F.-B. Habel
Der Mensch im Dokumentarfilm
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Joris Ivens
Aus seinem bürgerlichen Vornamen George wurde Joris, und als Joris Ivens wurde der 1898 geborene Sohn eines Fotofabrikanten im niederländischen Nijmwegen bekannt als der Mann, der auf fünf Kontinenten filmte – wie es im Titel eines DEFA-Kurzfilms von 1962 heißt. Sein familiärer Hintergrund bewirkte seine Auseinandersetzung mit dem Medium Film schon im Kindesalter. Während des Studiums der Wirtschaftswissenschaften in Rotterdam und der Fototechnik in Berlin kam er in den Nachkriegsjahren mit sozialistischen Ideen in Berührung. Als Filmemacher gehörte er der Richtung der Neuen Sachlichkeit an, die aus der Bildenden Kunst erwuchs und auch den Film beeinflusste. Der avantgardistische Streifen „Regen“ war 1928 sein Durchbruch. Ivens folgte Einladungen zu Festivals in der ganzen Welt, und hier begann sein Leben als Weltbürger. Er bereiste die Sowjetunion und wurde zum Kommunisten. Der Einsatz für die Unterprivilegierten und Unterdrückten bestimmte seine weitere Arbeit. In der Sowjetunion drehte er zu Beginn der dreißiger Jahre zwei Filme über den Aufbau einer neuen Gesellschaft, er schilderte das menschenunwürdige Leben der Bergarbeiter in der belgischen Borinage, begleitete die Spanienkämpfer und schuf mit Ernest Hemingway den Film „Spanische Erde“. Er begab sich nach Südostasien, wo er im japanisch-chinesischen Krieg mit seinem Film „400 Millionen“ eindeutig Partei für das chinesische Volk ergriff. Diese Liebe zu China blieb ihm und war in gewisser Hinsicht auch verhängnisvoll. In den sechziger Jahren begrüßte und unterstützte er Maos Kulturrevolution. Dass das ein Fehler war, mochte er sich auch dann noch nicht offen eingestehen, als man in der Volksrepublik wieder einen gemäßigten Kurs einschlug.
Vor 30 Jahren starb der Weltbürger Joris Ivens 90-jährig in Paris. Das nahm der linke Berliner Bildungsverein Helle Panke zum Anlass, auf ein in der Filmgeschichtsschreibung zu Unrecht unbeachtetes Kapitel im Schaffen von Joris Ivens aufmerksam zu machen.
Nach seinem Film „Indonesia Calling“ (1946), der die Unabhängigkeitsbestrebungen in der niederländischen Kolonie Indonesien unterstützte, war er im Heimatland zur Unperson geworden. Zunächst lebte er in Polen, weil er mit der polnischen Autorin Ewa Fiszer verheiratet war. Zeitlebens übernahm Ivens zahlreiche Ehrenämter. Als Mitglied des Weltfriedensrates kam er mit der jungen DDR in Kontakt. Hier arbeitete bereits sein früherer Mitarbeiter Joop Huisken als Regisseur. Ivens war neugierig auf den Aufbau unter sozialistischen Vorzeichen und nahm gern an, als ihm das DEFA-Dokumentarfilmstudio einen Vertrag als Regisseur und Dramaturg anbot. Diesen Lebensabschnitt hat der frühere Dokumentarfilm-Regisseur und Filmhistoriker Günter Jordan akribisch recherchiert und seine Ergebnisse in ein umfangreiches Buch „Unbekannter Ivens – Triumph, Verdammnis, Auferstehung“ einfließen lassen.
Tatsächlich entstanden bei der DEFA zwischen 1952 und 1962 sieben Ivens-Filme, von denen allerdings nur ein einziger seine eigene Regie-Arbeit war, während die weiteren zwar von ihm angeregt und befördert worden waren, aber in Zusammenarbeit mit vielen anderen Regisseuren entstanden. Gerade sein eigener Film „Friedensfahrt 1952 Warschau – Berlin – Prag“ war sein schwächster, denn Ivens konnte sich nicht von den politischen Vorgaben lösen. Schon daran wurde offensichtlich, dass der Kulturpolitik der DDR daran gelegen war, Ivens’ international bekannten Namen zu verwerten, ohne ihm künstlerische Freiheiten zu gestatten.
Zuvor war Ivens einer der beiden Hauptregisseure des Großprojekts „Freundschaft siegt“ über die Weltfestspiele 1951 in Berlin. Bis zu acht Aufnahmegruppen waren im Einsatz. Der Farbfilm war nur mit einem Koproduzenten zu stemmen, und das war das Mosfilm-Studio. In Moskau wünschte man sich ausgerechnet den im Dokumentarfilm weitgehend unerfahrenen Unterhaltungsfilm-Regisseur Iwan Pyrjew als Hauptregisseur, der Ivens an den Rand drängte. Günter Jordan resümierte, dieses Werk sei „filmische Gigantomanie in Bild, Musik, Text, und ein Sieg der Logistik über die Kunst“.
Langsam brachte Ivens eine neue Auffassung vom Dokumentarfilm in die DEFA. Während sein Antipode Andrew Thorndike als Aufgabe des Dokumentarfilms Aufklärung, Propaganda und die Wiedergabe von Aufmärschen sah, ging Ivens vom Menschen aus: „Unsere Filme sind noch zu neutral, zu beschreibend und trocken, zu enzyklopädisch. (…) Man sagte uns, der Mensch – der Held – gehöre in den Spielfilm. Aber der Mensch hat seinen Platz im Dokumentarfilm.“
Joris Ivens übernahm bei der DEFA die künstlerische Leitung weiterer Großprojekte. In Zusammenarbeit mit dem Weltgewerkschaftsbund entstand 1953/54 „Lied der Ströme“. Geschildert wurde darin das Leben von Arbeitern an den großen Flüssen der Welt. Ivens gelang es, neben dem Hauptautor Vladimir Pozner auch Bertolt Brecht, Dmitri Schostakowitsch, Paul Robeson und Ernst Busch für die Mitarbeit zu gewinnen. Trotzdem setzte der staatliche Verleih Progress den Film in der DDR nur in Sondervorführungen ein, während er in der Welt ein großes Millionenpublikum erreichte.
Ähnliches widerfuhr Ivens mit dem von der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (IDFF) geförderten Episodenfilm „Die Windrose“ (1956/57). Der Film vereinte fünf Episoden aus fünf Ländern von zwei Regisseurinnen (damals noch außergewöhnlich) und drei Regisseuren aus China, Brasilien, Italien, Frankreich und der Sowjetunion. Obwohl auch Simone Signoret und Yves Montand mitwirkten, wurde der Streifen nur in Matineen eingesetzt. Der Film, der unter der Hauptregie von Alberto Cavalcanti entstand, war für Ivens Schaffen in der DEFA neu, ein realistisches Frauenbild und der Ausbruch aus der Formelhaftigkeit.
Sein bis heute bekanntester DEFA-Film war die in Koproduktion mit einer französischen Firma entstandene Adaption von Charles De Costers „Die Abenteuer des Till Ulenspiegel“ (1956/57). Doch erwies sich, dass der Spielfilm für den Dokumentarfilmer ein fremdes Terrain war. Sein Hauptdarsteller Gérard Philipe hatte so viele Einfälle, dass Ivens schließlich ihm die Regie überließ.
Nach Auslaufen seiner DEFA-Verträge arbeitete Joris Ivens von Paris aus in aller Welt, blieb aber der DDR (und besonders dem von ihm geförderten Leipziger Dokumentarfilmfestival) verbunden. Doch zu Beginn der siebziger Jahre kam es zu einer Entfremdung, deren Grund einerseits in Ivens´ Hinwendung zum Maoismus und der Verteidigung der chinesischen Kulturrevolution lag, andererseits auch in Kritik an der Kulturpolitik der DDR und den sozialistischen Ländern, die er in seinem in niederländischer Sprache verfassten Erinnerungen übte. Er warf ihnen vor, sie verfolgten „einen Revisionismus der fundamentalen Prinzipien des Marxismus-Leninismus“.
Ivens blieb korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR, seine alten Filme liefen auch weiterhin in Klubs oder Kulturhäusern. Persönliche Kontakte, etwa zu seinem DEFA-Produktionsleiter Hans Wegner oder zum Direktor des Staatlichen Filmarchivs, Wolfgang Klaue, blieben bestehen. Ivens drehte bis an sein Lebensende gesellschaftlich relevante Filme. Den letzten, „Eine Geschichte über den Wind“, stellte er mit 89 Jahren zusammen mit seiner Frau Marceline Loridan fertig. Als er nicht mehr reisen konnte, stellte sie den Film auf dem Leipziger Festival vor. Sie verlas sein versöhnliches Grußwort, in dem es hieß: „Vielleicht kann man meine Position mit der eines Katholiken vergleichen. Man weiß zwar, dass nicht alles richtig ist, aber man behält seinen Glauben. Ich glaube weiterhin an den Sozialismus, aber nicht innerhalb eines rigiden Staatssystems. Wie ein Katholik, der an Gott glauben kann, ohne die Strukturen der Institution Kirche zu bejahen.“
Zum Weiterlesen empfohlen: Günter Jordan: Unbekannter Ivens. Schriftenreihe der DEFA-Stiftung im Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2018, 680 Seiten, 29,00 Euro.
Dieser Artikel erschien vor ein paar Tagen in Das Blättchen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Bilder, Videos und Bildunterschriften wurden von der Redaktion AmericanRebel hinzugefügt.
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