Harry Popow
Die Zitterpartie der Macht
Buchtipp mit einer satirischen Vorbemerkung
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Harry Popow
Welch ein Glück im Unglück. Wie üblich nach einem Zwischenfall auf Leben und Tod so auch diesmal, wie erwartet: Kaum war das Kind vom Bahnsteig auf die Gleise zu Tode gestoßen worden, saßen auch schon die Oberen in einem Glashaus mitten in einem riesigen Gelände privaten Grund und Bodens beisammen und knobelten mit Hilfe künstlicher Intelligenz daran, was gegen das unendlich zunehmend scheinende Ungemach ( Feindbilder im Osten, Rassismus, Korruption, Antisemitismus, Nationalismus, rechter Populismus, Gewalt, sogenannte Gefährder, Rechtsradikale und, und, und… ) im deutschen Lande umgehend in Angriff genommen werden muss: Mehr Überwachung. Mehr Polizei. Null Toleranz. Zum Beispiel gegenüber Drogendealern. Vielleicht auch neue Mauern, so an Bahnsteigen? Mehr Rüstung, mehr Drohnen… Dies auf jeden Fall!
Haben sie als aufmerksamer Leser bemerkt, wie sich die Macht die Hände reibt? Sie braucht sich nur zu bücken, wo im selbst angelegten und gepflegten privaten Unkrautfeld der Vielfalt, des Pluralismus und der gesellschaftlichen Alternativlosigkeit immer noch jene Giftpflanzen sprießen, die man benötigt, um das kleine Volk in Angst und Apathie zu halten, es als Konsumenten gefügig zu machen, damit es gegebenenfalls wieder einmal „Gewehr bei Fuß“ steht? Wer schreit da nach Alternativen? Was, das gesamte Feld umpflügen? Es in Volkes Hände geben? Das mit über 14 Millionen in Armut lebenden überflüssigen Schmarotzern? Und was wäre mit den Reichen? Was wäre mit dem stolzen Wachstum? Außerdem: Die Pflugscharen wurden längst wieder zu Schwertern umgeschmiedet. Alles soll bleiben wie es ist. So brodelt der Eintopf aus Geschwätz und leeren Versprechungen weiter, immer weiter… Ohne auch nur den wahren Gründen für die Störungen im Gesellschaftsgefüge auch nur einen Deut näher zu kommen. Das darf um Gottes willen nicht sein, das wäre der Untergang der nach Maximalprofit jagenden Macht.
„Angst und Macht“; Rainer Mausfeld. Bild: YouTube screenshot
Wie gut also, dass man in einer Demokratie lebt. Die einen glauben daran, die anderen zweifeln. Die Reichen schwören auf „weiter so“, die Armen ducken sich ab, mitunter demonstrieren sie. Die Nachdenklichen machen sich Sorgen, die Nicht- oder Gar- Nicht-Denker verfallen auf Meditation und beten vielleicht noch zu Gott, Die es allerdings ernst meinen mit Widerstand gegen Verdummung – unzählige Demonstranten oder auch Autoren – die brauchen weder Gefängnis noch ein neuerliches Verbrennen ihrer Bücher fürchten. Im Unkrautfeld ist alles erlaubt, soweit alles beim Alten bleibt, denn die Demokratie schützt jedes Gift, solange keiner ans Umpflügen des Ackers denkt, was dem freien Markt die endgültige Trockenlegung verpassen würde.
Einer der vielen Mutigen im literarischen Blätterwald ist der emeritierte Professor der Psychologie Rainer Mausfeld. Großen Dank an ihn, die Tiefen des jahrzehntelang währenden Kampfes zwischen der Macht und dem einfachen Volk aus seiner Sicht mit Vorträgen und diesem 123-Seiten-Buch ausgeleuchtet zu haben. Nicht nur als Beschreibung der Zustände, sondern entlarvend und aufklärerisch.
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Was nicht vereinbar ist
Trotz technischem Fortschritt und der Errichtung einer demokratischen Gesellschaftsordnung, so der Autor im Vorwort, habe „Angst eine überraschend große Präsenz in dem Lebensgefühl unserer Epoche“, wenn auch oftmals hinter einer kulturellen Fassade, „die vor allem durch Konsumismus, Zerstreuung und eine alle Lebensbereiche durchdringende Unterhaltungsindustrie geprägt ist“. Er schreibt von Depressionen, Abstiegsängsten, Versagensängsten, Identitätsängsten sowie auf politischem Gebiet von einer Zunahme von Angstrhetorik. hier geht es weiter »
Das Ziel des Autors sei es, zu zeigen, wie die Macht in kapitalistischen Demokratien stabilisiert, gesichert und in diesem unauflöslichen Spannungsverhältnis verschleiert wird. Fundamental stellt er auf Seite 17 klar, „Demokratie und Industrie- und Konzernkapitalismus sind aus grundsätzlichen Gründen nicht miteinander vereinbar“. Ausgeschlossen von einer demokratischen Kontrolle seien grundsätzlich der Bereich der Wirtschaft sowie die Eigentumsordnung. (Wobei auch der militärische Bereich zur verbotenen Zone zu zählen ist. H.P,) Interessant folgender Gedanke von Rainer Mausfeld: Mit der Entwicklung des Industriekapitalismus seien die potenziellen Kosten der Repression höher als die der Demokratie. Deshalb ziehe man es vor, „den unzufriedenen Bürgern die Demokratie zu geben, anstatt Gewalt gegen sie anzuwenden“. Angewiesen sei man deshalb auf geeignete Techniken von Propaganda, Meinungsmanagement und Demokratiemanagement, „durch die sich die unaufhebbaren Widersprüche zwischen Kapitalismus und Demokratie verdecken lassen“. (S. 19) Der Autor verweist auf eine seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts verfolgte Tradition der Angsterzeugung, auf dem nunmehr der Neoliberalismus aufbaut.
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Der Schoß ist fruchtbar noch
Auf Seite 25 wird auf die eigentlichen Ursachen der Angsterzeugung verwiesen. Der Kapitalismus beruhe darauf, (was ja nicht neu ist, Marx lieferte schließlich die grundlegenden Aussagen hierzu, H.P.), „Kapital zu akkumulieren, indem ein erzielter Mehrwert in vermehrtes Kapital rückverwandelt wird“. So übe eine Minderheit von Besitzenden Macht über eine Mehrheit Nichtbesitzender aus. Es herrsche der Zwang zur Lohnarbeit, deren soziale Schutzmechanismen sich allerdings in Auflösung befinden. Stattdessen ziehe Unberechenbarkeit ein: Minijobs, Leiharbeit. Man lebe in der permanenten Bedrohung eines sozialen Abstiegs, da diese prekären Arbeitsverhältnisse jederzeit widerrufen werden können“. (S. 79) Arbeit im Kapitalismus sei grundsätzlich ohne Angst nicht denkbar. Die illusionserzeugende Kraft des Kapitalismus werde vor allem „durch die dem Kapitalismus innewohnenden Krisendynamiken“ immer wieder brüchig, wodurch zusätzliche Herrschaftstechniken der Angsterzeugung benötigt werden. Wenn mehr als 13 Millionen Menschen zu den Armen gezählt werden und dies nicht einmal als Ideologie des Neoliberalismus wahrgenommen wird und „lediglich als eine bedauernswerte, aber unvermeidliche Nebenwirkung einer Anpassung an die `Gesetzmäßigkeiten des Marktes` gesehen wird, dann ist die gewünschte politische Lethargie der Bevölkerung vorprogrammiert.
Professor Mausfeld untersucht z.B. die Entformalisierung des Rechts sowie die propagandistische Deklaration einer großen Gefahr. Das Böse könne ziemlich alles sein, was Angst erzeugt. So die Bezeichnungen Kommunist, Migrant, Sozialschmarotzer, Terrorist, Fake News, Desinformation, Rechtspopulismus, Islamismus. Damit lassen sich „demokratische Strukturen abbauen und auf allen Ebenen der Exekutive und Legislative autoritäre Strukturen etablieren“. (S. 39)
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Der „HEILIGE FREIE MARKT“
Dem sogenannten freien Markt, so der Autor auf Seite 66, wird vom Neoliberalismus die Eigenschaft zugeschrieben, „die einzig rationale und effiziente Form gesellschaftlicher Problemlösungen zu verkörpern“. Er ersetze „alle menschlichen Bemühungen um eine rationale Erfassung gesellschaftlicher Phänomene“. Alles drehe sich um das Funktionieren des Marktes, und ist dessen Rationalität gefährdet, so sei dies als Marktstörung zu betrachten. Seite 65: Das Ende der Aufklärung sei gekommen, als Mythen zu entlarven seien insbesondere Vernunft, Freiheit und Autonomie. Damit ist die Täuschung, der freie Markt gebe sich „als rationale Form des gesunden Menschenverstandes“ perfekt, er mache sich als Ideologie nahezu unsichtbar, womit der Neoliberalismus in allen meinungsprägenden gesellschaftlichen Schichten eine enorme Breitenwirkung verschafft habe, „wie sie keine totalitäre Ideologie je zuvor erreicht hat“. (S. 73)
Somit bläut man den Bürgern die Undurchschaubarkeit der Wirkungsmechanismen des Marktes und des Staates ein, in dieser Unwissenheit erscheine „der Markt als gleichsam gottgleiche Instanz“, alles erscheine nur als Chaos, was weder steuerbar noch vorhersagbar“ sei. (S. 77) Was darauf folgt: Man könne als Einzelperson nichts mehr tun, dem eigenen Handeln seien Grenzen gesetzt und damit sind „die Wege zu einer solidarischen Bewältigung der aus diesen Kontrollverlusten resultierenden Ängste verstellt“. (S. 78) Der Autor warnt auf Seite 81 vor der totalen Macht des Neoliberalismus, vor der Unterordnung der Gesellschaft unter die Wirtschaft, vor der „Demoralisierung von Bürgern zu passiven Konsumenten“. (S. 81) Die negative und zerstörerische Angst erzeugende Ideologie z.B. des „unternehmerischen Selbst“ habe nicht nur im privaten Bereich, sondern im gesamten Bereich der Kultur tiefe Spuren hinterlassen. Dies zeige sich u.a. in der „Überbewertung narzisstischer Bedürfnisse und in der Kultur extremer Individualisierung, Konkurrenz und sozialer Fragmentierung“. (S. 83)
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Flucht ins ICH?
Welche Wirkungen die Ideologie des Selbst, der Individualisierung und Entsolidarisierung und damit auch der Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse haben, zeigt sich in emanzipatorischen Bewegungen, sprich in der Flucht aus der Wirklichkeit. Statt gesellschaftlich etwas ändern zu wollen, solle man mit der eigenen Veränderung beginnen. Konzentriere dich also auf dein ICH, nimm innere Einkehr, verwirkliche dich selbst, meditiere, glaube an das Gute. Keine Frage, diese „frohe Botschaft zur Individualisierung des Glücks (…) wird sicherlich von den Herrschenden gerne begrüßt“. Professor Mausfeld zweifelt jedoch diesen Zustand an, denn Glück hänge nicht allein von unserer individuellen Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung ab, „sondern wesentlich auch von unseren sozialen Lebensverhältnissen, insbesondere von einem Gefühl von Zugehörigkeit, und damit auch von unseren materiellen Lebensverhältnissen“. Diese Flucht aus der Realität trage „zur Stabilisierung der gegebenen Machtverhältnisse bei“ und führe zu einer weiteren Entleerung des politischen Raumes. (S. 85)
Wenn es um tatsächliche und notwendige gesellschaftliche Veränderungen gehe, die wie anfangs formuliert, den gesellschaftlichen Acker um und um wälzen müssten, also die Machtverhältnisse umkehren sollen, dann trifft Professor Rainer Mausfeld auch in dem folgenden Resüme auf den Seiten 99 bis 102 den Nagel auf den Kopf: Demokratie und Kapitalismus sind nicht miteinander vereinbar. Der Neoliberalismus ist gescheitert. Er „irrlichtert als wirres Ideologiegestöber durch die Köpfe der herrschenden Klasse und ihrer ideologischen Lakaien“. Sich auf Chomsky (2004, S. 88) beziehend, hält der Autor auf den Seiten 101/102 fest: Wenn wir uns von den Fesseln gesellschaftlicher Angst befreien wollen, müssen wir entschlossen an die Wurzeln der Macht gehen. „Solange die Wirtschaft unter privater Kontrolle steht, ist es egal, welche Formen das System annimmt, weil sich mit der Form nichts erreichen lässt.“ Der Zerstörung unserer „gesamten Lebensgrundlagen“ durch den Neoliberalismus könne nur entgegengewirkt werden durch ein wirksames zivilisatorisches Gegenmittel von unten. Aber: „Uns scheint weitgehend die Fähigkeit abhandengekommen zu sein, uns überhaupt noch vorzustellen, wie eine menschenwürdigere Gesellschaft aussehen könnte.“ (S. 99)
Der Autor des weithin bekannten Buches „Das Schweigen der Lämmer“ hat mit „Angst und Macht“ ein vortreffliches Buch aus der Sicht eines Psychologen vorgelegt, dass allein mit dem Begriff der „Angst“ nahezu alle politisch interessierten Menschen nahegehen sollte. In Verbindung mit der Wortverbindung „Demokratie im Kapitalismus“ steht bereits außer Frage, dass hier kein Loblied auf die Verheißungen der Kapitalelite und des Finanzkapitals zu erwarten ist. Es regt deshalb umso mehr zum selbstständigen Nach- und Weiterdenken an. Nicht näher bin ich als Rezensent auf bestimmte vom Autor benutzte Fachbegriffe wie zum Beispiel „Binnenangst“ und auf weitere Spezialausdrücke eingegangen. Es kam vielmehr darauf an, den Text besonders auf eine Frage zu konzentrieren, dass es trotz aller zivilisatorischer Einzelbemühungen, trotz unzähliger Debatten im Politischen, trotz aller Demonstrationen in Einzelfragen es schier unmöglich ist, die tiefsten Ursachen der verfahrenen Gesellschaft im Kapitalismus so ohne weiteres zu erkennen, dies überhaupt sehen zu wollen. Ohne eine wissenschaftliche, sprich ideologische Herangehensweise, ohne die grundlegende Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln lässt sich der Unkrautacker der wiederholten Kriege und der Ausbeutung keinesfalls umpflügen. Der Kapitalismus ist nicht reformierbar. Da kann man schwatzen was man will. Es bleibt dann wie es ist: Angstzustände, geistiger Zerfall, Leere und Alternativlosigkeit. Nochmals danke Herr Professor Rainer Mausfeld für Ihre tapfere Aufklärungsarbeit. Die Angst vor der Macht wird sich umkehren lassen müssen… Aus Ihrem Buch spricht Hoffnung und Zuversicht.
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„Angst und Macht“; Rainer Mausfeld; Verlag: Westend Verlag; Auflage: 2 (2. Juli 2019); Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3864892813, ISBN-13: 978-3864892813, Größe: 13,1 x 1,5 x 20,5 cm; Preis: 14 Euro
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