F.-B. Habel
Wo der Film am filmsten ist
Bericht vom 15. Neiße-Festival in Großhennersdorf
.
Er habe seine Seghers-Verfilmung »Transit« schon ein paar Mal vorgestellt, aber das habe er noch nicht erlebt, meinte der diesjährige Ehrenpreisträger Christian Petzold in seiner Dankesrede, dass man nach einer Filmdiskussion gemeinsam am Lagerfeuer sitzt. Seinen besonderen Charme verdankt das Neiße-Filmfestival (NFF) der Selbstorganisation. Vor 15 Jahren wurde es von Filmenthusiasten in Großhennersdorf (zwischen Zittau und Löbau) ins Leben gerufen. Bis heute wäre es ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer nicht auf die Beine zu stellen.
In diesem Jahr gab es 19 Veranstaltungsorte in Deutschland, Polen und Tschechien. Dort liefen mehr als 120 Filme. Es gab auch Ausstellungen und Konzerte. Am vergangenen Sonnabend wurden im polnischen Zgorzelec die Preise verliehen, Sonntag war Publikumstag. Und da tauchten viele Helfer in die magische Welt des Films ein. Im Varnsdorfer Centrum Panorama, einem der größten Kinos in Tschechien, sahen sie gemeinsam einen über 50 Jahre alten 70-mm-Film mit Claudia Cardinale.
Seit Beginn findet das NFF in den drei Ländern statt. Eröffnet wird es traditionell im Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater, Hauptspielort ist das Kunstbauerkino in Großhennersdorf. Es verfügt über zwei Säle, wenn man die denn so hochtrabend bezeichnen kann. Manche Zuschauer setzen sich in der umgebauten Scheune gern in die erste Reihe dicht vor die Leinwand, »weil hier der Film am filmsten ist«, wie mir erklärt wurde, und weil man keine Köpfe vor den Untertiteln zu befürchten hat.
Zu den Wettbewerben für Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus den drei Ländern kamen zahlreiche Nebenreihen. Eine davon war den ’68ern gewidmet. Hier lief etwa Gerd Kroskes Dokfilm »SPK-Komplex« über das 1970 in Heidelberg gegründete »Sozialistische Patientenkollektiv«, das die Verwahrpsychiatrie kritisierte, innovative Therapieformen mit politischen Forderungen verband und deshalb vom Staat zerschlagen wurde. Bei der Publikumsdiskussion saß der Regisseur neben einem seiner Interviewpartner, Karl-Heinz Dellwo. Dem Ex-RAF-Mitglied fällt im Film am Grab von Holger Meins auf, »dass auch wir der anderen Seite unsere Toten nicht verzeihen können«. Bei der Diskussion vertrat Dellwo auch Thesen zu Solidarität, Kollektivität und Vorstellungen eines Lebens außerhalb des Kapitalismus, die er zum 20. Jahrestag der RAF-Auflösung in der jW dargelegt hatte (20.4.2018).
Die Preise des NFF heißen »Neiße-Fische«. Den wichtigsten angelte sich wie schon 2014 Juraj Lehotsky. Vor vier Jahren erhielt der Regisseur aus Bratislava den Hauptpreis für seinen Spielfilm »Zázrak« (Wunder) über eine 15jährige im Erziehungsheim. Diesmal wurde er für »Nina« ausgezeichnet, wieder eine slowakisch-tschechische Koproduktion mit minderjähriger Heldin. Diesmal leidet eine elfjährige Schwimmerin unter der Trennung ihrer Eltern. »Fast ausschließlich aus der Perspektive des Kindes erzählt, gelingt dem Film im Bruch dieses Blickwinkels nach Verschwinden des Kindes sogar ein noch stärkerer Appell dafür, die Welt mit Kinderaugen zu sehen«, teilten die Juroren in ihrer Begründung mit.
.
Als bester Dokumentarfilm wurde das Langdebüt von Rosa Hannah Ziegler, »Familienleben«, geehrt. Sie führt auf einen Hof, den eine Mutter mit ihren zwei heranwachsenden Töchtern bewirtschaftet. Ein Ex, von dem sich Biggi getrennt hat, wohnt in der Nachbarschaft. Es kommt zu harschen Auseinandersetzungen. Die Jury hob die »respektvolle Empathie« hervor, mit der die Regisseurin in ihrem Familienporträt »gleichermaßen große Nähe und klaustrophobische Beklemmung« entstehen lasse, am Ende gar einen »Kosmos von Chaos und trotziger Zärtlichkeit«.
Das Kulturhaus in Zgorzelec, in dem die Preise verliehen wurden, war ursprünglich eine protzige »Ruhmeshalle« des Wilhelminismus, 1902 vom deutschen Kaiser eingeweiht. Erstmals nahm in diesem Jahr der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) teil, begleitet von seinem Vize Martin Dulig (SPD). Das Land Sachsen ist Hauptsponsor des nicht gerade überfinanzierten Festivals.
Der mit 600 Euro dotierte Preis für die beste schauspielerische Leistung ging an Barbara Auer, die eben noch eine Laudatio auf Christian Petzold gehalten hatte und überrascht wirkte. In dem mit ein wenig deutschem Geld produzierten Schweizer Film »Vakuum« (Regie: Christine Repond) zeigt sie die widerstreitenden Gefühle einer zunächst glücklichen Ehefrau, die von ihrem Mann mit HIV angesteckt wird.
»Zittau kann mehr« ist die Devise des dortigen Oberbürgermeisters Thomas Zenker (parteilos). Er kämpft um den Titel »Kulturhauptstadt Europas 2025«. Das Neiße-Filmfestival mit seinem neuen Besucherrekord (mehr als 7.000) kann da sicherlich einen Beitrag leisten.
.
Weitere Artikel von F.-B. Habel
.
Für den Inhalt dieses Artikels ist der Autor bzw. die Autorin verantwortlich.
Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.
Auch linker Journalismus ist nicht kostenlos und auch kleine Spenden helfen Großes zu veröffentlichen! |