Harry Popow

Soldaten für den Frieden (Teil acht)

Leseprobe aus „Ausbruch aus der Stille…“ von Harry Popow
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Harry Popow

Hier nun die achte Leseprobe aus meinem neuen Buch »Ausbruch Aus Der Stille – Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten«, das im Februar dieses Jahres auf den Markt gekommen ist. Bitte benutzt auch die Kommentarfunktion für Eure Kritiken und Einschätzungen.
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»Tee mit Rum

Eine Übung – die erste. Die achtzehn- bis neunzehnjährigen Offiziersschüler sitzen dichtgedrängt und vor Kälte zitternd auf offenen Lastkraftwagen, die man wie gesagt H3A nennt. Schnee und kalter Fahrtwind. Eine lange Marschkolonne. Sie bewegt sich mit mäßigem Tempo auf den schneeglatten Straßen und tief verschneiten Waldwegen. Kilometer um Kilometer. Es geht in Richtung …? Die Schüler wissen es nicht. Und wenn? Was würde das ausmachen? Gar nichts. Später, es ist schon Nacht, wird ein Konzentrierungsraum bezogen. Das ist ein Waldstück, in dem man sich vor dem Angriff sammelt. Wald und Berge ringsumher. Und eine unheimliche Stille. Die Fahrzeuge sollen getarnt abgestellt werden, Parolen machen die Runde, Befehle müssen weitergegeben werden, aber im Flüsterton. Alles ist noch ungewohnt für die jungen Leute. Aber endlich sich bewegen können, den Schnee von der froststarren Uniform schütteln, Schützenmulden ausheben im steinhart gefrorenen Erdboden, sich für den Angriff vorbereiten. Im Morgengrauen ist es soweit. Junge Männer in Uniform stolpern über das Übungsgelände, stürzen in große Löcher, versinken im Schnee, geraten außer Atem, fangen an zu keuchen, und mancher mag denken, mein Gott, wann hat das alles ein Ende? Später gibt es Tee mit ein wenig Rum, wenigstens etwas. In Ohrdruf, im Thüringischen gelegen, befindet sich dieser Truppenübungsplatz, erfahren nunmehr die Schüler.

Buch-Cover Ausbruch aus der Stille von Harry Popow – Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Höhepunkte, große und kleine, nisten sich schnell mal ins Gedächtnis ein. So auch dieser: Taktikausbildung auf dem Drosselberg. Oberleutnant P., „Bazooka“, wie man ihn nach einer Bezeichnung für eine amerikanische Panzerabwehrwaffe scherzhaft nennt, hat mit den Schülern kein Erbarmen. Zunächst stehen sie drei Stunden im Regen und müssen sich Theoretisches zum Thema Verteidigung einprägen. Die Klamotten triefen vor Nässe. Plötzlich kommt Kälte auf, alles Klitschnasse verwandelt sich in glitzerndes Eis. Die Uniformen werden steif, die Tropfen auf den MPi‘s sind gefroren. „Bazooka“ steht vor der Front, unermüdlich erklärt er, der Taktiklehrer aus Leidenschaft. Die Konzentration geht den jungen Leuten allmählich flöten. Der Fluch auf den Lippen – er stirbt, bevor er ausgestoßen wird. Es bringt nichts. Und dann läßt der Oberleutnant seine Schützlinge üben. Die Kleidung klebt und klirrt am Körper – er fragt nicht einmal danach. Warum auch? Ekelhaft! Und dabei auch noch denken müssen, Entschlüsse fassen. Herrgott, hat der Mann kein Erbarmen? Nicht ein bißchen Mitgefühl? Keiner von den zukünftigen Offizieren wird diese Ausbildung wohl jemals vergessen. Viele Tage später wird der zukünftige Offizier im Zug sitzen nach Leipzig, um in den Kurzurlaub zu fahren. Schaut gedankenverloren aus dem Fenster, betrachtet die vorüberziehenden Felder und Berge, ertappt sich bei taktischen Überlegungen, daß er an den Vorderhängen von geeigneten Hügeln „Verteidigungsstellungen“ ausheben lassen würde. Er erschrickt. Hat‘s ihn schon so erwischt? Kann er sich nicht losreißen von der Knüppelei in der Ausbildung? Er nimmt ein Buch zur Hand, will sich ablenken, zum Teufel noch mal!

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Wache schieben, das Objekt sichern, das gehört dazu. Jeder Zug muß alle paar Wochen mal ran. Die einen stehen Posten, die anderen haben Wirtschaftsdienst, helfen in der Küche Kartoffeln schälen, abwaschen usw. Henrys Postenbereich ist diesmal das Munitionslager. Die Sonne wärmt. Es ist am frühen Nachmittag. Man ist alleine. Man träumt so vor sich hin. Irgendwo im Grünen zwitschert es. Im Wachlokal ist es durch die Raucher ohnehin muffig, also genießt er jetzt die frische Frühlingsluft. Überhaupt: Wer soll hier etwas stehlen wollen. Pfeif drauf, da steht eine Kiste, auf der läßt es sich bestimmt gut sitzen. Wehe aber, das sieht jemand, der schmalgesichtige, sommersprossige und rothaarige Zugführer mit den großen Zähnen etwa – dann wäre der Teufel los. Ein unsympathischer Kerl, seine zur Schau getragene Gefühlskälte. Henry sitzt also in der Sonne, verbotenerweise. Alles ist ruhig. Plötzlich spürt er, irgendwer ist hinter ihm, beobachtet ihn mit einem stechenden Blick. Henry ahnt etwas … Langsam dreht er sich um, er will dem anderen zeigen, daß er keine Angst hat. Und tatsächlich: Da steht er, breitbeinig, in etwa zwanzig Meter Entfernung, natürlich wieder grinsend, dann aber fauchend: „Ich lasse sie ablösen!“ Dabei wird er krebsrot im Gesicht, was ihn noch häßlicher macht. Kurz darauf im Kompaniebereich. Der Vorgesetzte läßt den Schüler ins Zugführerzimmer kommen. Und kurzer Prozeß, er verbrummt ihm einen Tadel. Unter vier Augen sozusagen, unter Ausschluß der Kompanie-Öffentlichkeit. Immerhin – wenigstens ein menschlicher Zug. Am gleichen Tag Ablenkung durch einen Brief von Henrys Mama. Sie bittet ihn um seine Lebensmittelkarten, „da HO Butter ist nicht zu haben“. (Man konnte – falls vorrätig – teure Butter in den neu gegründeten Handelsorganisationen kaufen.)

Es scheint, Henry faßt Fuß im Kasernenmileu. Da sind der Ausgang, die Kumpels und die Briefe, wenigstens von Zeit zu Zeit. So ist’s auszuhalten. Und eine Perspektive hat man ja schließlich auch. Da trifft neuerlich Post ein. Diesmal vom sowjetischen Konsulat in Leipzig. Damit hat Henry nun gar nicht gerechnet. „Was wollen die denn von dir“, fragt er sich. Er wird zu einer Aussprache eingeladen. Eine Ahnung steigt auf: Seine  Mutter hatte vor Jahren den Antrag gestellt, mit den Kindern zurückzukehren in ihre Heimat. Damals, so erinnert Henry sich, waren sie als Kinder begeistert. Allein das Spielzeug von Mama endlich in Besitz zu nehmen, das Tretauto, die Puppen und Stofftiere, das war schon verlockend. Aber die Zeit ist jetzt eine andere. Man ist älter geworden, kritischer, und jeder der Kinder geht seinen Weg. Nur die Mutter, sie wird wohl immer von einer Heimkehr träumen. Im Gebäude des Konsulats, Henrys Mutter ist mit dabei, kommen zwei sehr kultiviert aussehende Herren in grauen Anzügen auf Henry zu, bitten ihn ins Arbeitszimmer, ihn allein, seine Mutter im großen Vorsaal wartet. Man rät ihm ab. In der SU sei es sehr schwierig zu leben, anders als in der DDR. Und er würde sich wohl kaum einleben …

Der Fall ist klar, Henry bleibt. Eine Entscheidung, die nicht erst jetzt gefallen ist. Mama hat wohl damit auch gerechnet, sie ist nicht böse. (Erst sehr viel später wird Henry mit recht vermuten, daß die Stalinzeit im Jahre 1955 noch nicht verwunden war, vielleicht hätte man seine Mutter, die ja ins faschistische Deutschland gegangen ist, gar nicht so gerne empfangen, mindestens …)

Die Schwester der Theorie ist die Praxis, eine Binsenweisheit. Also werden die Schüler ein Praktikum absolvieren – Gruppenausbildung in Eggesin. Eggesin? Den Namen dieses Ortes hatten die jungen Männer von einigen Offizieren bereits gehört. In der nordöstlichsten Ecke der Republik, hier oben in abgelegenen Gegenden, stehen graue Kasernen die Menge. Erbaut bis 1952 für den „Dienst für Deutschland“, der aber schnell wieder aufgelöst wurde. Aber die Legenden! Henry und die anderen Offiziersschüler hörten Unglaubliches. Junge Frauen, die am Bau beteiligt waren, hielten auf der Straße die LKW an, erst mußten die Fahrer Liebesdienste erfüllen, dann durften sie weiterfahren. Und von „Kämpfen“ der Spezialtruppen gegeneinander war die Rede, von „Ohrenabschneidern“ usw.

Und nun sind die zukünftigen Offiziere selbst vor Ort. Aber von all den Geschichten ist nichts mehr zu spüren. Henry wird als Gruppenführer in einem Zug arbeiten. Noch hat er sich nicht daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Einmal, es ist während einer Übung in der Nähe von Ahlbeck (an der polnischen Grenze) beziehen die Praktikanten eine Sturmausgangsstellung. Vom Zugführer erhalten sie den Gefechtsbefehl. Anschließend, so wird gelehrt, soll man sich „die Aufgabe klarmachen“, einen von etwa zehn Punkten, die man abarbeiten muß. Aber in minutenschnelle, und nicht so wie Henry. Der nämlich verschwindet, versteckt sich regelrecht in einem Unterstand, um in Ruhe „nachdenken“ zu können über seine „große Verantwortung“ in den nächsten Stunden beim Angriff, bei dem er acht echte Soldaten zu führen hat. Doch da wird er im Nachdenken gestört. Irgendein Offizier steckt den Kopf herein, sieht ihn im Halbdunkel und fragt: „Was machen sie denn hier …?“ Der Praktikant, leicht erschrocken, daß man ihn in so absonderlicher Stellung erwischt hat, kontert dennoch ziemlich schnell und offen: „Ich mache mir die Aufgabe klar.“ Der Kontrolloffizier erwidert nichts und verschwindet, sprachlos und feixend, wie Henry vermutet. Gewiß aber hat er ungläubig den Kopf geschüttelt.

Abends gehen die jungen Männer tanzen ins Volkshaus von Eggesin, das ganz in der Nähe vom Bahnhof liegt. Ein großer Saal. An der Seite eine Theke. Eine kleine Kapelle. Es dröhnt im Saal, es wird gesoffen und krakeelt. Henry tanzt ein wenig unbeholfen mit einem dünnen und zierlichen Dorfmädchen, bringt es spät abends nach Hause, wagt aber nicht, es zu küssen. Er hat das Mädchen denn auch nie wiedergesehen. Einmal nimmt ihn sein Zugführer, ein gemütlicher, immer lächelnder blonder Nordländer, mit in die Stadt Ückermünde zum Tanz. Wie es der Teufel will, dessen und Henrys Mädchen wohnen im selben Haus mit Hof und Stallungen. Also haben sie den gleichen Weg, die Viere. Nur, als das ganze im Dunkeln konkret werden sollte, müssen sie sich entscheiden, welches Paar in den Stall darf. Was heißt entscheiden? Gesiegt hat natürlich die „höhere“ Gewalt. Henry muß sich mit einem Stehplatz am Holzstapel unter dem Sternenhimmel zufrieden geben. Zur Belohnung darf er auf dem Gepäckträger des Vorgesetzten-Fahrrades Platz nehmen. Bis nach Eggesin/Karpin sind es über zehn Kilometer. „Strample schön, strample“, freut sich Henry, der genug hat von solcher Sause …
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Zum Inhalt

Ausgangssituation ist Schweden und das Haus, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.

Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.

Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.

Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten   Schlussfolgerungen zieht.

Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.

Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen –  er bleibt ein Suchender!«


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Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro.
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Über den Autor: Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow (alias Henry) in seinem Buch „Ausbruch aus der Stille“) noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. Doch mit Geologie hatte das alles nur bedingt zu tun… In den bewaffneten Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Den Titel Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie sind seit 1961 sehr glücklich verheiratet und haben drei Kinder, zwei Enkel und zwei Enkelinnen.

Frühere Artikel von Harry Popow

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Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung der Redaktion handeln.

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