Gastbeitrag der Gruppe Projektgruppe STOLPERSTEINE GE
13 neue Stolpersteine in Gelsenkirchen verlegt
Heute, am 8. Mai 2020 haben wir in Gelsenkirchen 13 neue Stolpersteine verlegt, und somit den Morgen dieses besonderen Tages sinnvoll verbracht.
Stellvertretend für alle möchte ich Euch die Familie Sauer vorstellen, die in der Schalker Straße 184 gewohnt hat.
Der Metzgermeister Leopold Sauer, meist „Leo“ genannt, geboren am 11. April 1883 in Oedt, war mit Auguste Sauer, geb. Rothschild, geboren am 31. Oktober 1888 in Kolmar, verheiratet. Von Katernberg kommend, ließ sich Leopold Sauer am 13. April 1899 an der Friederichstraße 13 nieder, ab dem 21. Juli 1919 lebte das Ehepaar Sauer dann an der Schalker Straße 184. Leopold und Auguste Sauer hatten zwei Kinder, Werner Michaelis, geboren am 23. November 1918 in Gelsenkirchen und Lieselotte, geboren am 26. Februar 1913 in Gelsenkirchen, sie heirate am 6. Juni 1935 Kurt Hochheimer [1], dem Ehepaar Hochheimer gelang frühzeitig die Flucht nach Nairobi, Kenia. [2][3]
Der in Gelsenkirchen allseits bekannte und beliebte Leopold Sauer – „der billigste Metzger der Stadt“ – war begeisterter, ja fanatischer Anhänger und früher Förderer von Schalke 04. Bereits in den 1920 versammelte sich der komplette Vorstand nach der Kneipentour, die jeder Versammlung folgte bei Leopold „Leo“ Sauer.
Leopold Sauer, Inhaber einer gutgehenden Metz- gerei mit angeschlossener Wurstküche, Salz- und Pökelräumen mit 75 Angestellten an der Schalker Straße 184 [4] und einer Filiale Bismarckstraße 154 unterstützte viele Spieler des FC Schalke 04 auch privat. So bezahlte er Anfang um 1927 dem Schalker Spieler Ernst Kuzorra den Führerschein und stellte ihn als Fahrer an. Anlässlich einer Meisterfeier des FC Schalke präsentierte Leopold Sauer ein Schwein, das er zuvor in den Vereinsfarben blau-weiß angestrichen hatte und trieb es beim Triumphzug durch die Straßen. Nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 wurde auch Leopold Sauer aus dem FC Schalke ausgeschlossen – weil er Angehöriger der jüdischen Religion war. Werner Sauer besuchte nach der Volksschule das Schalker Gymnasium, er wollte Rechtsanwalt werden. 1933, als das Schalker Gymnasium in „Adolf-Hitler-Gymnasium“ umbenannt wurde, musste der jüdische Schüler Werner Sauer das Gymnasium verlassen. [5]
Auch Leopold Sauers Metzgereibetrieb an der Schalker Straße 184 geriet wegen der kurz nach der Macht- übergabe an die Nazis einsetzenden Boykottmaßnahmen seitens des NS-Gewaltregimes in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die er zunächst noch überstehen konnte. Die zunehmenden, gegen jüdische Firmen- und Hausbesitzer gerichteten Repressionen führten schließlich dazu, das Loepold Sauer seinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Mit den sinkenden Umsatzzahlen nahm auch die Anzahl der Beschäftigen ständig ab. Die damit verbundene, verfolgungsbedingte Überschuldung führte schließlich zur Zwangsversteigerung des Hauses an der Schalker Straße 184. Aus dieser Zwangsversteigerung ging die Stadtsparkasse Gelsenkirchen als Meistbietende hervor. Kurze Zeit später verkaufte die Sparkasse Haus und Grundstück mit erheblichen Gewinn weiter an die Ehefrau des Essener Metzgermeisters Wilhelm Krüssmann.
Der Prozess der schrittweisen Verdrängung der jüdischen Menschen aus dem Wirtschafts- und Alltagsleben und den damit verbundenen Enteignungsprozessen („Entjudung“) und Aneignungsprozessen („Arisierung“) umfasste nicht nur die Übereignung eines Betriebes oder Geschäftes von einem jüdischen auf einen nicht- jüdischen Eigentümer, sondern auch den Verlust des größten Teils des Privatvermögens wie Bargeld, Wertpapiere, Schmuck, Hausrat, Möbel, Kunstwerke, Grundstücke, Häuser und Wohnungen. Familie Sauer meldeten sich mit Datum vom 22. Oktober 1936 von der Wohnanschrift Schalker Str. 184 ab, Vermerk: „Auf Reisen“. Die Einwohnerkartei der Stadt Gelsenkirchen verzeichnet die Rückkehr der Familie mit der Wiederanmeldung am 2. Februar 1937 an der Liboriusstr. 61 im Ortsteil Schalke. Werner Sauer war ab dem 14. April 1938 in Groß Breesen in Schlesien gemeldet.[6] Dort befand sich eine nichtzionistische, landwirtschaftliche Umschulungs- und Ausbildungsstätte für jüdische Auswande- rer mit Zielländern außerhalb Palästinas. Mit Datum vom 25. Juli 1938 erfolgte Werners Rückkehr nach Gelsenkirchen und die damit verbundene Wiederanmeldung in der Liboriusstr. 61. Das Haus an der Liboriusstraße 61 wurde ab etwa 1939/40 als so genanntes „Judenhaus“ genutzt. Dort wohnte Familie Sauer bis zur Deportation nach Riga am 27. Januar 1942. [7][8]
Das Ehepaar Sauer und Sohn Werner wurden am 27. Januar 1942 von Gelsenkirchen in das Ghetto Riga deportiert. Dort waren sie zunächst im Ghetto, bis sie 1943 in das KZ Kaiserwald in Riga „verlegt“ wurden. Werner Sauer und seine Eltern mussten im Arbeitskommando Lenta in Riga [9] Zwangsarbeit verrichten.[10] Kommandeur des Arbeitskommandos Lenta war der SS-Untersturmführer Fritz Scherwitz. [11] Gegenüber Berliner Kriminalbeamten, die Werner Sauer im Mai 1948 befragen, schildert er Scherwitz als einen „brutalen Schläger“, als einen „habgierigen“ und berechnenden Menschen, der sich in Riga „riesige Vermögenswerte“ von den Juden „erpreßt und zusammengestohlen“ habe und der seine Sklavenarbeiter,“wenn sie ihm nicht mehr nützlich er- schienen, in Todeskommandos verschickte“ und der fünf Menschen „eigenhändig“ erschossen habe.[12] Als die Rote Armee im Herbst 1944 weiter vorrückte, wurden die Häftlinge aus dem KZ Kaiserwald auf dem Seeweg nach Stutthof bei Danzig verschleppt.
Auguste Sauer starb am 14. Dezember 1944 im KZ Stutthof. Ende Januar wurde angesichts des Vor- marsches der Roten Armee die „Evakuierung“ des KZ Stutthof befohlen. Etwa 11.000 Häftlinge wurden in Marschkolonnen von jeweils rund 1000-1500 Menschen auf einen Todesmarsch in das etwa 140 Kilometer entfernte Lebork (Lauenburg) gezwungen. Unterwegs Zurückbleibende, die den Strapazen bei Eiseskälte fast ohne Verpflegung nicht mehr gewachsen waren, wurden von den begleitenden Wachmännern erschossen. Die Kolonne, in der sich Leopold Sauer befand, erreichte schließlich das bereits geräumte Zivilarbeiterlager Rybno (Rieben) in Pommern, dass ab dem 3. Februar 1945 als Auffanglager für die aus Stutthof „evakuierten“ Häftlinge diente. Noch vor der Befreiung des Lagers Rieben am 10. März 1945 ist Leopold Sauer dort umgekommen. Nach rund zwei Monaten im KZ-Stutthof wurde Werner Sauer dem Arbeitslager Burggraben zugeteilt. Unter dem Vorwand, als angeblich deutsche Marine-Desserteure (im Block 1 des KZ Stutthof waren tatsächlich Marine-Desserteure interniert) zur Zaunreparatur eingeteilt zu sein, flohen Werner und seinem Mithäftling Paul Braunschild aus dem Arbeitskommando.
Doch schon am Abend des gleichen Tages war die Flucht zu Ende, sie wurden aufgegriffen und ins Gefängnis gebracht. Dort mussten sie auf dem nackten Betonboden schlafen, ein Pullover mit aufgetrennter Seitennaht fungierte als behelfsmäßige Decke. Als Verpflegung erhielten die Häftlinge am Tag jeweils eine Scheibe Brot und einen Schluck „gefärbtes Wasser“, Kaffee genannt. Nach zweiwöchiger Inhaftierung in quälender Ungewissheit wurden Werner und Paul von deutschen Soldaten mit vorgehal- tenem Gewehren aus der Zelle geholt. Was mit ihnen geschehen sollte, erfuhren sie nicht, rechneten mit ihrer Erschießung. Stattdessen gelang Werner und Paul eine zweite Flucht. Versteckt bei polnischen Bauern wurden sie schließlich von russischen Soldaten im zeitigen Frühjahr 1945 befreit.
Werner Sauer lebte nach der Befreiung zunächst in Berlin, bis er 1949 in die USA emigrieren und dort ein neues Leben aufbauen konnte. In einem Interview von Juli 1984 schilderte Werner Sauer seine Erinnerungen an Lebens- und Leidenswege der Familie Sauer. Werner Sauer starb am 27. März 1989 in Middlefield, Geauga County, Ohio/USA.
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Andreas Jordan
Quellen:
- [1] Einwohnerkartei, ISG Gelsenkirchen [2] USHMM, Holocaust Survivors and Victims Database, Westphalian Jews, PersonId=4109274
- [3] Vgl. Oral history interview with Werner Sauer v. 9. Juli 1984, USHMM, RG-50.091.0046 (Abruf Mai 2016)
- [4] ebda.
- [5] ebda.
- [6] Einwohnerkartei, ISG Gelsenkirchen
- [7] The 1939 German „Minority Census“ Database
- [8]Andrea Niewerth, Gelsenkirchener Juden im Nationalsozialismus, 2002, Listenmaterial der jüdischen Kultusgemeinde: Deportationsliste v. 27.1.1942 und Liste vom 4.6.1946 „betr. Deportation 27.1.1942“
- [9] Riga (Lenta) v. Franziska Jahn in: Wolfgang Benz u. Barbara Distel, Orte des Terrors, Bd. 8, 2008, S. 75-76
- [10] Gertrude Schneider, The Unfinished road: Jewish survivors of Latvia look back. Greenwood Publishing Group, 1991, ISBN 978-0-275-94093-5, S. 76
- [11] Andrej Angrick, Peter Klein: Die „Endlösung“ in Riga, Darmstadt 2006, ISBN 3-534-19149-8, Exkurs II. SS-Untersturmführer Fritz Scherwitz, Kommandeur der „Lenta“ – eine biografische Skizze, S. 406-415
- [12] Anita Kugler: „Scherwitz, Der Jüdische SS-Offizier“, Köln, Kiepenhauer u. Witsch, 2004. Werner Sauer, S.164-165, ebda. Adressbuch Gelsenkirchen, Ausgabe 1934
Literatur:
- Stefan Goch u. Nobert Silberbach: „Zwischen Blau und Weiß liegt Grau“, Jüdische Mitglieder und Unterstützer, Leo Sauer S. 241-242. Klartext Essen 2005 Georg
- Röwekamp: Der Mythos lebt – Die Geschichte des FC Schalke 04, Verlag Die Werkstatt, 2003, Leo Sauer S. 124
Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE GE, August 2011. Editiert Mai 2016
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