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Redaktion Roter Morgen – 28. Mai 2022
Die Menschen machen ihre Geschichte selbst
Die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Diese Erkenntnis ist zwar ein Fortschritt gegenüber einer göttlichen Schicksalshaftigkeit anhängenden feudal-mittelalterlichen Geschichtsreligion, sie erklärt aber noch nicht, aus welchen Motiven heraus Menschen und Menschenmassen Geschichte machen. Erst Marx und Engels brachten hier durch Ausdehnung des Materialismus auf die Gesellschaft und ihrer Geschichte und durch die Erkenntnis der Bedeutung der Volksmassen in der Geschichte Licht in die Sache und klärten auf, wodurch diese Motive bestimmt werden.
Sie wiesen ausdrücklich und nachhaltig auf die Schlüsselfunktion der objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens hin und ermittelten in diesen die Basis für alles geschichtliche Handeln der Menschen. Diese objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens bilden den Leitfaden der marxistischen Geschichtstheorie, die eine objektive Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs vertritt. Aus den objektiven Produktionsbedingungen ergibt sich eine sich zwangsläufig durchsetzende historische Gesetzmäßigkeit, die als sicheres Unterpfand eines notwendigen Eintritts einer kommunistischen Phase der Geschichte gilt. Im Folgenden werde ich als Beleg einige markante Aussagen von Marx und Engels unterbreiten.
Zum Jahreswechsel 1843/44 erörtert Marx in der Schrift ‘Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung‘ die positive Möglichkeit einer deutschen Emanzipation. Er findet diese im Proletariat, in einer Klasse, welche kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht an ihr begangen wird, sondern das Unrecht schlechthin. Es liegt ein völliger Verlust des Menschen vor. Hier wird ohne Berücksichtigung objektiv ökonomischer Faktoren vom humanistischen Standpunkt aus argumentiert mit dem Kerngedanken, der völlige Verlust des Menschen müsse zu seiner völligen Wiedergewinnung führen. Aber eine entscheidende Weichenstellung wird vorgenommen: “Die Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“1
Ganz massiv geht es neun Monate später weiter. In der im September/November 1844 zusammen mit Engels verfassten Schrift ‘Die heilige Familie‘ finden wir die wohl markanteste Passage einer als objektiver Naturvollzug aufzufassenden Geschichtsdeutung. Gesprochen wird von der harten, aber stählenden Schule der Arbeit, die das Proletariat nicht vergebens durchmache. “Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“2 Hier wird jegliche subjektive Schrulle dieses oder jenes Proletariers als unerheblich für die Revolutionsgeschichte abqualifiziert. Das objektive Klassendasein stellt hier die Weiche für den progressiven Verlauf der Geschichte.
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Im um die Jahreswende 1847/48 geschriebenen Kommunistischen Manifest bezeichnen Marx und Engels das Kapital als ein gemeinschaftliches Produkt, das nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden kann.3 In dieser Totalität liegt, berücksichtigt man den völligen Verlust der werktätigen Menschen im kapitalistischen Produktionsprozess und die grauenvolle Totalität des Unrechts in ihm, eben das Unterpfand einer völligen Wiedergewinnung ihres Menschseins im Kommunismus. Die Totalität des Unrechts muss umschlagen in eine Assoziation, “worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“4
Von Ende August bis Mitte September 1857 hatte Marx am Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie gearbeitet. Auch in diesem Vorwort wird einer objektiven Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs das Wort geredet. Der menschliche Wille hat keinen Einfluss auf die Produktionsverhältnisse. “Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“5 Marx spricht hier von Revolutionen, in denen man unterscheiden muss zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusstwerden und ihn ausfechten.6 Der rote Faden des naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Inhalts der marxistischen Geschichtstheorie und Gesellschaftsanalyse, die eine objektive Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs vertritt, ist hier klar und präzise abgegrenzt von Überbauformen, in deren Verbleib wir von einer unwissenschaftlich-chaotischen (ideologischen = verkehrten) Betrachtungsweise gesellschaftlicher Vorkommnisse in eine andere taumeln.
Die bürgerlichen Massenmedien sind heute so eingerichtet, dass alle Mitglieder der Gesellschaft, die das Kapital in Bewegung halten und als Arbeitnehmer falsch angegeben werden, in gesellschaftswissenschaftliche Unmündigkeit gehalten werden sollen. Es kann naturgemäß nicht einmal einen gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz einer Differenzierung zwischen den materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden ökonomischen Produktionsbedingungen und Ideologie geben. Ohne diese entscheidende gesellschaftswissenschaftliche Differenzierung müssen für die bürgerlichen Ideologen ihre abstrusen Gedankenverrenkungen wurzellose Pirouetten bleiben. Über einen streng wissenschaftlichen Ideologiebegriff können diese ohne kernige Grundsatzposition, wie sie Marx vertritt, nicht verfügen. Aus einer Kritik am Marxismus aus bloßen Überbaubewusstseinsformen heraus kann sich kein wissenschaftlich fundierter Ideologiebegriff herausbilden, wohl aber umgekehrt aus einer marxistischen Kritik an bürgerlichen Bewusstseinsformen. Marxisten haben den großen Vorteil, in diesen Dingen über eine Basis zu verfügen.
Der wohl wichtigste Brief in diesem Zusammenhang ist der von Marx an Engels vom 7. Juli 1866, in dem der Satz fällt: “Unsere Theorie von der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel.“ In diesem Produktionszusammenhang kann nichts subjektiv bestimmt werden, weder vom Proletariat, das die vorgefundenen Produktionsmittel hinzunehmen hat wie sie sind, Vogel friss oder stirb, noch von der Bourgeoisie, die der willenlose und widerstandslose Träger des Fortschritts der Industrie ist.7
Endlich wird im Kapital im Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation der objektive Gang der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus und deren unausbleibliche Folgen festgezurrt: Der Kapitalismus verwandelt mehr und mehr die Arbeitsmittel in nur noch gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel.8 Alle Völker werden in das Netz des Weltmarktes verschlungen. Es ist also die objektive ökonomische Entwicklung des Kapitalismus selbst, die die Disposition für kollektive sozialistische Produktionsweisen skizzenhaft vorzeichnet. Parasiten bauen ihre eigenen Fallen und werden in diesen verschlungen: Organisierung und Disziplinierung des Proletariats, das gezwungen ist, sich weltweit zu vereinigen.
Man könnte durch diese Konturen einem Automatismus der geschichtlichen Entwicklung verfallen, aber natürlich spielt auch der menschliche Kopf eine Rolle im Vollzug der Weltrevolution, wenn auch nicht die primäre. Das muss ein für alle Mal gesichert sein, vor allem vor den idealistisch verdorbenen Schülern Willi Dickhuts. Wenn Engels Anfang 1886 in seiner Studie über Feuerbach schreibt, dass alles, was die Menschen in Bewegung setzt, durch ihren Kopf hindurchmuss, so spricht diese richtige Widerspiegelung zur Initiative revolutionärer Prozesse auf den ersten Schein für eine besondere Bedeutung des subjektiven Denkens in der Ausbruchsphase der Revolution und über diese hinaus; die weitere Ausführung: “aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.“9 widerlegt die idealistische Schrulle, dass die Gedanken frei wären. Die Feststellung von Engels richtet sich auch gegen die bürgerlichen Vertreter einer objektivistischen Geschichtstheorie; die Vereinigung der Proletarier aller Länder erfolgt nicht automatisch vorgegebenen, von der Geschichte selbst konstruierten Konstellationen. Die historisch als ein Naturprozess sich herausgebildeten ökonomischen Konstellationen geben den Inhalt der Revolution vor, der entsprechende Überbau aber kann die Form der Revolution beeinflussen. Es liegt eine Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau vor, aber keine äquivalente.
1 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 390.
2 Karl Marx, Friedrich Engels: Die Heilige Familie, Werke, Band 2, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 38.
3 Vergleiche Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 475.
4 a.a.0., Seite 482.
5 Karl Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, Werke, Band 13, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 9.
6 a.a.O.
7 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 473.
8 Vergleiche Karl Marx, Das Kapital, Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 790.
9 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 298.
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Erstveröffentlichung am 29. Juni auf »RoterMorgen«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.
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