Die Geheimhaltung ziviler Opferzahlen
Die Tagebücher belegen Vertuschungen und Falschmeldungen ziviler Todeszahlen. Der Guardian berichtete, die Dokumente zeigten mindestens 21 verschiedene Gelegenheiten, in denen britischen Truppen das Erschießen oder Bombardieren von afghanischen Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, zugeschrieben wurde. „Manche der Tode waren durch Luftangriffen verursachte Kollateralschäden, doch von vielen wird auch berichtet, britische Truppen hätten auf unbewaffnete Auto- oder Motorradfahrer geschossen, die den Konvois oder Patrouillen ‚zu nahe‘ gekommen seien“, schrieb die Zeitung.„Blutige Fehler auf Kosten von Zivilisten, wie sie in den Protokollen verzeichnet sind, wurden unter anderem auch an dem Tag gemacht, an dem französische Truppen 2008 einen Bus voller Kinder beschossen, wobei sie acht von diesen verletzten. Eine US-Patrouille feuerte ebenfalls mit Maschinengewehren auf einen Bus, wobei sie 15 der Passagiere verwundete oder tötete, und 2007 beschossen polnische Truppen in einem scheinbaren Vergeltungsschlag ein Dorf mit Mörsergranaten, wobei sie eine Hochzeitsgesellschaft, darunter eine schwangere Frau, töteten“, berichtete der Guardian.Die Tagebücher enthüllten geheim gehaltene zivile Opferzahlen und mögliche Hinweise auf Kriegsverbrechen. „Diese detaillierten Aufzeichnungen belegen Angriffe der Koalitionstruppen auf Zivilisten, irrtümlichen Beschuss der eigenen Truppen sowie gegenseitigen Beschuss innerhalb der afghanischen Streitkräfte“, vermeldete der Guardian. Mindestens 20 Fälle von irrtümlichem Beschuss der eigenen Truppen wurden verzeichnet. Assange schrieb 2013 in einer eidesstattlichen Erklärung, das Material dokumentiere „detaillierte Aufzeichnungen über den Tod von fast 20.000 Menschen.“
.
Die Rolle Pakistans und psychologische KriegsführungZu den bedeutendsten Enthüllungen der afghanischen Kriegstagebücher zählt die US-Einschätzung einer verdeckten Rolle Pakistans in dem Konflikt.„Mehr als 180 nachrichtendienstliche Dokumente in den Kriegsprotokollen, von denen die meisten nicht bestätigt werden können, beinhalten detaillierte Aussagen, die Pakistans führende Spionagebehörde der Ausstattung, Bewaffnung und des Trainings der Aufständischen mindestens seit dem Jahr 2004 bezichtigen“, so der Guardian.„Pakistans Militärgeheimdienst ist ein geheimer Strippenzieher der afghanischen Aufständischen, obwohl Pakistan jährlich mehr als eine Milliarde Dollar aus Washington erhält, um bei der Bekämpfung der Rebellen zu helfen“, schrieb die New York Times an dem Tag, an dem die Tagebücher veröffentlicht wurden.Die afghanischen Kriegstagebücher zeigten die von der US-Koalition unterstützte Anwendung von psychologischer Kriegsführung mittels afghanischer Radiosender.„Mehrere Berichte der Einheiten zur psychologischen Kriegsführung und der Wiederaufbauteams – eines Zusammenschlusses ziviler und militärischer Kräfte für den Wiederaufbau Afghanistans – zeigen, dass afghanische Radiosender vertraglich verpflichtet waren, von den USA produzierte Inhalte auszustrahlen. In anderen Berichten spricht US-Militärpersonal von afghanischen Reportern offenbar als ‚unseren Journalisten‘ und weißt diese an, wie sie ihre Arbeit zu machen hätten“, wurde am 27. Juli 2015 auf Yahoo News vermeldet.Ein Dokument aus dem Juni 2007, das als „geheim“ eingestuft worden war, beschreibt zudem die angebliche Selbstzensur pakistanischer Medien:„Pakistans Kabelfernsehbetreiber berichten, sie befänden sich unter anhaltendem Druck – das heißt, der anhaltenden Erfordernis – die Berichterstattungen dreier Fernseh-Nachrichtennetzwerke zu blockieren. Die meisten Kabelbetreiber halten sich an die Vorgaben der Regierung, die sie am 1. Juni erhalten haben. An diesem Tag stellten alle Kabelbetreiber in Pakistan die Ausstrahlung von ARY News ein, während AAJTV in 70 Prozent des Landes nicht mehr empfangen werden konnte. (Siehe Referenztelegram). Um 17.00 lokaler Zeit am 5. Juni war ARY in ganz Pakistan wieder verfügbar. Wir versuchen zu ermitteln, ob sich der Sender selbst zensiert.“
.
Task Force 373
In den afghanischen Kriegstagebüchern werden die Handlungen der Task Force 373 beschrieben, einer Einheit, deren Existenz bis zu den Veröffentlichungen auf WikiLeaks im Jahr 2010 unbekannt war. Berichten zufolge seien mindestens 200 Vorfälle, die die Task Force 373 involvierten, in den Kriegsprotokollen verzeichnet.„Die NATO-Koalition in Afghanistan hat eine verdeckte Spezialeinheit, genannt Task Force 373, eingesetzt, um auf Zielpersonen Jagd zu machen und diese ohne einen Gerichtsprozess zu töten oder zu verhaften. Die Daten von mehr als 2.000 führenden Figuren der Taliban und von al-Qaida befinden sich auf einer ‚Töten oder verhaften‘-Liste, bekannt unter der Bezeichnung JPEL (Joint Prioritised Effects List – auf Deutsch etwa: Liste der gemeinsamen priorisierten Effekte; Anmerkung der Übersetzerin)“, berichtete der Guardian an dem Tag, an dem die Tagebücher veröffentlicht wurden.In dem Artikel hieß es weiter: „In vielen Fällen war es das Vorgehen der Einheit, eine Zielperson zu ergreifen und zu verhaften, doch in anderen tötete sie die Zielperson ohne einen vorangegangenen Versuch der Festnahme. Die Protokolle enthüllen, dass Task Force 373 ebenfalls Zivilisten – Männer, Frauen und Kinder – und sogar afghanische Polizisten, die ihr im Weg standen, tötete.“Die Huffington Post bezog sich in den Wochen nach der WikiLeaks-Veröffentlichung der Dokumente ebenfalls auf die Task Force 373: „Die WikiLeaks-Daten deuten darauf hin, dass bis zu 2.058 Personen in Afghanistan auf einer geheimen Abschussliste, genannt JPEL (Joint Prioritised Effects List), als „Verhaftungs-/Tötungs-“Ziele geführt wurden. Insgesamt 757 Gefangene – höchstwahrscheinlich von dieser Liste – waren Ende Dezember 2009 in der Bagram Theater Internment Facility, dem US-geführten Militärgefängnis innerhalb der Bagram Air Base, inhaftiert.“
.
Zusammenarbeit zwischen WikiLeaks und der Presse
Ein bahnbrechender Aspekt der WikiLeaks-Veröffentlichung der afghanischen Kriegstagebücher war die Tatsache, dass sie den ersten Fall einer Zusammenarbeit zwischen WikiLeaks und führenden Nachrichtenorganisation wie der New York Times, dem Spiegel und dem Guardian im Vorfeld der Publikation darstellte.Die Mainstream-Medien, die seit den US-Präsidentschaftswahlen 2016 eine äußert kritische Position gegenüber WikiLeaks und Assange eingenommen haben, waren an der Veröffentlichung der afghanische Kriegstagebücher aktiv beteiligt. WikiLeaks gab die Tagebücher vorab an den Guardian, die New York Times und den Spiegel weiter, wobei geplant war, dass diese Zeitungen Artikel am selben Tag veröffentlichten, an dem WikiLeaks das Archiv publik machte.Der Guardian beschrieb das Projekt als „eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen dem Guardian, der New York Times und dem deutschen Spiegel-Magazin, die dazu diente, die riesige Fundgrube an Daten im Hinblick auf Material von öffentlichem Interesse zu sichten und diese geheimen Aufzeichnungen der weltweit mächtigsten kriegsführenden Nation global zu verbreiten.“Der Spiegel erläuterte, das Material sei durchleuchtet und die Daten mit unabhängigen Berichten verglichen worden. Auch sprach er vom Konsens zwischen den drei Zeitungen, die mit WikiLeaks zusammenarbeiteten: „Die Verleger waren einstimmig der Überzeugung, dass es ein berechtigtes öffentliches Interesse an dem Material gibt, da es ein tieferes Verständnis eines Krieges erlaubt, der noch immer und seit nunmehr fast neun Jahren im Gange ist.“Im Jahr 2011 sprach Assange in einem Interview über seine Zusammenarbeiten mit Massenmedien. „Wir haben uns mit etwa zwanzig Zeitungen auf der ganzen Welt zusammengetan, um den Gesamteffekt zu erhöhen, unter anderem auch dadurch, dass wir jede dieser Nachrichtenorganisationen dazu anregten, mutiger zu sein“, sagte er.„Es hat sie mutiger gemacht, auch wenn es im Falle der New York Times nicht ganz geklappt hat. Eine der Geschichten beispielsweise, die wir in den afghanischen Kriegstagebüchern fanden, handelte von der Task Force 373, einem Tötungskommando aus US-Spezialkräften.Task Force 373 arbeitet in Afghanistan eine Abschussliste mit etwa 2.000 Namen ab, und die Regierung in Kabul ist über diese außergerichtlichen Ermordungen ziemlich unglücklich – es gibt kein unparteiisches Verfahren, nachdem ein Name der Liste hinzugefügt oder von ihr gestrichen wird. Man wird nicht benachrichtigt, wenn man auf dieser Liste steht, die die Bezeichnung Joint Prioritised Effects List trägt, kurz JPEL. Es ist offenbar eine „Töten oder verhaften“-Liste.Doch aus dem Material, das wir veröffentlicht haben, geht hervor, dass etwa 50 Prozent der Fälle nur im Töten bestanden – es gibt keine Verhaftungsoption, wenn eine Drohne eine Bombe auf jemanden abwirft. Und in manchen Fällen tötete Task Force 373 auch unschuldige Menschen, etwa in einem Fall, in dem sie eine Schule attackierte und sieben Kinder tötete, aber keine ihrer Zielpersonen, und dann versuchte, das Ganze zu vertuschen.Diese Entdeckung wurde eine Titelgeschichte im Spiegel. Sie wurde ein Artikel im Guardian. Für die New York Times wurde von Eric Schmitt, dem Korrespondenten über nationale Sicherheit, ebenfalls ein Artikel geschrieben, doch dieser wurde fallen gelassen. Er erschien nicht in der New York Times.“
.
Reaktion der Medien
Am Tag der Veröffentlichung der Tagebücher sagte Assange in einem Video des Guardian: „Es ist die Rolle von gutem Journalismus, sich mächtige Täter vorzunehmen, und wann immer man sich mächtige Täter vornimmt, gibt es eine heftige Reaktion. Wir sind uns dieser Kontroverse bewusst und wir glauben, es ist gut, an ihr teilzunehmen, und in diesem Fall wird sie die wahre Natur dieses Krieges enthüllen.“Die Reaktion der Presse auf die Veröffentlichung der Kriegstagebücher war alles andere als durchgehend positiv.Maximilian Forte beschrieb die Angelegenheit in Counterpunch: „WikiLeaks scheint sich nun auf Einzelne zu verlassen, die sich auf eigene Faust durch tausende Berichte wühlen, und ihre Funde dann mutmaßlich außerhalb von Zeitungen veröffentlichen, Monate in der Zukunft, über Ereignisse, die möglicherweise vor Jahren stattgefunden haben. Davon mögen Historiker profitieren, doch nicht die Antikriegs-Aktivisten, die in der unmittelbaren Gegenwart handeln.“Eine solche Haltung lässt jedoch die koordinierte Veröffentlichung mit renommierten Zeitungen in drei Ländern außer Acht. Antikriegs-Aktivisten und Künstler zogen in der Tat einen Nutzen aus dem Material, insbesondere durch den Einsatz von Techniken zur Datenvisualisierung.In einem Fernsehbericht des Senders CBS, der in den Tagen nach der Veröffentlichung ausgestrahlt wurde, wurde WikiLeaks als „undurchsichtige Webseite“ bezeichnet.
.
Reaktion des Militärs
Der eidesstattlichen Erklärung Assanges zufolge verstärkten das US-Verteidigungsministerium und das FBI nur drei Tage nach Veröffentlichung der afghanischen Kriegstagebücher am 25. Juli ihre bereits bestehenden Anstrengungen, Assange strafrechtlich zu verfolgen und WikiLeaks außer Gefecht zu setzen.Assange sagte:„Infolge unserer Veröffentlichung der afghanischen Kriegstagebücher und infolge von Neuigkeiten über die Absichten von WikiLeaks, hunderttausende US-diplomatische Depeschen zu publizieren, haben Mitarbeiter der US-Regierung mit Versuchen begonnen, den rechtlichen Schutz, den WikiLeaks als Verlag genießt, zu delegitimieren, indem sie WikiLeaks als Gegner des nationalen Interesses der USA darstellen.
In einem Artikel des US-Verteidigungsministeriums vom 29. Juli 2010, der seitdem gelöscht, doch inzwischen mithilfe eines Archivdienstes wiederhergestellt wurde, heißt es unter anderem:„Verteidigungsminister Robert M. Gates ließ verlauten, er hätte das FBI um Hilfe gebeten, damit dieses Pentagon-Angestellte bei der Untersuchung der Veröffentlichung von Geheimdokumenten durch WikiLeaks unterstützt. Gates und Marineoffizier Mike Mullen, Vorsitzender der Vereinigung der Generalstabschefs, verurteilten diese Veröffentlichung von Geheimdokumenten bei einer Pentagonsitzung heute auf das Schärfste. “In dem Artikel hieß es weiter: „Die Bitte um FBI-Unterstützung stellt sicher, dass das Ministerium über alle zur Untersuchung und Bewertung dieser Verletzung der nationalen Sicherheit nötigen Ressourcen verfügt, so der Minister. Er wies darauf hin, dass der Einsatz des FBIs dem Untersuchungsteam jeglichen Zugriff erlaube, den es brauche.“ In den Tagen nach der Tagebuch-Veröffentlichung bezeichnete Michael Hayden, ein ehemaliger NSA-Direktor und von 2006 bis 2009 CIA-Chef unter George W. Bush, diese Enthüllung als „Tragödie“.
.
Reaktion der Politik
General James Jones, Nationaler Sicherheitsberater der Obama-Regierung, nannte die Veröffentlichung „eine Bedrohung der nationalen Sicherheit, die die Leben von Amerikanern und unseren Verbündeten gefährden könnte. “John Kerry, Präsidentschaftskandidat der Demokraten, bewertete die Veröffentlichung der afghanischen Kriegstagebücher als „inakzeptabel und illegal“. Auf einer Pressekonferenz sagte der Pressesprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, WikiLeaks stelle eine „sehr reale und potenzielle Bedrohung“ dar.Assange zufolge hätte es in einer Mitteilung, die das Weiße Haus kurz nach der Veröffentlichung der Tagebücher an Reporter sendete, unter anderem geheißen: „Wenn Sie über diese Angelegenheit berichten, lohnt es sich zu erwähnen, dass WikiLeaks kein objektiver Nachrichtenkanal ist, sondern eine Organisation, die sich der US-Politik in Afghanistan entgegenstellt.“ Die Veröffentlichung der afghanischen Kriegstagebücher würde bei der Strafverfolgung Julian Assanges, die das US-Justizministerium im Dezember 2010 offiziell verkündete, eine tragende Rolle spielen und schließlich zu seiner Verhaftung am 11. April dieses Jahres führen.
.
Über die Autorin:
Elizabeth Vos ist freie Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für Consortium News und ist Mitwirkende bei #Unity4J, einer andauernden Online-Mahnwache zur Unterstützung von Julian Assange.