Yücel Özdemir
Warum wählen Türkei-stämmige Erdoğan?
Seit der amtlichen Veröffentlichung der Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei vom 24. Juni suchen Medien, Politiker und Sozialwissenschaftler eine Antwort auf diese Frage. Ca. 660.000 Wähler in Deutschland beteiligten sich an den Wahlen und ca. 65 Prozent gaben ihre Stimme Erdoğan. Die AKP erhielt mehr als 52 Prozent der deutschen Stimmen. Diese Ergebnisse zeigen, dass der Stimmenanteil von Erdoğan und seiner AKP jeweils 12 bis 13 Prozentpunkte über dem Ergebnis in der Türkei liegen. Da wirft sich die Frage auf, warum Türkei-stämmige Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, die teilweise hier geboren und aufgewachsen sind, mehrheitlich für Erdoğan und seine Partei gestimmt haben. Auch Autokorsos, Feuerwerke und mit türkischen Nationalflaggen geschmückte Autos, mit denen AKP- und MHP-Anhänger in der Wahlnacht in Berlin, Hamburg, Bochum, Köln und vielen anderen Städten das Wahlergebnis feierten, sorgten für Diskussionen.
Sprecher der AfD, aber auch der Grünen forderten “die Befürworter eines autoritären Regimes, das sich gegen die freiheitliche Demokratie Deutschlands richtet und auf die Alleinherrschaft eines starken Führers stützt”, auf, “in die Türkei zu gehen und dort zu leben, wenn sie Erdoğan so sehr mögen”. Nach ihrer Meinung ist es nicht mit gesundem Menschenverstand vereinbar und zu erklären, dass sich “Menschen und insbesondere junge Erwachsene, die in Deutschland leben, für einen autoritären Alleinherrscher und sein Regime einsetzen”.
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SOLLEN ERDOĞAN-WÄHLER IN DIE TÜRKEI ZIEHEN?
Zunächst ist festzuhalten, dass die Aufforderung an die Erdoğan-Wähler, in die Türkei zu ziehen, keine Lösung des Problems vorsieht und für eine tiefere Polarisierung sorgt. Denn die AKP instrumentalisiert genau solche Aufforderungen für ihre Propaganda, in Deutschland würde Sympathie-Bekundung für Erdoğan als ein Verbrechen dargestellt. Deshalb solle man sich umso stärker für “seinen Präsidenten” einsetzen. Wer also sagt, in Deutschland sei kein Platz für Erdoğan-Wähler, der trägt mit oder ohne Absicht, Wasser auf die Mühlen von Erdoğan und seiner AKP. Eine ähnliche Wirkung erzielten solche Argumente auch bei den Diskussionen bzw. Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland in den vergangenen Jahren. Wenn es den Urhebern solcher Aufforderungen um die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie und des verfassungsrechtlichen Rahmens in Deutschland geht, sollten sie auch die Frage beantworten, in welches Land die Wähler der AfD und anderen rassistischen Parteien abgeschoben werden sollen?
Ein emotionaler Lösungsansatz ist also fehl am Platze. Vielmehr sollten die Ursachen einer solchen Haltung richtig analysiert werden. Man sollte die Beweggründe der Erdoğan-Wähler nachvollziehen können. Nur so kann man Gedanken ausarbeiten, wie sie aus dem politisch-ideologischen Einflussbereich Erdoğans befreit werden können.
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DREI HAUPTGRÜNDE
Auf die Frage, warum 65 Prozent der 660.000 Wähler für Erdoğan gestimmt haben, gibt es nicht die eine ultimative Antwort. Vielmehr kann man mehrere Erklärungsansätze aufzählen:
Erstens: Es ist kein neues Phänomen und auch seit Jahren hinlänglich bekannt, dass der Anteil der Erdoğan-Befürworter in Deutschland höher ist, als in der Türkei. Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität war bei der ersten Generation sehr ausgeprägt. Die Sorge, in der Fremde ihre nationale, kulturelle und religiöse Identität preisgeben zu müssen, führte dazu, dass sie sich umso stärker diesen Werten zuwandten. Diese Sorge gaben sie auch an die Nachfolgegenerationen weiter. Dass der überwiegende Teil der ersten Generation aus den Dörfern und Regionen der Türkei entstammt, in denen Erdoğan die besten Wahlergebnisse erzielt hat, zeigt, wie stark ihre “Bindung zur Heimat” ist und dass diese immer wieder erneuert wird. Es herrscht also eine Parallelität zwischen ihrer Herkunftsregion und ihrem Wahlverhalten. Ähnliches gilt für Kurden oder der Minderheit der Aleviten. Ein entscheidender Faktor für Erdogans gutes Wahlergebnis ist ferner die Tatsache, dass das aus Verbänden und Institutionen in Deutschland bestehende Erdoğan-Netzwerk, das mit der Unterstützung und Umsetzung seiner Politik beauftragt ist, hierzulande straff und gut organisiert ist. Zu diesem Netzwerk gehört in erster Linie der Verband DITIB, der von der Bundesregierung als Ansprechpartner anerkannt und finanziell unterstützt wird. Es ist kein Geheimnis, dass DITIB-Moscheen quasi als Wahlbüros und DITIB-Imame als Leiter der lokalen Wahlausschüsse fungierten. Hinzu kommt, dass der überwiegende Teil der türkischsprachigen Medien, die die Türkeistämmigen hierzulande konsumieren, unter der Kontrolle Erdoğans stehen und für ihn Wahlpropaganda betreiben. Man kann sagen, dass es keinen einzigen türkeistämmigen Wähler gegeben hat, der sich anhand der Informationen in neutralen oder deutschen Medien ein Bild über die Türkei gemacht hat.
Zweitens: Die Politik des deutschen Staates, der Parteien und Medien und ihre Sprache treibt diese Menschen stärker in die Arme Erdoğans. Dass die deutsche Kritik an Erdoğan ihm nutzte, zeigte sein Stimmenzuwachs bei Wahlen in den letzten beiden Jahren. Und etwas anderes spielt heute eine herausragende Rolle: Die Mehrheit der Türkeistämmigen, die sich als Opfer von Diskriminierung sehen, denen die Gleichberechtigung vorenthalten wird, sehen in der Türkei immer mehr die erste Zufluchtsstätte für den Fall, dass sich Deutschland nicht mehr als Lebensraum eignet. Deshalb setzen sie sich für den viel gescholtenen Erdoğan ein, mit dem sie die Türkei gleichsetzen. Mit anderen Worten glauben diese Kreise, Erdoğan, der sich gegen Merkel “behaupten” kann, könne sie auch für das ihnen widerfahrene Unrecht zur Rechenschaft ziehen.
Drittens: Für die Wähler von Erdoğan spielen bei der Stimmabgabe nicht ihre Klasseninteressen, sondern religiöse und nationale Werte eine vordergründige Rolle. Da sie von den wirtschaftlichen Problemen in der Türkei nicht unmittelbar betroffen sind, orientieren sie sich nicht an solchen Fragen. Im Gegensatz dazu bilden bei Wahlen in Deutschland ihre Klassenlage und -interessen die Grundlage für ihre Stimmabgabe. Dementsprechend wählen sie vor dem Hintergrund der Wirtschaftsentwicklungen und deren Auswirkungen auf sie selbst, also in Deutschland, eher links. Viele Studien belegen das. Dies ist ein konkretes Beispiel dafür, dass Werktätige ihrer Klassenlage entsprechend wählen, wenn ihre nationalen und religiösen Werte nicht instrumentalisiert werden.
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SIE SCHÖPFEN IHRE KRAFT AUS DER NATIONALEN UND RELIGIÖSEN SPALTUNG
Bürgerliche Parteien versuchen die Spaltung der Werktätigen zu vertiefen, um sich an der Macht zu halten. Diese Feststellung gilt nicht nur im Hinblick auf die Türkei. Zu diesem Zweck werden Angehörige derselben Klasse gegeneinander ausgespielt. Rassistische Parteien in Deutschland und Österreich forderten gleich nach der Wahl Erdoğan-Wähler auszuweisen und ihre Gebetsstätten zu schließen. Diesen menschenfeindlichen Strömungen geht es in erster Linie nicht um Demokratie und Freiheitsrechte in der Türkei, sondern um die eigene politische Stärke.
Zusammengefasst ist festzuhalten, dass die von Erdoğan eingeführte Möglichkeit, den Auslandstürken die Teilnahme an türkischen Wahlen zu ermöglichen, zur Spaltung beitrug. Dieser Weg, den Erdoğan einschlug, um seine eigene Macht zu festigen, birgt nicht nur für Erdoğan-Wähler, sondern für alle Türkeistämmigen die Gefahr einer immer stärker werdenden Abschottung.
Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, müssen Türkeistämmige in allen Bereichen des Lebens mit den “Einheimischen” gemeinsam handeln. Und sie müssen sich gegen die Versuche aus der Türkei wehren, sie entlang der Religions- und Herkunftsunterschiede zu spalten. Nur so können sie sich gegen reaktionäre Strömungen wehren.
Sie werden erkennen, dass ihre Unterstützung für Erdoğan und seine AKP nicht zur Lösung ihrer Probleme beiträgt, sondern neue Probleme schafft. Die Debatte, die nach der Wahl vom 24. Juni in Deutschland und anderen europäischen Ländern losgetreten wurde, hat das erneut deutlich gemacht.
Erstveröffentlichung in „NeuesLeben/YeniHayat“ vor ein paar Tagen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.
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