Harry Popow
Soldaten für den Frieden (Teil fünfzehn)
Leseprobe aus „Ausbruch aus der Stille…“ von Harry Popow
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Hier nun die fünfzehnte Leseprobe aus meinem neuen Buch »Ausbruch Aus Der Stille – Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten«, das im Februar dieses Jahres auf den Markt gekommen ist. Bitte benutzt auch die Kommentarfunktion für Eure Kritiken und Einschätzungen.
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Nasse Füsse contra Kulturschande
Eggesin bei Nacht. Man schreibt das Jahr 1961. Eine dunkle, Gleichschritt haltende Masse bewegt sich in die kalte und mondhelle Januarnacht hinein. Matt schimmern die Stahlhelme. Rhythmisch schlagen wir die Arme durch. Unsere Schatten begleiten uns auf dem schneebedeckten und holprigen Kopfsteinpflaster. Ein oberflächlicher Beobachter würde denken, eine militärische Einheit, was ist schon dabei. Er hätte recht. Das gehört zu unserem Alltag: Da marschieren Traktoristen, Melker, Filmvorführer, Tischler … Und die Kommandeure waren und sind ebenfalls Arbeiter: Forstfacharbeiter, Lehrer, Junghauer, wie ich. Wir wissen, weshalb wir marschieren – jetzt, in den Sonnabend hinein, an dem sich so manche noch ruhig in den Betten wälzen, mit Recht … Zwei Ausgänger kommen uns mit schnellen Schritten entgegen, sie streben der Kaserne zu, wir von ihr weg. Wir kommen an erleuchteten Schaufenstern vorüber, den wenigen, die es in Eggesin gibt, an ein verloren wirkendes Pärchen … „Ist das hier die richtige Richtung?“, fragt unser Kompaniechef einen auf einer Kreuzung stehenden Regulierungsposten. „Jawohl“. Der zerdrückt seine Zigarette zwischen den Fingern, wirft sie in den Schnee und reiht sich bei uns ein.
Vor dem Abtransport mit der Eisenbahn müssen wir im Wald warten. Zugführer Leutnant Kr. lehnt an einem Baum, um ihn herum Soldaten, die Karabiner und MPi’s auf den rechten Schultern, die Stiefel gegeneinander stoßend, die Mantelkrägen hochgeschlagen. Witze werden erzählt, es wird viel gelacht, das Lachen steckt auch andere an, der lange Anmarsch, die ersten brennenden Fußsohlen – sie sind vergessen. Wenig später: Die Waggons rütteln und schütteln uns. Der Kerzenschein einer an der Waggondecke hängenden Stalllaterne flackert unruhig und wirft ein mattes Licht auf die Leute, die auf den Pritschen liegen oder sitzen oder auf dem Fußboden kauern. Unserer Kompanie stehen nur zwei Waggons zur Verfügung, deshalb die Enge. Doch keiner beschwert sich. Man rückt zusammen und bietet den noch Stehenden ebenfalls einen Liegeplatz an. Einige stehen neugierig an der spaltoffenen Waggontür – wegen des qualmenden Kanonenöfchens – und stieren in die vorüberziehende Mondlandschaft. Da schweifen wohl manche Gedanken in die Ferne … Und manche sprechen plötzlich über das, was sie am stärksten bewegt, über Privates, da öffnen sich Herzen. Ein Gefreiter, Melkermeister aus Wismar, erzählt mir aus seinem Leben. Er streckt mir den Daumen hin, ich sehe im Halbdunkel eine Warze. „Die kommt vom Melken“, erklärt er. Fünf Kinder habe er schon. Ich schweige, kann nicht mitreden, noch nicht. Die Fahrt dauert, die Waggontür wird geschlossen, Schläfrigkeit breitet sich aus, man „zieht einen ein“, wie wir manchmal so sagen, und die Kerze in der Laterne flackert noch im ratternden Zug. Stille, nur das regelmäßige Rucken der Räder ist zu hören und zu spüren, wenn sie über die Schienenstöße holpern.
Plötzlich ein gespenstisches Schweigen. Man hält, sofern man noch Wachträumen nachhängt, den Atem an. Kein Rütteln und Schütteln, nichts, nur hin und wieder ein Schnarchen im Waggon. Was ist los, diese Ruhe? Der Transport hat ruckartig gehalten. Das kann nur eines bedeuten: Wir sind am Ziel. Ruhiges und besonnenes Wecken. Ohne Murren und lautlos treten die Genossen vor den Güterwagen an. Einige humpeln, wollen offensichtlich mit dem einzigen bereitstehenden Kraftfahrzeug H3A, der uns zusteht, mitfahren, um nicht laufen zu müssen. Der Kompaniechef weiß es, sicherlich aus Erfahrung, manche simulieren nur. Deshalb spricht er ein Machtwort: „Alle marschieren!“ Das klingt hart, aber so viele Kilometer liegen noch nicht hinter uns, aber etliche noch vor uns. Abhärtung, auch das will geübt sein, wenn es auch schwer fällt. In Reihe trippeln wir entlang einer eisgefrorenen Feldfurche. Dann und wann gleiten einige aus, rappeln sich wieder auf, stemmen sich gegen den starken und kalten Wind, der uns um die Stahlhelme pfeift. Eine endlose weite Schneefläche stößt am Horizont anscheinend mit dem schwarzen Himmel zusammen. Den Weg säumen vereinzelt große schlanke Birken, sie biegen sich unter der Wucht des Sturmes. Der Weg nimmt wohl nie ein Ende …
Endlich, der Konzentrierungsraum ist erreicht. Wir dürfen ein Lagerfeuer anzünden (unter realen Kampfbedingungen ein Unding und lebensgefährlich), sitzen und wärmen uns. Der Morgen graut. Kurze Auswertungen. Lob für Soldat Schu., der trotz seiner Fußschmerzen bis hierher durchgehalten hat. Ich sehe, der wird ein wenig rot im Gesicht. Dann wird die Verteidigungslinie bezogen. Die Feldspaten schlagen sich Millimeter um Millimeter in den steinhart gefrorenen Boden. Brocken von Schnee und Erde fliegen zur Seite, der Schweiß rinnt von der Stirne. Gegen Abend. Hinter der Stellung wurde im schützenden Wald ein Wärmezelt aufgebaut. Leutnant Kr. kommt ins Zelt und berichtet von besten Leistungen beim Bau der Schützenlöcher. Ich schreibe bei flackerndem Kerzenschein, notiere und überlege, ob es Sinn macht, von der FDJ-Gruppe ein Flugblatt herauszugeben, in dem Bestes gewürdigt wird. Aber es ist bereits 21 Uhr, und das Abendbrot ist vom Hauptfeldwebel noch immer nicht herangeschafft worden. Als die Leute das Essen schon abgeschrieben hatten, trifft es doch noch in den einzelnen Verteidigungsstellungen ein. Gegen 5.45 Uhr reißen wir in aller Eile das Wärmezelt ab. Ich gehe in die Stellung des 3. Zuges. Zuvor noch ein paar Schlucke warmen Tee mit Rum getrunken. Der Morgenwind fegt über das flache Mecklenburger Land, biegt das spärliche Gestrüpp und treibt tiefhängende dunkle Wolken vor sich her. Es ist wärmer geworden. Der Schnee schmilzt, und die Wald- und Feldwege verwandeln sich in aufgewühlte Schlammrinnen. Indessen habe ich den 3. Zug erreicht. In einer LMG-Stellung (Leichtes Mascinengewehr) steht der Schütze im Anschlag, daneben fehlt sein Gehilfe – der versteckt sich, sitzt zusammengekauert unter einer Zeltplane. Trotzdem ein Lob von mir. Die Stellung ist gut ausgebaut und getarnt. Wie viel Mühe dahintersteckt! In einem anderen Abschnitt erwarte ich mit den Genossen den Angriff. Soldat T. erzählt mir, dass er schon öfter an Übungen teilgenommen hatte …
Dann steigen Leuchtraketen in den Morgenhimmel. T. beobachtet das Gefechtsfeld, auf den beginnenden Angriff gefasst. Immer mehr Leuchtspuren kreuzen den Himmel, Detonationen ganz in der Nähe. Am Horizont dunkle Punkte, die immer größer werden, sich auf uns zu bewegen. T. hält den Karabiner im Anschlag … Feuerbefehle. Schüsse. Salvenfeuer. Zusammengefasstes Feuer. Gelernt ist gelernt. Der „Gegner“ darf nicht durchbrechen.
Später, viel später: Wieder hocken wir am Lagerfeuer auf notdürftig errichteten Bänken aus Kiefernholz, denn der Waldboden ist zu naß. Man sammelt vor allem Kienspan, der brennt am besten. Im Widerschein der zuckenden Flammen glühen die Gesichter, die Augen leuchten, der noch kalte Wind faucht gegen die Rücken, die Gedanken fliegen voraus: „Wenn wir reinkommen, werde ich gleich einen Grog in der Gaststätte trinken“, schwelgt einer in Zukunftsträumen. „Aber richtig heiß muss er sein“, ergänzt ein anderer. Ein Dritter: „Dann Waffenreinigen und ab ins Bett.“ Der Hauptfeldwebel tritt in den Leuchtkreis des Lagerfeuers, lässt eine Decke ausbreiten und legt darauf die Brote. Plötzlich kommt Bewegung in die Leute. Jetzt will jeder der erste sein – beim Essenempfang! In den dämmrigen Morgenstunden des nächsten Tages rückt die Kompanie wieder in die Kaserne ein, die Gesichter verschmutzt und unrasiert.
Eine Stunde später lese ich im „Neuen Deutschland“ vom 31. Januar folgende Bemerkung von Prof. Steenbeck: „Es ist in meinen Augen eine der größten Kulturschanden, dass der Kampf gegen den Atomtod in der christlichen Bundesrepublik durch Gerichte verfolgt wird. Es wird nicht mehr lange dauern, und wir alle werden auf diese Tatsache mit ähnlicher Scham zurückblicken, wie auf die Ketzerverbrennung früherer Zeiten oder die Judenmorde des nationalsozialistischen Deutschland.“ Gefällt mir, dieses Zitat. Gegen jene und andere Kulturschanden setzen wir vieles, auch unsere „nassen und kalten Füße“. Nehme mein Notizheft und schreibe diese Zeilen, nur so für mich..
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Zum Inhalt
Ausgangssituation ist Schweden und in Erinnerung das Haus in Berlin Schöneberg, in dem die Ziebells 1945 noch wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender, auch nach der Rückkehr im Jahre 2005 nach Deutschland. Als Rentner, Blogger, Rezensent undund Autor!
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Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro.
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Über den Autor: Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow (alias Henry) in seinem Buch „Ausbruch aus der Stille“) noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. Doch mit Geologie hatte das alles nur bedingt zu tun… In den bewaffneten Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Den Titel Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie sind seit 1961 sehr glücklich verheiratet und haben drei Kinder, zwei Enkel und zwei Enkelinnen.
Frühere Artikel von Harry Popow
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Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.
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