Sinem Yeşil
Inklusion – Gleiche Bildung für alle!
Die UN- Behindertenrechtskonvention definiert das Recht beeinträchtigter Menschen auf Bildung und Arbeit. Durch dieses Gesetz sollen beeinträchtigte Menschen die Möglichkeit haben, eigenständig über ihren Bildungs- und Berufsweg zu entscheiden.
Für den schulischen Weg aller Kinder bedeutet dies: Kinder mit und ohne eine Beeinträchtigung besuchen die gleiche Schule und nehmen am gleichen Unterricht teil. Zudem sollen Förderschulen von Grund auf abgeschafft werden, um eine Schule für alle zu garantieren. Dadurch wird den beeinträchtigten Schülern die Chance geboten, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Studien belegen, dass Förderkinder häufiger einen Schulabschluss erlangen, wenn sie eine Regelschule besuchen.
Bei dieser Art der Umgestaltung wird jedoch nicht von Integration, sondern von Inklusion gesprochen. Während Integration Kinder mit einer Beeinträchtigung in das bestehende Schulsystem aufnimmt und eine Anpassung der Kinder an die herrschende Schulform voraussetzt, strebt Inklusion die Anpassung des gegenwärtigen Systems an beeinträchtigte Kinder und somit eine komplette Veränderung an. Alle Kinder sollen dem Konzept der Inklusion zufolge ungehindert am Schulalltag teilhaben können. Um die Umsetzung einer Inklusion zu fördern, müssen Schulen zum einen besser ausgestattet werden, sodass sie auch für Kinder mit einer körperlichen Beeinträchtigung zugänglich sind. Zum anderen müssen Lehrer für den Bereich der Sonderpädagogik besser geschult werden.
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Umsetzung: Mangelhaft
Momentan kann man jedoch von keiner konkreten Umsetzung des UN- Übereinkommens sprechen. Einerseits bestehen weiterhin Förderschulen, wobei sie nicht Teil des Inklusionskonzeptes sind, und andererseits findet die Inklusion an Regelschulen unter schwierigen Bedingungen und auch nicht vollständig statt. Ein wesentliches Problem dabei stellt die fehlende Qualifikation von Lehrern an Regelschulen dar. Nur wenige Lehrer können sonderpädagogisches Wissen aufweisen. Das liegt daran, dass der Pädagogikanteil im Lehramtsstudium ohnehin schon gering ist. Dies ist vor allem in den Studiengängen der weiterführenden Schulen erkennbar. Dieser geringe pädagogische Teil beschäftigt sich zudem mit den Bedürfnissen der nicht-beeinträchtigten Schüler. Das Studium des Lehramts an Regelschulen setzt sich somit nicht ausreichend mit sonderpädagogischen Thematiken auseinander.
Aus diesem Grund sind Fortbildungen für Lehrer dringend notwendig, um einen professionellen und methodischen Umgang mit den jeweiligen Beeinträchtigungen zu lehren.
Noch schwieriger wird es für Lehrer, wenn sie mit der Nachricht überrumpelt werden, sie müssten in naher Zukunft eine Inklusionsklasse betreuen, indem ihnen die Botschaft nur wenige Wochen vor der Umgestaltung mitgeteilt wird. Dadurch hat das Lehrpersonal oftmals wenig Zeit, sich auf die Änderungen vorzubereiten und die jeweiligen Schulungen wahrzunehmen.
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Großes Problem: Personalmangel
Für beeinträchtigte Schüler kann dies keine Basis für eine angemessene Förderung darstellen.
Es gibt bereits einige Beispiele von erfolgreichen Inklusionen. In den meisten Fällen verliefen die Versuche jedoch nicht plangemäß. Das liegt daran, dass die Bildungspolitik zu wenig finanzielle Mittel in den Ausbau der Inklusion investiert. Dadurch entsteht „nichts Halbes und nichts Ganzes“. Im Moment herrschen Parallelstrukturen, die auf Dauer betrachtet keinen Sinn machen. Denn Förderschulen werden zwar geschlossen, jedoch nur zu wenige, so dass auch künftig viele weiterhin bestehen werden. Es gibt bereits einige Inklusionsklassen, jedoch werden für die beeinträchtigten Schüler zu wenig Sonderpädagogen und Sozialarbeiter eingesetzt. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung dieses Konzeptes ist das begleitete Lernen, demnach braucht es an genügend begleitenden Personen, die die Kinder individuell nach ihren Bedürfnissen fördern. Außerdem investiert die Politik weder in größere und mehr Räumlichkeiten, noch in mehr Personal. Der Personalmangel an Schulen ist bereits seit vielen Jahren ein großes Thema, jedoch hat dieser durch Inklusionsklassen eine größere Wichtigkeit bekommen. Studien belegen, dass Klassen mit weniger Schülern den Lernerfolg für alle Schüler erheblich steigern. Für Schüler mit einer geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung ist es jedoch eine Notwendigkeit die Größe der Lerngruppen zu minimieren, um sie bedürfnisorientiert fördern zu können.
Der Lehrermangel wirkt sich jedoch auch auf nicht beeinträchtigte Schüler und die Lehrer aus. Die Schüler sind schlechteren Unterrichtsbedingungen ausgesetzt und die betroffenen Lehrer sind auf Dauer überfordert, überlastet und häufig enttäuscht, wenn sie keine Erfolge zu sehen bekommen. Auch die Eltern sind unzufrieden mit dieser Situation, da ihre Erwartungen nicht erfüllt werden.
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Inklusion: Chance gegen Diskriminierung!
Das ist das Ergebnis einer unvollkommenen Umsetzung des Konzeptes. Die deutschen Bundesländer sind laut UN-Charta dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, welche der Verwirklichung und Sicherung des Rechtes, beeinträchtigter Menschen auf Bildung, dienen. Momentan zeigt die Bildungspolitik jedoch keine Bereitschaft, dieses Gesetz in die Tat umzusetzen. Stattdessen werden Sparmaßnahmen zur Minderung der Kosten ergriffen, welche eindeutig nicht dem Wohl der betroffenen Menschen dienen. Sonderpädagogen werden entlassen, weil Förderschulen schließen und anstatt diese in Regelschulen zu versetzen, verzichtet man komplett auf sie oder beschäftigt sie bloß unter prekären Bedingungen an Regelschulen. Aus diesem Grund werden beeinträchtigte Schüler nicht entsprechend gefördert, da sie nicht täglich im Unterricht begleitet werden.
Das Konzept der Inklusion ist dringlich vonnöten, um der Diskriminierung von Schülern ein Ende zu setzen. Der Begriff Inklusion schließt nicht nur Kinder mit Beeinträchtigungen, sondern auch Kinder, die in Armut leben, schlechtere Deutschkenntnisse haben, chronische Krankheiten oder psychische Probleme haben ein und fordert somit primär eine offene Schulform, die für alle zugänglich ist. Zudem hinterfragt es das mehrgliedrige Schulsystem und die Notenvergabe.
Das Konzept der Inklusion muss bedacht angewandt werden. Dazu gehört es auch die finanziellen und personellen Gegebenheiten seitens der Regierung zu schaffen. Barrieren, die Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen einschränken müssen beseitigt werden, um ihnen ungefährlichen und selbstständigen Schulalltag zu sichern (Rampen, Aufzüge etc.). Zudem muss das Lehramtsstudium durch sonderpädagogische Module reformiert werden, um Lehrern und Kindern einen professionellen Schulalltag zu garantieren.
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Erstveröffentlichung in „NeuesLeben/YeniHayat“ vor ein paar Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.
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Bitte schaut Euch auch dieses Video an. Lukas Krämer im Interview mit AmineX TV
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Die Inklusion, wie sie seit einigen Jahren praktiziert wird, richtet Schaden an – bei Kindern und Lehrern. Sie stößt bei einem großen Teil der Lehrerschaft auf Ablehnung (mein Sohn ist Lehrer), wobei sich viele nicht trauen, dies offen zu sagen. TV-Berichte heben gerne wenige Vorzeigeprojekte hervor. Es zeigt sich, dass unser Bildungssystem für eine tiefgreifende Inklusion (die den Namen verdient) weder technisch noch personell ausgestattet ist.
Kurz eine fachlichen Klarstellung. Große Probleme haben unsere Schulen mit den Kindern mit einer emotional-sozialen Entwicklungsstörung (kurz: Em-soz). Eine „normale“ Klasse verkraftet ein bis zwei dieser Schüler, danach explodiert die Klasse. Die zweite Gruppe sind die Kinder mit Lernbehinderung (kurz LB).
Früher, in der Zeit als ich als Psychologe praktiziert habe, habe ich wiederholt Feststellungsverfahren durchgeführt – für beide Gruppen. Bei Em-soz lief im Hintergrund der Begutachtung oft eine psychiatrische Behandlung mit Medikamenten. Die Beschulung erfolgte in Schulen der psychiatrischen Krankenhäusern, in Schulprojekten (mit großem Erfolg, oft private Träger) oder in Förderschulen. Kooperationspartner waren das Schulamt, die Eltern und nicht selten das Jugendamt.
Kurz zu den LBs. Nach einem aufwändigem Verfahren (6 Monate, einschließlich Schulpsychologe) konnte das Prädikat LB vergeben werden. Diese Schüler kamen in eine Förderschule, i.d.R. kleine Einheiten mit maximal 200 Schülern und einer Klassengröße von 12 Schülern. Bitte beachten: An diesen Schulen arbeiteten speziell ausgebildete Förderschullehrer, sie benutzten den Förderschullehrplan und Förderschulbücher. Alles sehr genau erarbeitet (über Jahrzehnte) für diese Schülergruppe. Es wurde angestrebt, die Kinder in zehn Jahrgangsstufen zu unterrichten, im besten Fall mit dem Abgangszeugnis, d.h. mit dem Vermerk Förderschule. In diesem Kontext hatten diese Schüler erstaunliche Lernerfolge und (was besonders wichtig ist) Erfolgserlebnisse. In Zusammenarbeit mit ortsansässigen Betrieben und der AfA wurde schon in der 9. Jahrgangsstufe ein Ausbildungsplan erstellt. Hierdurch konnte in vielen Fällen eine Vermittlung in eine ungelernte Tätigkeit erreicht werden (Arbeitsvertrag), und im Idealfall wurde das Berufsvorbereitungsjahr (in speziellen Einrichtungen) erfolgreich abgeschlossen und eine niederschwellige Ausbildung begonnen, z.B. als Beikoch, Maurergehilfe, Traktorist etc.
Eine analoge Struktur (Unterrichtsmaterial, Betreuungsschlüssel) gab es in den Bereichen GB (geistige Behinderung) und KB (körperliche Behinderung). KB-Schüler konnten je nach Grad der Behinderung aber auch in Regel- bzw. Förderschulen Aufnahme finden. Dieses umfangreiche Förderprogramm wurde ab 2012 im Land Brandenburg und in Berlin zerstört, in meinen letzten Dienstjahren musste ich das noch mit ansehen …
Die Autorin schreibt: „Für den schulischen Weg aller Kinder bedeutet dies: Kinder mit und ohne einer Beeinträchtigung besuchen die gleiche Schule und nehmen am gleichen Unterricht teil.“ Ich will dagegen gar nicht polemisieren, aber nach dem bisher beschilderten Sachstand, möge sich jeder selbst eine Klasse mit 25+ Schülern vorstellen mit einer Streuung im IQ zwischen 70 und 120 – und denselben Büchern. Das kann der beste Lehrer nicht leisten. In ihrer Not haben die Schulen daraufhin Förderklassen eingerichtet (12+ Schüler). In der Praxis läuft es aber so, dass hier überwiegend Em-soz-Schüler aufgenommen werden, die den Unterrichtsverlauf in den „normalen“ Klassen zuvor massiv gestört hatten.
Ein sinnvolles Bildungssystem muss mehrgleisig sein: Individuelle Förderung für alle Kinder, denen es schwer fällt zu lernen. Wir reden hier von 10-15 Prozent der Schülerschaft. Die starke Säule aber muss die Einheitsschule sein, die (unabhängig vom sozialen Status der Eltern) jedem Kind gleiche Entwicklungschancen bietet – einschließlich kostenloses Schulessen und kostenlose (bzw. sehr preiswerte) Schulmaterialien.
Schauen wir kurz zurück auf die DDR und ihr vorbildliches Bildungssystem. Darf man das heute sagen? Ich erlaube mir, hierzu aus meinem Buch „Die letzte Fahrt mit dem Fahrrad – 19 Gespräche mit Matteo über Mut, Glück und Aufbegehren in der DDR“ zu zitieren:
„Die Schweden und die Finnen haben sich das angeschaut und vieles übernommen. Das
finnische Bildungssystem gilt heute als besonders vorbildlich und beschert den Finnen ein hohes Ausbildungsniveau und regelmäßig einen vorderen Platz in der Bewertung der OECD, also in der PISA-Studie. Ihre Einheitsschule ist stark darauf ausgerichtet, Chancengleichheit herzustellen, von der wir heute in Deutschland weit entfernt sind. Soziale Leistungen, das Schulessen und Bücher sind kostenlos. Die finnische Erziehungswissenschaftlerin Thelma von Freymann bestätigte, »dass das Schulsystem der DDR Vorbild für das finnische war«. Und im Deutschlandradio wurde die frühere Bildungsministerin Edelgard Bulmahn mit der Frage konfrontiert: »Ist es nicht ein bisschen absurd, Frau Bulmahn, da reisen nach der ersten PISA-Studie die Bildungsexperten (der BRD – W. B.) nach Finnland und die Finnen sagen: Ja, wir haben das von der DDR eigentlich gelernt. Ist da nicht irgendetwas schiefgelaufen im deutschen Einigungsprozess? Hätte man das nicht alles schon haben können 1990?« Die Ministerin antwortete: »Ich denke, es ist sicherlich versäumt worden, im Einigungsprozess kritisch zu fragen, was sind eigentlich Errungenschaften im DDR-Bildungssystem, die wir auch erhalten sollten. Zum Beispiel war die enge Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule sicherlich eine Errungenschaft, die man hätte erhalten sollen in den neuen Ländern und die auch hätte von den alten Bundesländern übernommen werden können, das finde ich schon. Oder zum Beispiel eine stärkere Praxisorientierung in der Lehrerausbildung und -fortbildung oder eine größere Bedeutung und Gewichtung zum Beispiel der praktischen Anwendung von etwas Erlerntem …« (zitiert aus einem Aufsatz von Ralph Hartmann, Ossietzky 5/2007).
Wilfried Bergholz, Dipl.-Psychologe
Hallo Lukas,
meine Hochachtung für das interessante Interview und deinen Einsatz. Auch der Kommentar von Wilfried ist sehr interessant und hat mich zum Nachdenken gebracht.
Ich will aber an dieser Stelle auf die Bezahlung in Werkstätten eingehen, die ja verständlicher Weise auch von einigen Menschen als viel zu wenig angesehen wird.
Ich fange im Juni in einer sehr vorbildlichen Werkstatt Namens "Die Brücke" in Kiel an. Ich bin 24 Jahre alt, wohne in einer WG und bekomme Sozialhilfe.
Für diejenigen, die hier jetzt lesen und gar nicht wissen was eine Werkstatt ist eine kurze Erklärung. Als Werkstättten bezeichnet man soziale Einrichtungen in denen körperlich-, geistig- und psychisch behinderte Menschen arbeiten können. Entweder um fit für den sogenannt 1. Arbeitsmarkt zu werden oder um für immer dort eine Beschäftigung zu finden. Im Gegensatz zu einem "normalen" Unternehmen wird in Werkstätten viel mehr auf die Einzelnen Rücksicht genommen und niemand darf überfordert werden.
Es werden Produkte erzeugt oder Dienstleistungen angeboten mit denen die Einrichtung die, die Werkstatt betreibt, Gewinn erzielt.
Meine Eltern verdienen wenig und können mich nicht unterhalten. In diesem Fall bekomme ich die Sozialhilfe weiter plus 60 € im ersten Beschäftigungsjahr plus Busticket von 50 €, also: 424 € + 60 € + 50 € = 534 €. Dazu kommen die Leistungen für meine Unterkunft.
Die Leistungen der Werkstatt werden also nicht von der Sozialhilfe abgezogen.
Das ist bös wenig Geld dafür, wenn man täglich für diese Arbeit 9 Stunden von zu Hause weg ist. Und wer keine Sozialleistungen bekommt ist bös angeschissen und muss seinen Eltern oder Anderen auf der Tasche liegen.
Wie stark das Ganze nun Ausbeutung ist, darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Aber ich bin der Meinung, das jeder Mensch so viel verdienen muss wie er braucht um eine Wohnung, Essen und Trinken, Urlaub und Kultur zu haben.
Ich bin gespannt was Andere noch dazu schreiben.
Kiki