Jairo Gómez
Die machtlose Macht
Bürgerbewegungen und -initiativen brechen mit den Werten der wachstums- und produktionszentrierten Konsumgesellschaft. Doch ihre Erfolge sind gering. Die Fragmentierung ist die Achillesferse der Massen.
Dieser Text ist zwei Jahre alt. Die angegebenen Zahlen dürften überholt sein, geändert hat sich bisher an den Verhältnissen nichts.
Ein von mir geschätzter Mann hat mich gefragt, ob es möglich sei, mit einem Blatt Papier einen Nagel in die Wand zu schlagen. Reflexartig kam mir der erste Gedanke: Natürlich nicht!
Um das zu verstehen, bedarf es keiner physikalischen Formel. Zum Glück blieb es nicht beim Reflex. Immerhin ist Mensch intelligent und hat die Fähigkeit zur Problemlösung: Die Verdichtung der Masse formt den Hammer. Na … es macht klick, oder?!
Werden sehr, sehr viele Blätter aufeinandergestapelt, kommt so viel Gewicht zusammen, dass es leicht möglich wird, den Nagel in die Wand zu befördern. Altbackene Telefonbücher oder Brehms Tierleben aus dem vorletzten Jahrhundert leisten beim schnellen Schlag übrigens hervorragende Dienste.
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Der Wurm steckt in der Gesellschaft
Warum diese Vorgeschichte? Nun, weil jede einzelne Bürgerinitiative und jede Bürgerbewegung in Deutschland genauso kraftlos ist wie ein Blatt Papier. Sie kriegen keinen Nagel in die gesellschaftspolitische Wand.
Die in den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs lieb gewonnene Geborgenheit ist negativen Empfindungen gewichen. Kaum jemand übersieht dabei, dass in dieser Gesellschaft der Wurm steckt.
Unzufriedenheit über den Arbeitsmarkt, die zunehmende soziale Unsicherheit, die Angst vor Terrorismus, der Zorn auf Steueroasen, die Wut auf miese Jobs, die Frustration über die zunehmende Perspektivlosigkeit und dann noch der Hass auf die Schwächsten und das Misstrauen gegenüber jedermann: Das alles ist Deutschland.
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5000 Demonstrationen in Berlin
Viele Menschen wollen gegen diese Missstände etwas unternehmen. Ihr Unmut richtet sich wahlweise gegen die Massentierhaltung, die Atomkraft, das Autofahren, das Schleppnetzfischen, den Steuerbetrug, die Kriege, die Waffenexporte, den Raubtierkapitalismus, die Ausbeutung oder, oder, oder …
Schon seit Jahren schießen Vereine, Klubs, Initiativen und Bürgerbewegungen bundesweit wie Pilze aus dem Boden. Ende 2014 waren über 620.000 Vereine in den Vereinsregistern eingetragen. Sport, Bildung und der Umweltschutz sind einige ihrer Themen.
Unbestritten sind dies wichtige Baustellen. Den Kampf gegen den Ausbau von Windenergieanlagen haben zum Beispiel rund 700 Initiativen aufgenommen. Auch die Zahl der Demonstrationen erreicht schwindelerregende Höhen. Allein in Berlin fanden im letzten Jahr 5000 Demos statt. Hat die Politik deshalb den Kurs gewechselt?
Die eine oder andere Initiative oder Demo mag hin und wieder sogar einen Etappensieg einfahren. Aber wo ist die große Veränderung? Die kann durch diese Fragmente nicht erreicht werden. Dazu bedarf es der Verdichtung aller außerparlamentarischen demokratischen Kräfte zu einer Faust. Denn all diese Menschen stellen ein gewaltiges Machtpotential dar. Es gilt, sie genau das erkennen zu lassen.
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Gesellschaftlicher Wandel: wenn man nur wollte!
Momentan ertönt lediglich das Klangbild einer unverständlichen Kakofonie, die begleitet wird durch ein Sammelsurium an Aktionen die wirkungslos an den Toren der Macht abprallen und deren Stakkato gekennzeichnet ist durch den Zorn auf eine Politik, die die Bürgerwünsche immer häufiger ignoriert.
Politik und Wirtschaft üben sich im Schulterschluss und preisen Wachstum als einziges Lösungsmittel für alle gesellschaftlichen Probleme an. Diesem Mantra wird alles untergeordnet. Ist es das, was wir alle wollen?
Und was machen die gemeinen Bürger? Deren Ansichten sind derartig reich an Nuancen, dass kaum noch jemand erkennen kann, was den nun das Ziel sein soll. Dabei ließe sich aus den unterschiedlichen Stimmen ein gewaltiger Chor bilden, dessen Potenzial ausreicht, um einen gesellschaftlichen Wandel zu initiieren: wenn man nur wollte!
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Demokratie ist die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk. (Abraham Lincoln)
Dafür müssten wir uns lediglich auf sieben übergeordnete Ziele verständigen, um die Fragmente zusammenzuführen:
• Strikte Einhaltung der Menschenrechte.
• Keine Fremdbestimmung durch Institutionen.
• Keine direkte oder indirekte Beteiligung an Kriegen.
• Keine Zerstörung der Umwelt aus Profitsucht.
• Keine Zerstörung der Gesellschaft durch Ausbeutung und Ausgrenzung.
• Abkehr vom Raubtierkapitalismus.
• Realisierung einer Ökonomie des Gemeinwohls.
Wenn wir, der Souverän, eine Änderung in der Politik wollen, dann müssen wir uns zu einer Stimme vereinen und diese Änderung in Deutschland herbeiführen: Friedlich, aber bestimmt in der Aussage, ohne Gewalt, aber dennoch radikal in der Forderung.
Denn wer ist das Land? Nicht die Deutsche Bank, nicht Bayer, VW, Mercedes, RWE oder EON sind Deutschland. Die Menschen sind es, die hier leben. Sie lassen durch ihre Kulturen, ihre Kreativität, ihre Arbeit und ihren Fleiß das Land atmen.
Das bestehende System der repräsentativen Demokratie hat bisher an den Menschen vorbeiregiert und hat sich nicht nach ihren Bedürfnissen gerichtet. Wir dürfen auch nicht auf irgendwelche Heilsbringer in der Politik warten. Kein Politiker und keine Partei wird ernsthaft an den bestehenden Zuständen etwas ändern. Darauf warten zu wollen hieße auf Godot zu warten – es wird niemand kommen.
Abraham Lincoln hat gesagt: „Demokratie ist die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk.“ Es wird Zeit diesem Satz Leben einzuhauchen.
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Dieser Beitrag erschien im Original zuerst auf: https://neue-debatte.com/
Dieser Artikel erschien auch vor ein paar Tagen auf unserem Partnerblog „Graswurzel Post – Stimmen von unten„. Wir danken Jairo Gómez für die Genehmigung der Veröffentlichung.
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Über den Autor: Seit 1967 lebt der im spanischen Granada geborene Bernardo Jairo Gomez Garcia in Deutschland. Schon vor seinen Ausbildungen zum Trockenbaumonteur und Kfz-Lackierer entdeckte Gomez seine Leidenschaft für die Kunst. Er studierte an einer privaten Kunsthochschule Airbrushdesign und wechselte aus der Fabrikhalle ans Lehrerpult. 14 Jahre war Gomez als Spanischlehrer in der Erwachsenenbildung tätig. Seine Interessen gelten der Politik, Geschichte, Literatur und Malerei. Für Neue Debatte schreibt Jairo Gomez über die politischen Entwicklungen in Spanien und Lateinamerika und wirft einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland und Europa, seit kurzem betreibt er seinen eigenen Blog Graswurzel Post.
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