfkraft.
  4. Sozialisten können auf diesen Prozess nicht in der Weise reagieren, in dem sie sich ihrerseits zu Fürsprechern möglicher Einwanderungsbeschränkungen machen. Warum nicht: weil sie sich damit selbst der Ideologie der Herrschenden ausliefern.
  5. Internationale Solidarität mit den Migranten muss vor allem darin bestehen für eine Verbesserung der Arbeits- und Kampfbedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern einzutreten und diesen Kampf, der dort in der Form ein nationaler Kampf ist, solidarisch durch internationale Aktion zu unterstützen. Das ist die eine Seite der Internationalen Solidarität. Die andere besteht darin in den kapitalistischen Kernländern selbst Kolonalisierung politisch zu bekämpfen.
  6. Um im eigenen Land wirksam zu kämpfen, um demokratische Reformen, ökonomische Kämpfe erfolgreich zu bestehen, um Prozesse der sozialen Revolution einzuleiten, muss alles dafür getan werden, dass auch die eingewanderten Arbeiter gleiche Rechte haben. Für den eigenen Kampf müssen sie als gleichberechtigter Teil in den Formierungsprozess gewerkschaftlicher und politischer Bewegungen einbezogen werden.
  7. Die Kapitalisten versuchten, die immigrierten Arbeiter zum Drücken der Löhne und zur Spaltung der Arbeiterklasse zu benutzen. Aber für Sozialisten ist das nicht als „Schwäche“ des „kulturell minderwertigen immigrierenden Arbeiters“ hinzustellen, sondern als objektive Funktion, die die Bourgeoisie ihnen zudenkt. Dies kann nur durchkreuzt werden, wenn auch das inländische Proletariat den Kampf um gleiche Rechte für die ausländischen Arbeiter mit aufnimmt und sich mit ihnen verbindet.


Soweit einige Klassiker.

Abschließend einige Fragen, die sich für die heutige Situation ergeben, und die mich auch vor dem Hintergrund des ausgeführten beschäftigen:

Marx, Engels, Lenin und viele andere Theoretiker diskutieren die Frage der Migration unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsmigration, ausgelöst durch Armut und Elend in den Herkunftsländern, die wiederum ihre Ursache in imperialer Unterdrückung hat. Was bei Ihnen noch keine so große Rolle spielt, was aber heutzutage für Migration eine erhebliche Bedeutung hat, das ist die Migration die durch Kriege ausgelöst wird und die auch Millionen zur Flucht veranlasst. In diesem Fall auch Menschen, die zu einem Teil auch aus Ländern kommen, die erst durch diese Kriege in einen so erbarmungswürdigen Zustand des Elends gestoßen wurden (beispielsweise Syrien). Damit ergibt sich aber eine ganz andere soziale Zusammensetzung der Flüchtlinge. Aus Syrien kommen z.B. viele Menschen mit sehr entwickelter Ausbildung. Wie ist dann aber der Zusammenhang zur Frage der industriellen Reservearmee in den Kernländern zu beantworten? Für die Klassiker bildeten die Migranten eine natürliche Quelle für die industrielle Reservearmee. Heute kann es indes auch passieren, dass gar nicht so sehr die Migranten dann der Quell der Reserve sind, sondern ein Teil der bisher Beschäftigten in den kapitalistischen Kernländern diese Rolle dann einnimmt. Lassen sich die von den Klassikern benannten Instrumente zur Organisierung des Proletariats dann ebenfalls noch so umsetzen?

Marx und Engels, wie auch an die anderen Theoretiker des Sozialismus diskutieren die Frage der Migration unter dem Gesichtspunkt des Kolonialismus in der Weise, dass die Migration eine Folge verschärfter Ausbeutung dieser Länder ist. Angesichts der heutigen Vorkommnisse muss man aber auch die Frage diskutieren, inwieweit nicht auch die Migration selbst, also konkret die Steuerung dieser Migration durch kriegerische und ökonomische Instrumente, ein zentrales Instrument für die Re-Kolonialisierung solcher Länder ist? Also ob und inwieweit nicht gerade auch durch Migration bisher national unabhängige Länder für eine Übernahme im Rahmen des Kapitalexports (Verschuldung) mit sturmreif geschossen werden?

Die Theoretiker diskutieren politische Strategien vor allem unter dem Gesichtspunkt dafür zu kämpfen, dass sich auch in den Herkunftsländern bessere Lohnbedingungen und bessere Kampfbedingungen für die dortige Arbeiterklasse ergeben. Wenn Migration im Einzelfall aber mit dazu beiträgt die dortigen Lebensbedingungen weiter zu verschlechtern, was ergibt sich daraus dann für unsere eigenen Strategien?

Das eine ist die klassische Armutsmigration. Man denke etwa an viele Länder Afrikas oder Asiens. Und auch die Einwanderer aus Spanien oder Griechenland, die in den letzten Monaten nach Deutschland zogen, fliehen nicht weil es hier so schön ist aus ihren Herkunftsländern, sondern weil sie in ihren eigenen Ländern keine soziale Perspektive mehr haben. Aber es gibt einiges in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, was durchaus neu ist: Aus Spanien und aus Griechenland kommen vor allem Menschen mit einer sehr guten Ausbildung, also gar nicht so sehr die Ärmsten der Armen, die hier überhaupt keinen Anschluss finden würden. Diese intellektuellen Potentiale werden den dortigen Ländern durch die Migration aber dauerhaft entzogen, was den ökonomischen Schaden in den betroffenen Ländern eher noch potenziert und sie noch stärker in die Abhängigkeit zu den imperialistischen Zentralen führt.

Schließlich: Die Marx’sche Kapitalismuskritik basiert auch auf dem folgenden Satz:

„Der Arbeitslohn ist also nicht ein Anteil des Arbeiters an der von ihm produzierten Ware. Der Arbeitslohn ist der Teil schon vorhandener Ware, womit der Kapitalist eine bestimmte Summe produktiver Arbeitskraft an sich kauft.“ (Karl Marx, »Lohnarbeit und Kapital, Lohn, Preis und Profit, Dietz Verlag, Berlin, 1998, S. 20)

Somit hat Marx das Wesen des Kapitalismus erfasst, das den Arbeiter zum Feilbieten seiner Arbeitskraft zwingt und ihn zum Lohnsklaven degradiert. Der Imperialismus und die darauf basierende neue Qualität von Migration haben diesen Vorgang globalisiert. Marx und Engels schreiben dazu im Manifest:

„Die Bourgeoisie reisst durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schiesst, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die so genannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden.“

Und dann weiter:

„Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Revolution und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.“
Kommunistisches Manifest)

So wird die Arbeiterschaft weltumspannend von einer Besitztumsklasse ausgebeutet.
Ist es insofern dann aber nicht besser für eine Renationalisierung der Entscheidungsgewalt staatlicher Institutionen auf die nationale oder regionale Ebene zu plädieren, um somit das wieder durchzusetzen, was häufiger als „Primat der Politik“ bezeichnet wird respektive die Interventionsmöglichkeiten der politischen Arbeiterbewegung selbst zu erhöhen? Die Klassiker geben uns prinzipielle Hinweise unter dem Druck der jetzigen Ereignisse wichtige Erkenntnisse unseres Kampfes um soziale Befreiung nicht aufzugeben.

Das betrifft vor allem die Frage sich nicht auf ein typisch sozialdemokratisches Zunftdenken, schon gar nicht auf Nationalismus bzw. Chauvinismus einzulassen. Das ist sehr wichtig!
Aber sie geben uns noch keine fertige politische Strategie, wie wir als Sozialisten mit den heutigen Problemen umgehen können. Die müssen wir uns immer wieder selbst erarbeiten.

Quellenangaben:

  • Zahlreiche der benannten Zitate sind Online hier zu finden: »http://www.mlwerke.de/
  • Andere Textstellen habe ich einer guten Sammlung zu dem Problem der Migration entnommen, die von der Gruppe „Trotz Alledem“ veröffentlicht wurde. Dort wird zudem auch dargestellt, wie die Frage der Migration konkret auch in der kommunistischen Bewegung der 20er und 30er Jahre in Deutschland diskutiert wurde: »http://trotzalledem.cwahi.net/zeitungen/15/ml.html

© Andreas Grünwald



Diethard Möller
(aus Arbeit-Zukunft, 15. Oktober 2018)

Berlin, 240.000! #unteilbar war #unübersehbar

Diethard Möller

40-50.000 waren für die Demonstration #unteilbar in Berlin angemeldet. Es kamen jedoch nach Angaben der Veranstalter rund 240.000. Das war allerdings auch spürbar. Am Alexanderplatz dauerte es über 2 Stunden bis sich alle Teilnehmer/innen in Bewegung gesetzt hatten. Man brauchte viel Geduld, die allerdings durch die Freude über diese enorme Beteiligung mehr als aufgewogen wurde.

Kollegen/-innen von Ryanair berichten über ihren Kampf. Im Hintergrund ein Schild: „Die Stimme der Frauen ist die der Revolution!“

Aus allen Bereichen, Strömungen und unteren Klassen gab es Teilnehmer/innen. Parolen wurden gerufen, aber auch Seifenblasen und Luftballons gehörten dazu. Familien mit Kinderwagen, Rentner/innen, Gewerkschafter/innen zusammen mit verschiedenen politischen Organisationen, Parteien, Initiativen zogen durch Berlin. Und obwohl der lange Marsch zum Brandenburger Tor und bis zur Siegessäule anstrengend war, wurden es ständig mehr. Als die ersten an der Siegessäule ankamen, gingen die letzten gerade am Alexanderplatz los. Diese machtvolle Demo war #unübersehbar und zeigte #wirsindmehr.

Die Demo war bunt und vor allem von Jugendlichen geprägt

Bei der Kundgebung gab es zunächst Beiträge von Frauen aus aller Welt: Illegale Arbeiterinnen sprachen gegen den Kapitalismus und Ausbeutung und riefen zu einem Streik aller Illegalen für ihre Rechte auf. Flüchtlingsfrauen berichteten über sexuelle Gewalt und die besondere Unterdrückung von Frauen, die in einer solchen Notlage stecken. Kolleg/innen von Ryanair berichteten über die gnadenlose Ausbeutung und ihren Kampf dagegen. Die Antwort der Teilnehmer/innen war unüberhörbar und laut: Solidarität!

Es ist kaum möglich, alle Beiträge zu schildern, zumal es am Abend noch ein reiches Kulturprogramm u.a. mit Konstantin Wecker, den Ärzten und vielen anderen gab.

Die Kreativität und Vielfalt der Protestarten war vorbildlich

Zusammen gegen Mietwahnsin! Und auch vorbildlich in B.: Pfandflaschen werden nicht in den Abfallbehälter geworfen.


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Eren Gültekin
(aus NeuesLeben/YeniHayat vom 26. Oktober 2018)

#Unteilbar: Wie geht es nun weiter?

Eren Gültekin

Am 13. Oktober war es soweit: das Bündnis „#Unteilbar“, das sich drei Monate lang, mit ihren mehr als 4.500 Unterstützern, darunter Organisationen aus allen Ecken der Republik, sowie mit vielen Einzelpersonen von Musikern, Schauspielern bis Journalisten, vorbereitete, veranstaltete die angekündigte Großdemonstration in Berlin. Diese Aktion war ein haushoher Erfolg für viele Menschen. Die Veranstalter gingen im Vorfeld von einer Beteiligung von knapp 40.000 Menschen aus. Es kamen aber knapp 250 000.
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Proteste in Deutschland

Das bemerkenswerte an diesem Tag war nicht nur die Zahl an Menschen, die vom Alexanderplatz bis zur Siegessäule liefen, sondern auch, dass all die Initiativen und Bewegungen, die z.T. seit längerer Zeit bestehen, aber auch welche, die erst vor kurzem entstanden sind, dabei waren. Von Miet-Initiativen bis Seebrücke. Initiativen und Bündnisse, die in ihren Feldern ebenso eine erfolgreiche Arbeit führten und wenn man die Demonstrationen vor dem 13. Oktober betrachtet, erkennt man, dass diese Zahl von mehr als 240.000 nicht einfach aus der Luft entstand. Seit dem Sommer und auch vorher gab es in unzähligen Städten der BRD Demonstrationen, die durch Initiativen und Bündnisse geführt wurden.

Und es gab noch viele mehr: die Demonstration für den Erhalt des Hambacher Forsts mit 50.000 Menschen, 40.000 in München gegen das Polizeiaufgabengesetz, immer wieder Tausende in Berlin gegen die Wohnungsnot oder auch die vielen Proteste, die gegen Ende des NSU-Prozesses stattfanden. Der Streik der Metallerinnen und Metaller mit rund einer Millionen Menschen. Nicht zu vergessen auch die vielen Proteste für mehr Pflegepersonal in den Krankenhäusern. Diese zeigen uns, dass eine große Hoffnung besteht für eine Veränderung in unserer Gesellschaft und dass es in allen Bereichen noch Luft nach oben gibt. Für viele Menschen, die ihre Hoffnung schon längst verloren hatten, die seit vielen Jahren frustriert über ihre Lage sind. Es sind vor allem ihre Sorgen und Nöte gewesen, wofür Hunderttausende auf die Straßen gingen im Jahr 2018: steigende Mieten, prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Bildung, die von der sozialen Schicht abhängig ist, Mangel an Personal von den Kitas bis zu den Krankenhäusern, sowie Diskriminierung und Ausgrenzung in allen Bereichen.
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Der Schrei nach Veränderung ist groß, aber wie?

Es ist jedenfalls keine leichte Aufgabe jedoch auch keine Unmögliche wie wir es am 13. Oktober erleben konnten. Reicht es aber nur gegen den Rechtsruck und die AfD zu protestieren und klare Kante zu zeigen? Dass die AfD bei den letzten Bundestagswahlen und den vielen Landtagswahlen viele Stimmen bekam, ist ja genauso nicht aus der Spontanität entstanden. Das Bündnis #Unteilbar hat auf seiner Homepage, unter der Rubrik „wie weiter?“, folgendes erläutert: „Dies war erst der Auftakt. Wie und in welcher Form wir weitermachen wollen, steht aber noch nicht fest“. Ohne die soziale Frage zu stellen können auch die anderen Dinge nicht erklärt werden. Dass die Agenda 2010 ein direkter Angriff auf die werktätigen Menschen in Deutschland ist und ihre Situation verschlechtert hat. Dass Deutschland u.a. dadurch den größten Niedriglohnsektor in Europa hat. Dies sind alle mit Gründe für das Erstarken der AfD und anderer rechten Organisationen, wofür die etablierten Parteien den Nährboden geschaffen haben.
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