Chris Hedges
Unheilige Allianz
Kapitalismus und Faschismus haben mehr gemeinsam als man denkt
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Hat sich der Kapitalismus der letzten demokratischen Reste entledigt, gedeihen nicht nur Kleptokratie, Korruption und Militarismus. Auch der Faschismus erhebt wieder sein Haupt — und hat überall dort leichtes Spiel, wo das Leben der Menschen zum Existenzkampf gerät. Pulitzerpreisträger Chris Hedges entdeckt Clara Zetkins „gespenstisch prophetische“ Beobachtungen zur Entstehung des Faschismus neu, die heute so aktuell sind wie einst.
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Wie wir den Faschismus bekämpfen
1923 berichtete die radikale Sozialistin und Feministin Clara Zetkin bei der Kommunistischen Internationalen über die Entstehung einer politischen Bewegung namens Faschismus. Viele Liberale, Sozialisten und Kommunisten schrieben den Faschismus, der damals noch in den Kinderschuhen steckte, als bloße Pöbelherrschaft, Terror und Straßengewalt ab.
Doch Zetkin, eine deutsche Revolutionärin, erkannte seine Boshaftigkeit, sah, welche Verführung und welche Gefahr er darstellte. Sie warnte davor, dass der Faschismus umso attraktiver werde, je länger man dabei zusehe, wie eine dysfunktionale Demokratie stagniere und verkomme.
Und heute, da sich die kapitalistische Demokratie im Amerika des 21. Jahrhunderts auflöst und die nackte Kleptokratie an ihre Stelle getreten ist, die die Rechtsstaatlichkeit verachtet, spiegelt der Kampf früherer Anti-Faschisten unseren eigenen wider.
Die Geschichte hat mannigfach gezeigt, wohin politische Lähmung, ökonomischer Abstieg, übersteigerter Militarismus und weit verbreitete Korruption führen.
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Faschismus als Krisengewinnler
Zetkins gespenstisch prophetische Analyse, neu abgedruckt in dem von John Riddell und Mike Taber herausgegebenen Buch „Fighting Fascism: How to Struggle and How to Win“, wirft ein Schlaglicht auf die Grundzüge aufkommender faschistischer Bewegungen.
Der Faschismus, warnte Zetkin, keimt auf, wenn der Kapitalismus in eine Krisenphase eintritt und wenn demokratische Institutionen zusammenbrechen, die ursprünglich reformierbar waren und Schutz vor hemmungslosen Angriffen durch die kapitalistische Klasse boten.
Die unkontrollierte kapitalistische Attacke drängt die Mittelklasse, das Bollwerk der kapitalistischen Demokratie, in die Arbeiterklasse und oftmals gar in die Armut. Er beraubt die Arbeiter jeglichen Schutzes und drückt die Löhne.
Je länger eine ökonomische und soziale Stagnation anhält, desto attraktiver erscheint der Faschismus. Zetkin hätte uns davor gewarnt, dass nicht Donald Trump die Gefahr darstellt; die Gefahr besteht vielmehr in der wachsenden sozialen und ökonomischen Ungleichheit, die das Vermögen in den Händen einer oligarchischen Elite konzentriert und das Leben der Bürger herabwürdigt.
Exzesse des Kapitalismus
Der Zusammenbruch der kapitalistischen Demokratie, so Zetkin, entmachte die Angehörigen der Arbeiterklasse. Ihre Bitten finden kein Gehör mehr. Reformen, die ihr Leiden begrenzen sollen, sind lediglich kosmetischer Natur und nutzlos. Ihre Wut wird als irrational oder rassistisch abgetan.
Eine bankrotte liberale Klasse, die einst zumindest schritt- und stückchenweise Reformen ermöglichte und damit die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus abmilderte, übt sich in leeren Versprechungen von sozialer Gerechtigkeit und Arbeiterrechten, während sie diese in Wirklichkeit an die kapitalistischen Eliten verkauft.
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Der Zorn der Entrechteten
Die Scheinheiligkeit der liberalen Klasse ruft nicht nur Verachtung, sondern Abscheu gegenüber den liberalen, demokratischen Werten hervor, für die sie doch angeblich eintritt.
Die „Tugenden“ der Demokratie werden zunehmend als widerwärtig empfunden. Die groben Spötteleien, Drohungen und Beleidigungen, die die Faschisten dem liberalen Establishment entgegen schleudern, sind Ausdruck legitimen Zorns der betrogenen Arbeiterklasse.
Trumps derbe Art verfängt deshalb bei vielen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Demoralisierte Arbeiter, deren Interessen auch das intellektuelle Establishment – die Presse und die Akademiker – nicht verteidigt, verlieren den Glauben an den politischen Prozess.
Weil sie merken, dass die liberalen Eliten sie belogen haben, sind sie offen für bizarre und abwegige Verschwörungstheorien. Die Faschisten lenken diese Wut und diese Rachegelüste auf eine Reihe von Phantomfeinden, vor allem auf Minderheiten, die zu Sündenböcken gemacht werden.
„Was sie am meisten belastet, ist die fehlende Sicherheit für ihre nackte Existenz“, schrieb Zetkin über die enteignete Arbeiterklasse.
„Tausende strömten dem Faschismus zu. … Dort fanden die politisch Heimatlosen, die sozial Entwurzelten, die Verzweifelten und Desillusionierten Zuflucht. … Die Kleinbürger und die ohne klare Klassenzugehörigkeit schwanken zunächst unentschlossen zwischen den mächtigen historischen Lagern, zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie. Ihr Leiden und zum Teil auch die hehren Sehnsüchte und hohen Ideale bringen sie dazu, mit dem Proletariat zu sympathisieren, jedenfalls so lange es sich revolutionär verhält und Chancen auf einen Sieg hat. Unter dem Druck der Massen und ihrer Bedürfnisse und unter dem Eindruck dieser Lage sehen sich sogar die faschistischen Anführer dazu genötigt, zumindest mit dem revolutionären Proletariat zu flirten, auch wenn sie nicht unbedingt Sympathien zu ihm hegen“ (1).
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Die Nation als Heilsversprechen
An die Stelle der diskreditierten Ideale der Demokratie tritt ein übersteigerter Nationalismus, der die Bevölkerung nicht in Klassen aufteilt, sondern zwischen Patrioten und vaterlandslosen Gesellen unterscheidet. Unter faschistischer Herrschaft verschmelzen nationale und religiöse Symbole wie das christliche Kreuz und die US-Flagge. Der Faschismus bietet den Besitzlosen einen fassbaren Feind und das Recht, körperlich zurückzuschlagen.
Diejenigen, die man für den Niedergang der Gesellschaft dämonisiert – Juden und Kommunisten im Nazi-Deutschland, die Kulaken in der Sowjetunion und die Sans-Papiers, Afroamerikaner und Muslime in den USA – werden zu gesellschaftlichen Parias. Die Stigmatisierten werden zusammen mit Intellektuellen, Liberalen, Schwulen, Feministen und Dissidenten als Verkörperung der Seuche attackiert, die die Nation zerstört hat und die die Faschisten ausrotten werden.
Die faschistische Rhetorik ist immer in eine Sprache der Erneuerung und moralischer Reinheit gekleidet.
„Was die Massen nicht mehr von einer revolutionären Proletarierklasse und vom Sozialismus erhoffen, sollten nun, so ihre Hoffnung, die fähigsten, stärksten, entschlossensten und kühnsten Mitglieder einer jeden Klasse erreichen.“
Das schrieb Zetkin, die mit der ermordeten Rosa Luxemburg eng befreundet war.
„All diese Kräfte müssen sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen. Und diese Gemeinschaft ist für die Faschisten die Nation. … Das Instrument, mit dem die faschistischen Ideale zu erreichen sind, stellt für sie der Staat dar. Ein starker autoritärer Staat, den sie selbst schaffen wollen und der ihr williges Werkzeug sein wird. Dieser Staat wird über allen Unterschieden von Partei und Klasse thronen.“
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Vorwärts, zum Kommunismus!
Zetkin, Mitbegründerin des radikalen Spartakusbundes, warnte davor, die breite Masse von faschistischen Bewegungen zu dämonisieren. Sie erinnerte uns daran, dass diejenigen, auf die der Faschismus anziehend wirkt, ihm nur dann entwunden werden können, wenn man sich ihrer echten und tiefsitzenden Kümmernisse annimmt.
„Die besten von ihnen suchen einen Ausweg aus tiefer Seelennot.“, so schrieb sie über diejenigen, die faschistischen Organisationen beitraten. „Sie begehren neue unerschütterliche Ideale und eine Weltanschauung, die ihnen dabei hilft, die Natur, die Gesellschaft, ihr eigenes Leben zu begreifen, eine Weltanschauung, die keine sterile Formel ist, sondern schöpferisch, gestaltend wirkt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die gewalttätigen faschistischen Banden nicht ausschließlich zusammengesetzt sind aus Kriegsrohlingen, aus freiwilligen Söldnern, aus käuflichen Lumpen, denen der Terror Genuss ist. Wir finden in ihnen auch die energischsten, entwicklungsfähigsten Elemente der betreffenden Kreise. Wir müssen uns ihnen mit Ernst und mit Verständnis für ihre Lage und ihre brennende Sehnsucht nähern, unter ihnen arbeiten und ihnen zeigen, dass der Ausweg für sie nicht rückwärts führt, sondern vielmehr vorwärts, zum Kommunismus.“
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Verherrlichung von Gewalt
Die höchste Ästhetik des Faschismus ist der Krieg. Seine Bewunderung für militärische Stärke und Gewalt, sein Unvermögen, sich mit der Welt der Ideen, mit feinen Schattierungen und komplexen Zusammenhängen zu befassen, und seine emotionale Abgestumpftheit machen es ihm unmöglich, in einer anderen Sprache als der von Drohungen und Nötigungen zu sprechen.
Institutionen, die respektvoll mit Komplexität umgehen, die über kulturelle Grenzen hinweg kommunizieren und andere verstehen wollen, werden von den Faschisten herabgewürdigt und zerstört. Diplomatie, Gelehrsamkeit, Kultur und Journalismus sind ihnen verhasst.
Entweder man fügt sich, innerhalb und außerhalb der Grenzen der Nation, oder man wird niedergewalzt. Dieses moralische und intellektuelle Vakuum bringt die Faschisten dazu, den Bogen zu überspannen, vor allem in Form von militärischen Abenteuern und imperialistischer Expansion.
Sie brechen langanhaltende und sinnlose Kriege vom Zaun, die die erschöpften Ressourcen der Nation auszehren und die bürgerlichen Freiheiten im eigenen Land auslöschen. Und am Ende lassen sie sowohl innen, wie auch außen eine Brutalität walten, die das Ausmaß von Völkermord annimmt.
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Kapitalismus und Faschismus – eine unheilige Allianz
Der Faschismus, so Zetkin, hetzt einen Teil der Arbeiterklasse gegen den anderen auf. Bei der Demonstration in Charlottesville, die tödliche Züge annahm, prallten „Antifa“-Aktivisten und Neonazis zusammen, die zum Großteil derselben ökonomischen Schicht angehörten.
Die Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse, die die Faschisten bewirken, befördern, zusammen mit dem faschistischen Angriff auf Gewerkschaften, Intellektuelle, Dissidenten und die Presse, eine unbehagliche Allianz mit den kapitalistischen Eliten.
Diese belächeln die Faschisten oftmals als Dummköpfe und Knallchargen. Im Wesentlichen werden die Kapitalisten von den Faschisten mit Steuererleichterungen, durch Deregulierung, die Zerschlagung von Gewerkschaften, sowie die Zerstörung der Institutionen gekauft, welche für die Beaufsichtigung und den Schutz der Arbeiter zuständig sind.
Der Ausbau des Militärs, der den Kapitalisten wachsenden Profit beschert, zusammen mit einem Machtzuwachs für die Organe der inneren Sicherheit, bindet die kapitalistischen Eliten an die Faschisten. Ihre Verbandelung besteht zum Nutzen beider Seiten. Daher tolerieren die kapitalistischen Eliten Trump und erdulden, dass er auf dem internationalen Parkett eine Peinlichkeit darstellt.
„Es ist der krasseste Widerspruch vorhanden zwischen dem, was der Faschismus verheißen hat, und dem, was er den Massen bringt“, schrieb Zetkin.
„Dieses Gerede davon, wie der faschistische Staat die Interessen der Nation über alles stellen werde, wird im Wind der Realität wie eine Seifenblase platzen. Die ‚Nation‘ offenbart sich als Bourgeoisie; der ideale faschistische Staat zeigt sich als vulgärer, skrupelloser bürgerlicher Klassenstaat. … Die Klassenunterschiede erweisen sich als mächtiger als alle Ideologien, die ihre Existenz leugnen. Die Bourgeoisie muss aggressive Gewalt ausüben, um sich gegen die Arbeiterklasse zu verteidigen. Der alte und scheinbar ‚apolitische‘ repressive Apparat des bürgerlichen Staates bietet ihr keinen ausreichenden Schutz mehr. Die Bourgeoisie stellt also in ihrem Klassenkampf Sondertrupps zusammen, um gegen das Proletariat zu kämpfen. Solche Truppen bietet ihnen der Faschismus. Obwohl im Faschismus auch revolutionäre Strömungen aufgegangen sind – Kräfte, die sich gegen den Kapitalismus und seinen Staat wenden könnten – entwickelt er sich dennoch zu einer gefährlichen kontrarevolutionären Kraft. Der Faschismus zeigt in jedem Land andere Züge, das ist den historischen Gegebenheiten geschuldet. Doch überall setzt er sich aus einem Amalgam aus brutaler, terroristischer Gewalt zusammen und geht Hand in Hand mit trügerischen revolutionären Formulierungen. So knüpfen sie auf demagogische Weise an die Bedürfnisse und Stimmungen der breiten Masse der Arbeiterschaft an.“
Zetkin – aufrechte Antifaschistin bis zuletzt 1932 sollte Zetkin, die mit ihren 74 Jahren das älteste gewählte Mitglied des von den Nazis kontrollierten Reichstages war, der Tradition folgend die erste Sitzung der Legislaturperiode eröffnen.
Die Nazi-Presse überzog sie mit ätzenden Kommentaren, attackierte sie als „kommunistische Jüdin“, als „Verräterin“ und, wie Joseph Goebbels sie zu bezeichnen beliebte, als „Schlampe“. Die Nazis drohten ihr damit, sie anzugreifen, wenn sie in der Kammer auftrete, deshalb witzelte sie, sie würde dort sein – „tot oder lebendig“.
In schlechter körperlicher Verfassung erschien sie auf einer Liege im Reichstag, auf dem Podium aber gewann sie ihr typisches feuriges Temperament zurück. Ihre 40-minütige Rede war eine der letzten öffentlichen Anprangerungen des Faschismus in Nazi-Deutschland. Innerhalb eines Jahres verboten die Nazis die Kommunistische Partei und Zetkin starb im sowjetischen Exil.
Sie sprach zum Reichstag:
„Unsere dringendste Aufgabe heute ist es, eine Einheitsfront aller Werktätigen zu bilden, um den Faschismus niederzuringen. Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten. All jene, die bedroht werden, all jene, die leiden, all jene, die Freiheit ersehnen, müssen sich in die Einheitsfront gegen den Faschismus und seine Vertreter in der Regierung einreihen. Die Werktätigen müssen sich gegenüber dem Faschismus behaupten. Dies ist die dringende und unerlässliche Voraussetzung für eine Einheitsfront gegen die ökonomische Krise, gegen imperialistische Kriege und ihre Ursachen und gegen die kapitalistische Produktionsweise. Die Auflehnung von Millionen werktätiger Männer und Frauen in Deutschland gegen Hunger, Entrechtung, faschistischen Mord und imperialistische Kriege ist ein Ausdruck der unzerstörbaren Schicksalsgemeinschaft der Schaffenden der ganzen Welt. Dieses Schicksal, das uns alle auf der ganzen Welt verbindet, muss darin ihren Ausdruck finden, dass wir eine eherne Kampfgemeinschaft aller Werktätigen in allen Bereichen schmieden, die vom Kapitalismus beherrscht werden.“
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Bilder und Bildunterschriften wurden von der Redaktion AmericanRebel hinzu gefügt.
Meine Damen und Herren!
Der Reichstag tritt in einer Situation zusammen, in der die Krise des zusammenbrechenden Kapitalismus die breitesten werktätigen Massen Deutschlands mit einem Hagel furchtbarster Leiden überschüttet. Zu den Millionen Arbeitslosen, die mit den Bettelpfennigen der sozialen Unterstützung oder auch ohne sie hungern, werden im Herbst und im Winter neue Millionen stoßen. Verschärfter Hunger ist auch das Schicksal aller anderen sozial Hilfsbedürftigen. Die noch Beschäftigten können bei ihrem niedrigen Verdienst die durch die Rationalisierung aufs äußerste ausgepreßte Muskel- und Nervenkraft nicht ersetzen, geschweige denn kulturelle Bedürfnisse befriedigen. Der weitere Abbau des Tarifrechts und des Schlichtungswesens wird die Entbehrungslöhne noch tiefer senken. Wachsende Scharen von Handwerkern und Kleingewerbetreibenden, von Klein- und Mittelbauern versinken verzweifelnd in Elendstiefen. Der Niedergang der Wirtschaft, das Zusammenschrumpfen der Aufwendungen für Kulturzwecke vernichten die wirtschaftlichen Grundlagen für die Existenz der geistig Schaffenden und verengen fortschreitend das Betätigungsfeld für ihre Kenntnisse und Kräfte. Der im Osten entfesselte Weltbrand, der vom Westen her kräftig geschürt wird, und dessen Flammenmeer auch die Sowjetunion und ihren sozialistischen Aufbau vertilgen soll, würde auch Deutschland mit Schrecken und Greueln überhäufen, die das Mord- und Vernichtungswerk des letzten Weltkrieges in den Schatten stellen.
Die politische Macht hat zur Stunde in Deutschland ein Präsidialkabinett an sich gerissen, das unter Ausschaltung des Reichstags gebildet wurde und das der Handlanger des vertrusteten Monopolkapitals und des Großagrariertums und dessen treibende Kraft die Reichtwehrgeneralität ist.
Trotz der Allmacht des Präsidialkabinetts hat es gegenüber allen innen- und außenpolitischen Aufgaben der Stunde gänzlich versagt. Seine Innenpolitik charakterisiert sich genau wie die des vorausgegangenen durch die Notverordnungen, Notverordnungen im ureigensten Sinne des Wortes; denn sie verordnen Not und steigern die schon vorhandene Not. Gleichzeitig zertritt dieses Kabinett die Rechte der Massen, gegen die Not zu kämpfen. Sozial Hilfsbedürftige und Hilfsberechtigte erblickt die Regierung nur in verschuldeten Grossagrariern, krachenden Industriellen, Bankgewaltigen, Reedern und gewissenlosen Spekulanten und Schiebern. Ihre Steuer-, Zoll- und Handelspolitik nimmt breiten Schichten des schaffenden Volks, um kleine Gruppen von Interessenten zu beschenken, und verschlimmert die Krise durch weitere Einschränkung des Konsums, des Imports und Exports.
Ebenso schlägt ihre Außenpolitik den Interessen des schaffenden Volks ins Gesicht. Sie wird geleitet von imperialistischen Gelüsten, bringt Deutschland in ziellosem dilettantischem Schwanken zwischen plumper Anbiederung und Säbelrasseln in immer tiefere Abhängigkeit von den Großmächten des Versailler Vertrags und schädigt die Beziehungen zur Sowjetunion, dem Staat, der durch seine ehrliche Friedenspolitik und seinen wirtschaftlichen Aufstieg ein Rückhalt für die deutsche werktätige Bevölkerung ist.
Schwerstens belastet ist das Schuldkonto des Präsidialkabinetts durch die Morde der letzten Wochen, für die es die volle Verantwortung trägt durch die Aufhebung des Uniformverbots für die nationalsozialistischen Sturmabteilungen und durch die offene Begönnerung der faschistischen Bürgerkriegstruppen. Vergebens sucht es über seine politische und moralische Schuld hinwegzutäuschen durch Auseinandersetzungen mit ihren Bundesgenossen über die Verteilung der Macht im Staate; das vergossene Blut kittet es für ewig mit den faschistischen Mördern zusammen.
Die Ohnmacht des Reichstags und die Allmacht des Präsidialkabinetts sind der Ausdruck des Verfalls des bürgerlichen Liberalismus, der zwangsläufig den Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise begleitet. Dieser Verfall wirkt sich auch voll aus in der reformistischen Sozialdemokratie, die sich in Theorie und Praxis auf den morschen Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung stellt. Die Politik der Papen-Schleicher-Regierung ist nichts anderes als die unverschleierte Fortsetzung der Politik der von den Sozialdemokraten tolerierten Brüning-Regierung, wie dieser ihrerseits die Koalitionspolitik der Sozialdemokratie als Schrittmachern vorausgegangen ist.
Die Politik des „kleineren Übels“ stärkte das Machtbewusstsein der reaktionären Gewalten und sollte und soll noch das größte aller Übel erzeugen, die Massen an Passivität zu gewöhnen. Diese sollen darauf verzichten, ihre volle Macht außerhalb des Parlaments einzusetzen. Damit wird auch die Bedeutung des Parlaments für den Klassenkampf des Proletariats gemindert. Wenn heute das Parlament innerhalb bestimmter Grenzen für den Kampf der Werktätigen ausgenutzt werden kann, so nur dann, wenn es seine Stütze hat an kraftvollen Aktionen der Massen außerhalb seiner Mauern.
Ehe der Reichstag Stellung nehmen kann zu Einzelaufgaben der Stunde, muß er seine zentrale Pflicht erkannt und erfüllt haben: Sturz der Reichsregierung, die den Reichstag durch Verfassungsbruch vollständig zu beseitigen versucht. Anklagen müßte der Reichstag auch erheben gegen den Reichspräsidenten und die Reichsminister wegen Verfassungsbruchs und noch weiterer geplanter Verfassungsbrüche vor dem Staatsgerichtshof zu Leipzig. Doch eine Anklage vor dieser hohen Instanz hieße den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen.
Selbstverständlich kann nicht einfach durch Parlamentsbeschluss die Gewalt einer Regierung gebrochen werden, die sich stützt auf die Reichswehr und alle anderen Machtmittel des bürgerlichen Staates, auf den Terror der Faschisten, die Feigheit des bürgerlichen Liberalismus und die Passivität großer Teile der Werktätigen. Der Sturz der Regierung durch den Reichstag kann nur das Signal sein für den Aufmarsch und die Machtentfaltung der breitesten Massen außerhalb des Parlaments, um in dem Kampf das ganze Gewicht der wirtschaftlichen und sozialen Leistung der Schaffenden und auch die Wucht der großen Zahl einzusetzen.
In diesem Kampf gilt es zunächst und vor allem, den Faschismus niederzuringen, der mit Blut und Eisen alle klassenmssigen Lebensäußerungen der Werktätigen vernichten soll, in der klaren Erkenntnis unserer Feinde, daß die Stärke des Proletariats am allerwenigsten von Parlamentssitzen abhängt, vielmehr verankert ist in seinen politischen, gewerkschaftlichen und kulturellen Organisationen.
Belgien zeigt den Werktätigen, daß der Massenstreik sogar in Zeiten größter Wirtschaftskrise seine Kraft bewährt, vorausgesetzt, daß hinter dem Gebrauch dieser Waffe die Entschlossenheit und Opferfreudigkeit der Massen steht, vor keiner Weiterung des Kampfes zurückzuschrecken und die Gewalt der Feinde mit Gewalt zurückzuschlagen. Jedoch die außerparlamentarische Machtentfaltung des werktätigen Volkes darf sich nicht auf den Sturz einer verfassungswidrigen Regierung beschränken; sie muß über dieses Augenblicksziel hinaus gerichtet sein auf den Stutz des bürgerlichen Staates und seiner Grundlage, der kapitalistischen Wirtschaft.
Alle Versuche, auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaft die Krise zu mildern, geschweige denn zu beheben, können das Unheil nur verschärfen. Staatliche Eingriffe versagten; denn der bürgerliche Staat hat nicht die Wirtschaft, sondern umgekehrt die kapitalistische Wirtschaft hat den Staat. Als Machtapparat der Besitzenden kann dieser sich nur zu deren Vorteil einsetzen auf Kosten der produzierenden und konsumierenden breiten schaffenden Volksmassen. Eine Planwirtschaft auf dem Boden des Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Die Versuche dazu werden immer wieder vereitelt durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Planmäßigkeit des Wirtschaftens ist nur möglich bei der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Der Weg zur Überwindung wirtschaftlicher Krisen und aller drohenden imperialistischen Kriegsgefahren ist einzig und allein die proletarische Revolution, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln abschafft und damit die Planmäßigkeit des Wirtschaftens verbürgt.
Der große weltgeschichtliche Beweis dafür ist die russische Revolution. Sie hat gezeigt, daß den Schaffenden die Kraft eigen ist, alle ihre Feinde niederzuwerfen und zusammen mit dem Kapitalismus im eigenen Lande auch die imperialistischen Raubgewalten zurückzuwerfen und Sklavenverträge wie den Versailler Vertrag zu zerreißen.
Der Sowjetstaat erhärtet auch, daß die Werktätigen die Reife besitzen, eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, in der eine wirtschaftliche Höherentwicklung der Gesellschaft ohne verwüstende Krisen erfolgen kann, weil eben die Ursache der anarchischen Produktionsweise vernichtet ist, das Privateigentum an den großen Produktionsmitteln.
Der Kampf der werktätigen Massen gegen die zerfleischenden Nöte der Gegenwart ist zugleich der Kampf für ihre volle Befreiung. Er ist ein Kampf gegen den versklavenden und ausbeutenden Kapitalismus und für den erlösenden, den befreienden Sozialismus. Diesem leuchtenden Ziel muß der Blick der Massen unverrückt zugewandt sein, nicht umnebelt durch Illusionen über die befreiende Demokratie und nicht zurückgeschreckt durch die brutalen Gewalten des Kapitalismus, der seine Rettung durch neues Weltvölkergemetzel und faschistische Bürgerkriegsmorde erstrebt. Das Gebot der Stunde ist die Einheitsfront aller Werktätigen, um den Faschismus zurück zu werfen, um damit den Versklavten und Ausgebeuteten die Kraft und die Macht ihrer Organisationen zu erhalten, ja sogar ihr physisches Leben. Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten. Alle Bedrohten, alle Leidenden, alle Befreiungssehnsüchtigen in die Einheitsfront gegen den Faschismus und seine Beauftragten in der Regierung! Die Selbstbehauptung der Werktätigen gegen den Faschismus ist die nächste unerlässliche Voraussetzung für die Einheitsfront im Kampfe gegen Krise, imperialistische Kriege und ihre Ursache, die kapitalistische Produktionsweise. Die Auflehnung von Millionen werktätiger Männer und Frauen in Deutschland gegen Hunger, Entrechtung, faschistischen Mord und imperialistische Kriege ist ein Ausdruck der unzerstörbaren Schicksalsgemeinschaft der Schaffenden der ganzen Welt. Diese internationale Schicksalsgemeinschaft muss ehern geschmiedete Kampfesgemeinschaft der Werktätigen in allen Herrschaftsgebieten des Kapitalismus werden, eine Kampfesgemeinschaft, die sie mit den vorausgestürmten befreiten Brüdern und Schwestern in der Sowjetunion verbindet. Streiks und Aufstände in den verschiedensten Ländern sind lodernde Flammenzeichen, die den Kämpfenden in Deutschland zeigen, daß sie nicht allein stehen. Überall beginnen die Enterbten und Niedergetretenen zur Eroberung der Macht vorzustoßen. In der auch in Deutschland sich formierenden Einheitsfront der Werktätigen dürfen die Millionen Frauen nicht fehlen, die noch immer Ketten der Geschlechtssklaverei und dadurch härtester Klassensklaverei ausgeliefert sind. In den vordersten Reihen muß die Jugend kämpfen, die freies Emporblühen und Ausreifen ihrer Kräfte heischt, aber heute keine andere Aussicht hat als den Kadavergehorsam und die Ausbeutung in den Kolonnen der Arbeitsdienstpflichtigen. In die Einheitsfront gehören auch alle geistig Schaffenden, deren Können und Wollen, den Wohlstand und die Kultur der Gesellschaft zu mehren, heute in der bürgerlichen Ordnung sich nicht mehr Auszuwirken vermag.
In die kämpfende Einheitsfront alle, die als Lohn- und Gehaltsangehörige oder sonstwie Tributpflichtige des Kapitals zugleich Erhalter und Opfer des Kapitalismus sind!
Ich eröffne den Reichstag in Erfüllung meiner Pflicht als Alterspräsidentin und in der Hoffnung, trotz meiner jetzigen Invalidität das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten Rätekongreß Sowjetdeutschlands zu eröffnen.
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