Harry Popow
Soldaten für den Frieden (Teil fünf)
Leseprobe aus „Ausbruch aus der Stille…“ von Harry Popow
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Hier nun die fünfte Leseprobe aus meinem neuen Buch »Ausbruch Aus Der Stille – Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten«, das im Februar dieses Jahres auf den Markt gekommen ist. Bitte benutzt auch die Kommentarfunktion für Eure Kritiken und Einschätzungen.
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Steinkohlen-Zeit
Zwickau, Seminarstraße 1. Ein großes graues Gebäude – die Bergbauberufsschule. Glück für Henry. Die Lehrzeit beginnt erst Mitte September, also noch über zehn Tage Zeit. Er meldet sich jedenfalls an und wohnt ab 15.9.1954 im Lehrlingswohnheim. Das Bergwerk der Steinkohle heißt „Karl Marx“. Es gibt noch ein zweites Bergwerk – „Martin Hoop“. In den Schaufenstern der Stadt sieht er die ersten Fernsehapparate mit den kleinen Bildschirmen. Aber so etwas Technisches macht ihn nicht an. Zuerst paukt er nur Theoretisches. Über die Geschichte des Bergbaus, über die Untertagearbeiten, wie die Technik heißt, die die jungen Leute da unten erwartet, und daß die Steinkohlenflöze noch Vorräte für weitere siebzig Jahre im Berg festhalten. Also ganz schöne Aussichten. Im Sommer beginnt die praktische Arbeit unter Tage. Zuvor Kleider wechseln in einer großen Halle. Von der Decke herab baumeln an langen eisernen Ketten wie geräucherte Ware die dunklen Arbeitsklamotten. Der Lehrling öffnet das Sicherheitsschloß, läßt die Kette herunter. Sein sauberes Zeug kommt an den Haken, alles hochziehen, fertig. Grubenlampe empfangen. Rein in die Fahrt, so nennt sich der „Fahrstuhl“, und ab in die Tiefe. Kribbeln im Bauch, denn die Mannschaftsfahrt hat eine Sinkgeschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde. (Die Produktenfahrt ist doppelt so schnell.) 900 Meter Tiefe (Teufe). Eine unheimliche Stille empfängt die jungen Bergleute. Irgendwo kreischt ein „Hunt“ in den Weichen, so heißen die kleinen Wägelchen für den Kohletransport. Langsam tasten die Lehrlinge sich vorwärts, die elektrisch betriebenen Grubenlampen in ihren Händen werfen nur ein spärliches Licht auf den dunklen Stollenboden. Manchmal blitzt eine kleine Wasserpfütze auf. Dann und wann müssen die Männer eine „Schleuse“ passieren, ein Wetter, durch die der Grubenwind geregelt wird. Endlich am Ziel, man sagt „vor Ort“. Aus einer Kiste holt Henry sein Gezähe (Werkzeug), lockert mit dem Picker das Schwarz aus der Grubenwand, haut Stempel (Stützbalken) zurecht, hilft mit, den neu entstehenden Stollen abzusichern, übt sich im Handversatz, verletzt sich an der Schüttelrutsche, trinkt schwarzen Kaffee aus der großen Blechkanne, wartet sehnsüchtig auf das Ende der Schicht, auf den hellen Himmel über der Stadt …
Nach der Ausfahrt unter die Dusche. Er lernt, sich richtig zu waschen. Beim zweitenmal glaubt er, jetzt geht‘s. Ein Blick in den Spiegel überzeugt ihn vom Gegenteil: Die Augenbrauen, der Haaransatz am Kopf, die Ohrmuscheln – alles ist noch pechrabenschwarz. Zum Teufel noch mal! Das ganze noch einmal. Bald bekommen die Lehrlinge ihr erstes eigenes Lehrlingsgeld: 20 M Abschlag. Das ist ein Gefühl! Überhaupt, Henry fühlt sich wohl, er versteht sich mit den anderen Lehrlingen gut, seine erste Erkenntnis: Manche, die ihm fürs erste nicht so nahe sind, erweisen sich dann doch als prima Kumpel. Und dann noch das: Für gutes Lernen überreicht man ihm drei Bände Goethe und sechs Bände Heine. Er meldet sich in einer neu gegründeten Volkstanzgruppe an, und da er nicht ungeschickt ist, nimmt man bei ihm Maß für eine entsprechende Tracht. Eigentlich wollte er gar nicht so sehr tanzen, ihm liegt vielmehr daran, bei dieser „Gelegenheit“ ein Mädchen kennenzulernen. Aber manchmal muß er daran denken, wie schön es sein müßte, über Tage arbeiten zu können, unter dem blauen Himmel, an frischer Luft.
Dann passiert etwas. Henry ist gerade in Leipzig in Urlaub, da stürzen im Erzgebirge Wassermassen vom Frühlingshimmel. Die Zwickauer Mulde kriecht schnell über die Ufer, läßt ihre schmutzigbraunen Wasser in die Stadt laufen. Ahnungslos steigt Henry nach dem Urlaub am Bahnhof aus – Totenstille. Ein einziger Straßenbahnwagen steht bereit für die Fahrt ins Zentrum. Das ist nicht nur merkwürdig, das ist gespenstig. Ihm schwant etwas, doch er steigt ein. Nach zwei oder drei Haltestellen ein Halt. Alles Aussteigen! Und dann steht man an einem Ufer, einem „Straßenufer“. Mitten in der Stadt. Kähne verkehren. Der Lehrling Henry muß ans andere Ende der Stadt, ins Lehrlingswohnheim. Doch das wird erst morgen klappen. Zunächst muß er in ein Massenquartier. Schöne Bescherung! Tage später. Eine gute Nachricht von der Bergbauberufsschule. Man eröffnet ihm, daß er wegen seines Alters ein Jahr der Ausbildung überspringen könne, muß aber Wurzelziehen und andere Lehraufgaben im Selbststudium in den Ferien nachholen. Er paukt. Und weil er Grippe hat – auch im Bett. Dann bekommen einige Lehrlinge einen ersten FDGB-Ferienscheck: Für die Ostsee, für ein Heim der Steinkohle in Heringsdorf. Henry ist dabei. Auf der Rücktour besucht Henry seinen Papa in Berlin-Eichwalde. Der freut sich, kauft seinem ältesten Sohn einen Anzug für 300 DM, damals sehr viel Geld. Henry bedankt sich. In dessen Position beim Minister für Maschinenbau bezieht er ein gutes Gehalt. Als Erich Ziebell hört, daß sein Sohn später gerne Geologie studieren würde, empfiehlt er ihm, seine Lehrstelle in Zwickau aufzugeben. Durch seine guten Beziehungen vermittelt er ihn im Handumdrehen an die „Staatliche Geologische Kommission“, Außenstelle Schwerin. „Ja, das ist es,“ denkt Henry und freut sich riesig. Also löst er in Zwickau seinen Ausbildungsvertrag – sogar ohne Schwierigkeiten. Ist es ein Kapitulieren vor der harten Arbeit im Schacht? Nein! Ihn erwartet eine für ihn bessere Variante für die Zukunft.
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Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro.
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Über den Autor: Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow (alias Henry) in seinem Buch „Ausbruch aus der Stille“) noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. Doch mit Geologie hatte das alles nur bedingt zu tun… In den bewaffneten Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Den Titel Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie sind seit 1961 sehr glücklich verheiratet und haben drei Kinder, zwei Enkel und zwei Enkelinnen.
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