Beitrag von Menschen, die teilweise seit 25 Jahren in Katalonien leben und arbeiten

Mein Katalonien

Zur Verfügung gestellt von Werner Abel
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Liebe Freundinnen und Freunde,
wir als Menschen, die seit vielen Jahren in Katalonien leben bzw. Catalunya regelmässig besuchen, haben folgenden Beitrag zur aktuellen Situation im Lande verfasst.
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Mein Katalonien

Der Konflikt zwischen der spanischen Zentralregierung und der katalanischen Gesellschaft droht nach dem Referendum am 1.10., begleitet von brutalen Polizeieinsätzen, zu eskalieren. Die ultrakonservative spanische Regierung droht mit dem militärischen Ausnahmezustand. Demgegenüber steht die im Moment stärkste, facettenreichste basisdemokratische Zivilbewegung Europas. Auf Grund der langen kollektiven Geschichte Kataloniens hatte diese Mobilisierung von Anfang an starken antifaschistischen Charakter. Fälschlicherweise wurde sie lange von den europäischen Medien in den gleichen Suppentopf geschmissen wie die fremdenfeindliche Lega Norte in Italien, der es nur darum geht, den relativen Reichtum für sich zu behalten.

Eine breite Resonanz der fortschrittlichen Kräfte in Europa könnte vielleicht Schlimmstes verhindern. Die Rede des spanischen Königs am Abend des Generalstreiks, die Verlautbarungen der Regierungssprecherin, des Justiz- und Innenministers der PP-Regierung zielen darauf ab, die Anwendung des § 155 der spanischen Verfassung propagandistisch vorzubereiten. Das würde die Ausrufung eines wie immer gearteten Ausnahmezustandes bedeuten. Es ist ernsthaft zu befürchten, dass es zum Einsatz von Militär, Massenverhaftungen von Regierungsmitgliedern und anderen exponierten Persönlichkeiten kommen wird, um die Kontrolle über eine bislang friedliche Protestbewegung, die den Grossteil der katalanischen Bevölkerung erfasst hat, zu erlangen. Mit der Besetzung der Medien, Verhinderung von freier Kommunikation über Internet (wie schon in der letzten Woche geschehen) u.v.a.m. könnte ein Szenario innerhalb der EU entstehen, wie wir es aus der Türkei kennen.

Um die Hintergründe dieses Konfliktes zu verstehen, muss etwas ausgeholt werden. Katalonien, wie das Baskenland, ist eine eigene Sprach- und Kulturregion mit mehr als 800 Jahren langer Tradition.

Zentralspanien und somit auch Madrid waren bis ins letzte Jahrhundert hinein noch stark feudalistisch, kolonialistisch und klerikal (Opus dei…) geprägt. Eine Phase der Aufklärung hat es nur marginal gegeben. Bis heute pflegen Teile der Gesellschaft den grossen hispanischen Traum und zählen jeden Spanisch sprechenden Menschen in dieser Welt, sozusagen aus der Sicht spanischer Urvaterschaft. Im Militärputsch der Franquisten 1936 gegen die demokratisch gewählte fortschrittliche Regierung kulminierten die Widersprüche zwischen dem reaktionären, erzkonservativen, fortschrittlichen anarchistisch, marginalisierten Landbevölkerung. Die Truppen Francos gewannen, auch durch die nicht unerhebliche Unterstützung der deutschen und italienischen Faschisten, bekanntermassen diesen Bürgerkrieg, dem eine grausame Repressionswelle, vor allem auch in Katalonien, folgte. U.a. wurde katalanische Sprache verboten. Wenn die paramilitärische Polizei Guardia Civil Menschen auf der Strasse Katalan sprechen hörte, wurden diese drangsaliert und aufgefordert, eine „christliche Sprache“ zu sprechen.

Nachdem Franco 1975 im Bett starb, gab es die sog. Phase der Transición (Übergang). Der reaktionäre Kern der rechtsnationalistischen Gesellschaft katholischen, Bürgertum, organisierten spätfeudalistischen Spanien und dem einer syndikalistisch (teilweise Arbeiterschaft und einer stark war nur unwesentlich geschwächt, obwohl dann die sog. sozialistische Partei während einer relativ langen Regierungsphase das Land modernisieren konnte auf Basis einer bürgerlichen Verfassung. Ein ehemaliger Minister aus dem Kabinett Francos gründete dann eine reaktionäre Partei, aus der die derzeit regierende Partido Popular (PP) hervorging. Noch heute stammen nicht unwesentliche Teile dieser Regierung aus alten franquistischen Familien.

Was sich nun in Katalonien abspielt, reaktiviert die alten Traumata dieser faschistischen Zeit. Das prosperierende Katalonien mit der Hafenstadt Barcelona als Mittelpunkt steht in der Tradition einer weltoffenen, aufgeklärten, ja fast libertär modernen Handelsbourgeoisie, vielleicht von der Mentalität vergleichbar eher mit der Hanse oder dem holländischen Bürgertum. Es war in den 20ziger und 30ziger Jahren Zentrum der stärksten libertär anarchistischen Bewegung Europas. Nicht dass es diese Phänomene nicht in Madrid gäbe, aber das Zentrum Spaniens stand und steht fast immer im direkten Konflikt mit diesem klerikal spätfranquistischen Klüngel, der derzeit mal wieder die Regierung stellt. Im Jahr 2006 war unter der Präsidentenschaft des Sozialisten Zapatero im spanischen Parlament mit grosser Mehrheit ein erweitertes Autonomiestatut für Katalonien verabschiedet worden gegen die Stimmen der Rajoy-PP. Dieses Statut hätte Katalonien mehr finanzielle und kulturelle Rechte eingeräumt. Eben dieser Rajoy legte dann erfolgreich vor dem Verfasssungsgericht Widerspruch gegen diesen Parlamentsbeschluss ein. Mit dem Negativentscheid im Jahre 2010 des reaktionär besetzten Verfassungs- gerichts war damit jede verhandelbare Perspektive, den Besonderheiten Kataloniens gerecht zu werden, endgültig gescheitert. Wieder einmal frustiert von der hispanonationalistischen Zentralregierung entwickelte sich in weiten Teilen der katalanischen Bevölkerung die nun uns bekannte Unabhängigkeitsbewegung.

In den letzten Wochen dokumentierte die kritische Auslandspresse im Gegensatz zu den manipulierten spanischen Medien die jüngsten martialischen Polizeiaktionen in Katalonien. Die Zentralregierung verbot darüberhinaus alle Veranstaltungen in Gesamtspanien, die in irgendeiner Weise das Volksabstimmungsbegehren der KatalanInnen unterstützen. Es hatte in mehreren Städten, auch in Madrid, in der letzten Woche Versammlungen und Demonstrationen gegen die Militärstaatsstrategie der PP-Regierung gegeben, wohl wissend in welch gefährlicher Tradition sich diese Partei und das von ihr durchsetzte Justizsystem bewegt. Grosse Teile der konservativen Medien Zentralspaniens haben aber auch gut und gerne die Ressentiments gegen die KatalanInnen, appellierend an die Hispanidad-Gefühle, bedient. Natürlich gibt es auch Entsprechungen in der teilweise nationalistisch geprägten katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wie z.B. Vorurteile gegen Südspanien etc.. Aber es wäre vollkommen verkehrt, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung auf nationale Identitäten zu reduzieren. Sie spielen vielleicht bei einem gewissen Teil eine Rolle, aber so weit ich das einschätzen kann, motiviert den grössten Teil der bewegten Menschen vor allem die Ablösung von diesem reaktionären Zentrum Spaniens, zu dem mensch auch gewisse Teile der spanischen Sozialdemokratie zählen kann. Letztere verhält sich wie so oft in der Geschichte mal wieder vollkommen indifferent.

Zusammengefasst bzgl. Katalonien können wir sagen, dass in dem recht heterogenen Spektrum der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung sich alle einig sind in der Ablehnung der reaktionären und korrupten Politikerkaste Zentralspaniens, dass diese Bewegung insgesamt, trotz nationaler Identitäten, weitgehend fortschrittlich, offen und kosmopolitisch und stark Europa orientiert ist.

Wir kennen in Katalonien viele Menschen aus dem links-libertären Spektrum, die diese Unabhängigkeitsbewegung nicht unterstützen, weil sie kein politisches Projekt in diesem Gemenge identifizieren können und vor allem den heiklen Pakt mit der katalanischen Bourgeoisie, der es gewiss auch um Machtgewinn geht, ablehnen. In dem demokratischen Begehren, diese Angelegenheit nun endlich mal in Form einer Volksbefragung zu klären, sind sich aber alle einig, ausser etwa 20 % der Menschen, die dort eben diese PP und die neue neoliberale Partei Ciudadanos unterstützen. Hinsichtlich Gesamtspanien ist das Bild komplizierter. Mit systematischen Falschmeldungen und nationalistischer Demagogie hetzt die PP-Regierung nach altbekannten franquistischen Mustern die Menschen und Medien auf. Goebbels hätte seine Freude daran.

Nur Teile der Gesellschaft in der Region Valencia und auf den Balearen, wo Sprachen gesprochen werden, die mit dem Katalan fast identisch sind, haben sich mit den KatalanInnen solidarisiert. Im Baskenland allerdings demonstrierten, auch unterstützt von der bask. Regierungspartei PNV, ca. 40 000 in Solidarität mit den KatalanInnen, obwohl letztere Anfang dieses Jahrhunderts die Basken bei einer ähnlichen Initiative ziemlich im Regen stehen gelassen hatten. Der damalige Präsident Kataloniens Pujol hatte mit dem ultrakonservativen PP-Präsident Aznar wegen Haushaltsvorteilen ziemlich geklüngelt.

Das augenblickliche Gemenge ist hochbrisant. Vor dem Hintergrund der noch recht jungen Geschichte der Demokratie Spaniens werden die Scherben der militärpolitischen Politik Rajoys in Katalonien nicht mehr zu kitten sein. Dass der erzreaktionären spanischen Bourgeoisie ähnlich wie 1936 nichts anderes einfällt, als militärische Mittel und Repression zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten einzusetzen, ist zu befürchten und es wird deutlich werden, dass die spanische Gesellschaft die Erfahrung des Faschismus der Francozeit nie aufgearbeitet, sondern einfach nur verdrängt hat. Vor allem die PP ist dafür verantwortlich. Vielleicht in gewisser Vorahnung gab es kürzlich am 11. September dieses Jahres am katalanischen Feiertag Diada eine extra grosse Veranstaltung zum 11/09/1973, an dem in Chile die demokratisch gewählte sozialdemokratische Regierung Allendes durch einen Militätputsch angeführt von General Pinochet gestürzt wurde.

Dieser Beitrag wurde verfasst von Menschen, die teilweise seit 25 Jahren in Katalonien leben und arbeiten.
Detlef Schäfer, Elisabeth Erdtmann, Ulrike Clemen.

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