Nico Diener
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Buchempfehlung zum 17. Juni: „Die letzte Fahrt mit dem Fahrrad (…)“ von Wilfried Bergholz
Es sind schon viele Artikel zu den Ereignissen am 17. Juni 1953 auf AmericanRebel erschienen. Nun fiel mir das Buch „Die letzte Fahrt mit dem Fahrrad – 19 Gespräche über Mut, Glück und Aufbegehren in der DDR“ des Autors Wilfried Bergholz wieder in die Hände und ich fand im 3. Gespräch einige Schilderungen der Ereignisse am 17. Juni 1953 in Berlin und Stralsund. Hier ein kleiner Auszug, der hoffentlich anregt das Buch selber zu lesen.
In der heute verordneten Sichtweise wird nicht gefragt, wer da mit Steinen warf, wer das Columbiahaus anzündete. Zünden Maurer Häuser an? Das bekannteste Foto vom 17. Juni stammt von Wolfgang Albrecht: Zwei junge Männer werfen Steine auf einen sowjetischen T-34. Schulbücher, Bildbände, Dokumentarfilme – überall dieses Foto, sogar auf einer Briefmarke. Aber wer ist auf dem Foto zu sehen?
Einer der beiden war Arno Heller und er war Student in Westberlin und kein Bauarbeiter. Bertolt Brecht sprach von »Gestalten der Nazizeit« und »deklassierten Jugendlichen« aus dem Westen … Das war schon ein bunter, wilder Haufen damals am Potsdamer Platz, Leute voller Hass, Enttäuschung und Vandalismusgelüsten. Was immer es war, vielleicht Massenstreik, Arbeiterrevolte, Randale, Demonstration – alles denkbar, aber ein »Volksaufstand« war es sicher nicht. Der wäre durchaus möglich gewesen und der RIAS hat alles versucht, um das Feuer anzufachen. Es verblüffte mich zu hören, wie offen Egon Bahr, 1953 Chefredakteur im RIAS, vor drei Jahren, am 12. Juni 2013 in einer Diskussionsrunde im Deutschlandfunk Auskunft gab. Als er am 16. Juni die Streikführer aus Ostberlin empfing, hätte er gesagt: »Was sind denn eure Forderungen? Und das haben wir aufgezählt, und dann haben wir das in eine vernünftige Reihenfolge gebracht, und dann haben wir das in vernünftiges Deutsch gebracht, und dann haben wir zugesagt, das werden wir senden.« Egon Bahr bemerkte nicht ohne Stolz, dass diese fünf Forderungen am darauffolgenden Tag auf allen Spruchbändern standen. Und als die Stahlwerker aus Henningsdorf ihren Marsch nach Berlin begannen, wäre die Beratung im Sender sofort abgebrochen worden und »jeder eilte auf seinen Gefechtsstand oder Kommandostand«, wie Bahr es ausdrückte.
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Mehr über Wilfried Bergholz
und das Buch im Interwiew mit rbb
Es gibt ein Foto, das zeigt den Marsch der Henningsdorfer Stahlarbeiter durch Westberlin zum Alex, freudig eskortiert von Polizisten. Da in dieser aufgeheizten Situation dem RIAS von den Amerikanern jede weitere Einflussnahme strikt untersagt wurde (»Wollen Sie den Dritten Weltkrieg auslösen?«), lud Bahr schließlich am Abend des 16. Juni den Vorsitzenden des DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund der BRD) Ernst Scharnowski ins Studio ein. Seine Ansprache an die Arbeiter in Ostberlin endete mit dem Satz: »Wir sehen uns dann morgen am Strausberger Platz.« Und dann erst knallte es. Egon Bahr kommentierte diesen Winkelzug mit: »Das konnte ja nicht verboten werden …« Und fügte als Fazit hinzu: »Wir haben die Lehre gezogen, dass es nicht möglich war, mit Druck von unten der Sowjetunion einen Teil ihres Einflussbereiches zu entziehen. Das wurde 1956 bestätigt, das wurde 1968 in der Tschechoslowakei bestätigt.« Die Konsequenz war dann, so Bahr, eine neue Politik: Wandel durch Annäherung. Am 17. Juni 1953 und den Tagen danach starben 55 Menschen in der DDR, 34 Demonstranten wurden von Volkspolizisten oder sowjetischen Soldaten erschossen, fünf Männer wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Tode verurteilt und hingerichtet, zwei Todesurteile wurden von DDR-Gerichten verhängt und vollstreckt, vier Personen starben infolge menschenunwürdiger Haftbedingungen, vier Festgenommene begingen in der Haft Selbstmord, ein Demonstrant verstarb beim Sturm auf ein Volkspolizei-Revier an Herzversagen, fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane wurden getötet: zwei Volkspolizisten und ein MfS-Mitarbeiter wurden bei der Verteidigung eines Gefängnisses von Unbekannten erschossen, ein Mitarbeiter des Betriebsschutzes von einer wütenden Menge erschlagen und ein weiterer Volkspolizist versehentlich von sowjetischen Soldaten erschossen (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung). Dabei will ich es belassen, es gibt genug authentische Quellen. Mein Freund Gerrit sagte zu mir: »Lass das weg, das ist Sache der Historiker.« Aber das geht nicht. Es ist so viel Unkenntnis im Umlauf, so viel Propaganda, da braucht es schon die Ermutigung zum gründlichen Einlesen und Aufklärung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«
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Wilfried Bergholz: „Die letzte Fahrt mit dem Fahrrad – 19 Gespräche über Mut, Glück und Aufbegehren in der DDR“. ISBN-10: 3-74507-457-2, Paperback, 12,0 x 19,0 cm, 140 Seiten, 2017, 19,90 €uro (auch antiquarisch günstiger zu beziehen). Verlag tredition, Hamburg:
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Weitere Artikel zum Thema „17. Juni 1953“:
– Fiete Jensen: „17. Juni 1953 – Konterrevolutionärer Putschversuch gescheitert – die Kluft zur Arbeiterklasse vergrößert“
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