In der Landwirtschaft wären ähnliche Schritte der Regulierung überfällig, doch das Gegenteil ist der Fall. Mit der Coronakrise setzte der Bauernverband auch hier eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 12 Stunden am Tag durch. Auch wurde der Zeitraum, in der Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter ohne Sozialversicherung beschäftigt werden dürfen, von 70 auf 115 Tage verlängert. Direkt vom Rollfeld der Flughäfen werden die Arbeiterinnen in die Unterkünfte transportiert, koordiniert von Bauernverband und Bundespolizei. Dies macht es der Agrargewerkschaft IG BAU unmöglich, sie über ihre Rechte zu informieren. Laut Verfügung des Agrarministeriums ist es weiterhin möglich, bis zu 20 Arbeiterinnen in eine Unterkunft zu pferchen. Schon in den letzten Jahren erhielten Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Papier den Mindestlohn, faktisch aber wurden ihnen für Massenunterkünfte, Anreise mit dem Bus und manchmal selbst für Arbeitsutensilien Teile des Lohns abgezogen. Kontrolle üben Betriebe oft aus, indem sie Pässe der Arbeitenden einbehalten, einen Arbeitsvertrag nur auf Deutsch ausstellen, oder, wie beim Betrieb Ritter in Bornheim vorgesehen, die Löhne erst bei Abreise der Arbeiterinnen und Arbeiter auszahlen.
Auf das Verbot der Werkverträge in der Fleischindustrie müssen für die Land- und Ernährungswirtschaft insgesamt weitere Schritte folgen, wenn die Bundesregierung es ernst meint mit der Systemrelevanz des Ernährungssystems. Statt Sonntagsreden braucht es eine Politik, die Sofortmaßnahmen zur Gesundheit am Arbeitsplatz mit Strukturreformen verbindet:
Erstens – Kontrollen sicherstellen: Arbeiterinnen und Arbeiter in der Landwirtschaft und in der Fleischwirtschaft brauchen in Zeiten von Corona eine Erschwerniszulage, da sie sich besonderen Risiken aussetzen, und sichere Unterkünfte. Obwohl fundamentale Arbeitsrechte auch in den letzten Jahren schon vielfach verletzt wurden, haben Behörden zu Coronazeiten die Inspektionen am Arbeitsplatz runtergefahren. Notwendig ist aber gerade das Gegenteil: flächendeckende Inspektionen in besonderen Risikosektoren.
Zweitens – Rassismus im Ernährungssystem beenden: Land- und Fleischwirtschaft basieren in Deutschland auf der billigen Ausbeutung überwiegend osteuropäischer Arbeitskräfte. Nicht nur die Werkverträge über Subunternehmen in der Fleischwirtschaft, sondern auch die Möglichkeit der saisonalen Beschäftigung ohne Sozialversicherung in Agrarbetrieben ist nichts anderes als in Arbeitsgesetz gegossener Rassismus. Die Menschen, die in Deutschland das Essen produzieren, müssen für diese Zeit auch am Sozialsystem und am gesellschaftlichen Leben teilhaben dürfen. Schon in den Jahren vor dem social distancing durch Corona wurden sie faktisch von der Gesellschaft in Deutschland isoliert. Diese Diskriminierung muss insgesamt durchbrochen werden, und das Verbot der Werkverträge ist ein erster richtiger Schritt. Die Pflicht zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ist überfällig, ebenso wie die strenge Ahndung von Lohnabzügen. Wegweisend ist das neue Mitgliedschaftsmodell der Agrargewerkschaft IG BAU, das Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter auch eine temporäre Mitgliedschaft ermöglicht.
Drittens – die Macht der Supermarktkonzerne regulieren: Es ist richtig, dass viele Agrarbetriebe wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand stehen und dem Preisdiktat der vier großen Supermarktkonzerne EDEKA, ALDI, REWE und der Schwarz-Gruppe (LIDL) ausgesetzt sind. Der Vorschlag des Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck hilft jedoch nicht weiter. Ein Mindestpreis für Fleischprodukte würde durch den Einzelhandel einfach auf die Konsumentinnen und Konsumenten abgewälzt. Notwendig ist eine umfassendere Regulierung. Frankreich etwa hat Ende 2018 ein Gesetz über „ausgewogene Handelsbeziehungen im Agrar- und Lebensmittelsektor“ verabschiedet. Ziel des Gesetzes ist es, Bauern und Bäuerinnen sowie Zulieferern ein angemessenes Einkommen zu ermöglichen. Gleichzeitig dürfen Supermarktketten ihre Produkte nur noch zu maximal 110 Prozent des Einkaufspreises weiterverkaufen, und damit die höheren Preise nicht auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abwälzen. Weitere Bausteine wären wichtig: 2001 schaffte Rot-Grün das Rabattgesetz im Einzelhandel ab und öffnete damit die Schleusen für Unterbietungsschlachten im Verkauf zulasten der Zulieferer. Ein ähnliches Gesetz wäre dringend wieder nötig, ebenso wie ein Verbot unlauterer Handelspraktiken. Ein solches Projekt müsste damit Hand in Hand gehen, dass Essen für alle leistbar ist, angefangen mit einer massiven Erhöhung des Hartz-IV-Satzes.
Zum Autor: Benjamin Luig beschäftigt sich mit Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. Von 2016 bis 2019 war er Leiter des Programms Ernährungssouveränität der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ vor wenigen Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und des Autors. Bilder und Bildunterschriften wurden von der Redaktion American Rebel hinzugefügt.
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