Ebenso muss das jüngste Verbot der Hinrichtung Minderjähriger zwar bedingungslos begrüßt, doch auch aus der Vogelperspektive heraus betrachtet werden. Aus dem Ende April erschienenen
Jahresbericht von Amnesty International zur Todesstrafe geht hervor, dass Saudi-Arabien mit 184 vollstreckten Exekutionen auf Platz drei der Länderliste liegt. (Nur Iran mit 251 Exekutionen und China, das jedes Jahr ein – unbekanntes – Vielfaches der Todesurteile aller anderen Länder zusammen vollstreckt, liegen noch vor Saudi-Arabien.) Nicht nur stellt sich Saudi-Arabien hier einem globalen Trend entgegen, sind die weltweiten Zahlen doch seit vier Jahren rückläufig, doch bricht das Königreich auch seine eigenen Rekorde: Nie zuvor dokumentierte Amnesty International in Saudi-Arabien derart viele Hinrichtungen wie 2019 und die britische Menschenrechts-NGO Reprieve verkündete Mitte April, seit König Salman im Januar 2015 den Thron bestieg, wurden 800 Menschen hingerichtet – weit
mehr als eine Verdoppelung im Vergleich zum vorangegangenen Fünfjahreszeitraums. Der sogenannte „Reformer“ MbS exekutiert wie im Rausch. Jeder Schritt vorwärts in einer Arena geht einher mit drei Schritten zurück in einer anderen.
In einer Presseerklärung vom Dienstag fordert das Deutschland-Büro von Amnesty International daher ein vollständiges „Hinrichtungsmoratorium“: „Die Todesstrafe ist die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen. Amnesty fordert die vollständige Abschaffung der Todesstrafe in Saudi-Arabien“.
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Saudi-Arabiens Vision 2030
Die jüngsten Schritte zur „Liberalisierung“ des saudischen Rechtssystems müssen im Kontext der saudischen Vision 2030 gesehen werden: das ökonomische Megaprojekt des ambitionierten Kronprinzen MbS zur Restrukturierung und umfassenden Diversifizierung der saudischen Volkswirtschaft – weg vom Öl, hin zu einer High-Tech-Nation, die als Investmentdrehscheibe des eurafrasischen Raums fungiert, das Nahost-Powerhouse des globalisierten Finanzmarkt-Kapitalismus, die Rotmeerküste als globaler Seehandelsknotenpunkt einerseits und gigantisches Luxus-Adventure-Resort andererseits, inklusive der nagelneuen, futuristischen 500 Milliarden Dollar teuren Mega-Tech-City Neom im Dreiländereck mit Jordanien und Ägypten (Süd-Sinai), gebaut von Ex-Siemens-CEO Klaus Kleinfeld auf einer Fläche fast der Größe Belgiens. Nach MbS‘ „Vision“ soll sich Saudi-Arabien in eine Art riesiges Dubai verwandeln – mit je einem ordentlichen Schuss Shanghai, Silicon Valley und Bora Bora.
Raif Badawi wurde zu zehn Jahren Haft, einer Geldstrafe und 1.000 Peitschenhieben verurteilt. Demonstrant*innen fordern vor der saudischen-Botschaft in Helsinki, Finnland, die Freilassung des Bloggers. By Amnesty Finland, Flickr, licensed under CC BY 2.0.
Doch die Durchführbarkeit der Vision 2030 steht und fällt mit dem globalen Image Saudi-Arabiens, schließlich müssen Investitionen im exorbitanten Maße ins Land gelockt werden. Daher gibt es neben der ökonomischen auch eine kulturell-gesellschaftliche Komponente in MbS‘ Vision 2030, die insbesondere die katastrophale Stellung der Frauen im erzkonservativen Königreich ins Zentrum setzt. So dürfen Frauen jetzt ins Fußballstadion gehen, Konzerte und Kinos besuchen, klassische „Männerberufe“ ausüben und erstmals in Kommunalwahlen wählen und sich aufstellen lassen, Mädchen dürfen zum Sportunterricht, und besonders medienwirksam: als letztes Land der Welt dürfen nun auch in Saudi-Arabien Frauen Auto fahren.
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Statt Empathie nur Arroganz
Unabhängig von MbS‘ Intention und seinen repressiven Rückschritten auf anderen Gebieten sind all diese Erfolge – mögen sie durch die westliche Brille auch noch so marginal und längst überfällig erscheinen – das Ergebnis jahrzehntelanger sozialer Kämpfe mutiger Aktivistinnen, die im Kampf um sozialen Fortschritt buchstäblich Leib und Leben riskieren und denen nichts als Respekt und größte Solidarität gebührt. Doch jedes Mal, wenn in den letzten Jahren eine Meldung über eine positive Entwicklung in Saudi-Arabien die Runde machte, beobachtete ich in westlichen Medien oft ein bizarres Phänomen: Herablassung, Arroganz. Nicht willens, nicht fähig, gewisse Entwicklungen zu begrüßen oder auch nur anzuerkennen. Das hohe Ross, auf das sich Beobachter im Westen gerne setzen, ist derart hoch gesattelt, dass sich dringend gebotene Kritik an Politik und gesellschaftlichen Missständen in Saudi-Arabien von dort oben aus gerne in wohlfeile Gleichmacherei auflöst und das gesamte Gesellschafts- und Staatsgebilde ohne Zwischentöne und Graustufen als rückständig und minderwertig wahrgenommen wird; in einer bizarren Form des Rassismus wird eine Bevölkerung von 33 Millionen als monolithischer Block wahrgenommen, wie die Kaaba in Mekka. Das Resultat dieser Abstrahierung ist die vollständige Unfähigkeit zur Empathie mit all den echten Menschen aus Fleisch und Blut, deren Lebenswelt gerade ein kleines Stück gerechter geworden ist.
Loujain al-Hathloul ist eine der prominentesten Köpfe saudischer Aktivistinnen und wurde dafür mehrfach verhaftet. Loujain erlangte für ihre in sozialen Medien dokumentierte Weigerung, sich dem Fahrverbot für Frauen zu unterwerfen, internationale Aufmerksamkeit. Seit MbS‘ Inhaftierungswelle von Aktivist*innen vom Mai 2018 sitzt sie im Dhahban Central Prison, wo inhaftierte Aktivistinnen gefoltert wurden. By Unknown, Wikimedia Commons, licensed under CC BY-SA 4.0.
Natürlich ist die Lage der Frauen in Saudi-Arabien noch immer katastrophal, doch ist es für die einzelne Frau in Riad selbstredend ein enormer Zuwachs an persönlicher Freiheit, wenn sie mit dem Auto zur Arbeit oder ins Geschäft fahren kann, anstatt permanent von der Zeit eines männlichen Verwandten abhängig zu sein. Bei der auch weiterhin nicht existenten Pressefreiheit im Land ist es für den konkreten Blogger in Dschidda – so bitter es klingen mag – dennoch ein Fortschritt, „nur noch“ Knast zu befürchten, statt Knast und Tausend Peitschenhiebe, an deren Folgen er möglicherweise verenden wird.
Welche Arroganz offenbart es, dass wir hier im sicheren Hafen Europa über den Wert dieser Erfolge für die Menschen an den Frontlinien der sozialen Kämpfe urteilen?
Statt aufrichtige Solidarität für die saudischen Frauen und aktuell die Angeklagten zu äußern, dient eine entsprechende Meldung allzu oft kaum mehr als Vorwand, um in der eigentlichen Absicht den nächsten Angriff gegen die saudische Regierung oder das Land als solches fahren zu können – und vergessen, oder maximal als Trivia-Anekdote abgelegt, ist die Tatsache, dass nun 14 Millionen Frauen und Mädchen erstmals in ihrem Leben das Recht haben, ins Fußballstadion zu gehen. Wer wie die meisten, die diesen Text hier lesen, mit diesem Recht auf die Welt gekommen ist, muss schon über ein Mindestmaß an Empathie verfügen, um aufrichtig begreifen zu können, dass es im Stadion nicht nur nach Schweiß und Bier stinken, sondern auch nach Freiheit duften kann. „Müssen die Frauen im Zuge dieser Liberalisierung dann im Stadion an der Leine bleiben, oder darf man sie auch frei laufen lassen“, fühlte sich der einzige Kommentator unter dem entsprechenden taz-Artikel genötigt zu fragen. Gelebte Solidarität mit den unterdrückten saudischen Frauen?
Lina Al-Hathloul spricht auf einem Podium in Washington anlässlich des Jahrestags der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi über den Fall ihrer Schwester, der inhaftierten Driving Activist Loujain al-Hathloul. By POMED, Flickr, licensed under CC BY 2.0 (cropped).
Der Feminismus im Westen beschränkt sich medial meist auf Debatten um nichtdiskriminierende Sprache, Frauenquoten oder zumindest kurzzeitig im Rahmen von #metoo um sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch. Diese Debatten sind richtig und äußerst wichtig, doch wird darüber hinaus oft hinterm eigenen Tellerrand ausgeblendet, dass es in anderen Ecken dieser Welt auch noch den anderen Feminismus gibt, den, in dem es um die Erkämpfung grundlegendster Menschenrechte geht, um Leben und Tod. Dieser wird belächelt oder einfach nicht wahrgenommen – und der eingeredete Universalismus unserer westlichen Werte löst sich in Luft auf.
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Saudi-Bashing ist zu verlockend
Es ist bezeichnend genug, dass die Kommentarspalten in den großen Zeitungen und vor allem in den sozialen Medien jedes Mal vor Herablassung und Empathielosigkeit überquellen, doch verpacken auch die Medienschaffenden selbst – auch in den vermeintlich progressiven Blättern – ihr Desinteresse und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den betroffenen Menschen nur eloquenter, um sich dann wieder rasch im selbstgefälligen und offenbar zu verlockenden Saudi-Bashing zu ergehen. In seinem Text zu den jüngsten Gesetzesänderungen – Abschaffung des Auspeitschens, keine Todesstrafe mehr für Minderjährige – weiß das neue deutschland schon im ersten Wort der Überschrift, alles nur „Propaganda“, um dann kein einziges Wort über die Betroffenen zu verlieren und wahrlich nichtssagend zu schließen: „Man darf jedoch nie vergessen: Die schlimmsten Gräueltaten begehen die saudischen Behörden ohnehin im Geheimen“. (Als würde das nicht auf jede andere Regierung auch zutreffen.)
Die im italienischen Exil lebende saudische Ärztin und Bloggerin Omaima Al-Najjar spricht auf einer Konferenz für Frauenrechte im Mai 2019 in Washington. By POMED, Flickr, licensed under CC BY 2.0.
Dasselbe Spiel in der taz. Der entsprechende Artikel trägt die Überschrift „Ein bisschen weniger archaisch“ und vergewissert uns sogleich, dass das saudische Rechtssystem noch immer katastrophal ist – wäre denn sonst jemand auf die Idee gekommen, im Königreich sei nun der Liberalismus ausgebrochen? Auch hier kein Wort über die Betroffenen. Warum von der linken taz keine Würdigung des Umstands, dass viele Jugendliche in Saudi-Arabien nun nicht sterben müssen? Warum keine Empathie mit den unzähligen Eingesperrten, die nicht länger ausgepeitscht werden? Das Schicksal eines zum Tode verurteilten 17-Jährigen, der nun doch nicht geköpft wird und weiterleben kann, interessiert den taz-Schreiber nicht. Der Seitenhieb gegen die Regierung ist um Längen wichtiger, so dass er gleich in die Überschrift gepackt wird.
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Plädoyer
Selbstredend nehme ich mit Obigem nicht das saudische Königshaus in Schutz – kaum eine Regierung bezieht in meinen Artikeln so viel Schelte wie die saudische. Insbesondere unter dem Tyrannen und Kriegstreiber MbS muss das Handeln Riads seziert und verurteilt werden. Auch behaupte ich keineswegs, es sei illegitim, in einem Artikel über einen gegangenen Schritt auch die Hundert Schritte zu erwähnen, die noch dringlichst gegangen werden müssen. Mir geht es um etwas anderes. Ich plädiere für eine differenzierte Analyse von Ereignissen in anderen Ländern und für Aufrichtigkeit in unserer Bewertung selbiger. Wir driften mehr und mehr in eine binäre Wahrnehmung der Welt ab, legen im Verlauf ganze Länder in Schubladen ab. Das Ergebnis ist, dass wir kollektiv immer weniger in der Lage sind, konkrete Nachrichtenfragmente außerhalb der uns haltgebenden Frames zu beurteilen. Doch in einem düsteren saudischen Nachrichtensee voller Kriegsverbrechen im Jemen, Säbelrasseln gegen den Iran und das Zersägen eines Journalisten im Istanbuler Konsulat schwimmen seit ein paar Tagen nun zwei weitere kleine strahlende Inseln umher. Menschen werden nicht mehr ausgepeitscht und Jugendliche nicht länger geköpft – für mich als humanistischen Linken sind das gute Nachrichten.
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Erstveröffentlichung auf JusticeNow. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
Über den Autor: Als studierter Biochemiker hat Jakob Reimann ich ein Jahr in Nablus, Palästina gelebt und dort an der Uni die Auswirkungen israelischer Industrieanlagen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen in der Westbank erforscht. Nach einiger Zeit in Tel Aviv, Haifa, Prag und Sunny Beach (Bulgarien) lebt er jetzt wieder in Israel und kennt daher „beide Seiten“ des Konflikts und die jeweiligen Mentalitäten recht gut. Soweit er zurückblicken kann ist er ein politisch denkender Mensch und verabscheut Ungerechtigkeiten jeglicher Art. Aus bedingungslos pazifistischer Sicht schreibt er gegen den Krieg an und versuche so, meinen keinen Beitrag zu leisten. Seine Themenschwerpunkte sind Terrorismus, das US Empire, Krieg (Frieden?) und speziell der Nahe Osten.
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Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.
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