Jakob Reimann

Zwei Minuten NATO-Propaganda in der Tagesschau

Jakob Reimann

In ihrem Bericht zum Ausbau von Logistik-Infrastruktur der NATO in Europa machte sich die Tagesschau zum Propagandist des Militärbündnisses. Ohne widersprechende Meinung und mit falschen und irreführenden Zahlen wurde als Nachrichten getarnt zwei Minuten lang tendenziös das NATO-Narrativ kolportiert.

Am Abend des 15. Februars berichtete Jan Hofer in der Tagesschau darüber, dass die NATO ihre „Logistik verbessern“ wolle und dafür eines von zwei neuen NATO-Hauptquartieren in Deutschland bauen werde, was laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg der schnelleren Verlegung von Kriegsmaterial und Truppen Richtung Osten diene. Hofer erwähnt richtig, dass es in jüngster Vergangenheit bereits zu Truppenverlegungen nach Osteuropa kam. Was er jedoch lediglich allgemein als „mehr Truppen“ verharmlost, ist vielmehr der größte Truppenaufmarsch der NATO seit Ende des Kalten Kriegs.

Bereits Hofers achtes Wort nennt den monokausalen Schuldigen, der diese „Logistikverbesserung“ nötig machte: Russland. Das Verhalten der NATO sei eine „Reaktion auf die Ukraine-Krise und die Annexion der Krim durch Russland.“ Hofer übernimmt hier unreflektiert das NATO-Narrativ einer defensiven NATO, die auf ein aggressives Russland lediglich reagiere, und vermengt hierbei Ursache und Wirkung. Es ist irreführend, den Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern der Tagesschau eine Kausalitätskette zu konstruieren, die willkürlich bei Ereignissen 2014 beginnt, denn das, was ab diesem Jahr in der Ukraine geschah, ist ohne den Kontext aus EU- und NATO-Osterweiterung in den Jahrzehnten zuvor nicht im Ansatz zu begreifen.

Als erster Clip folgt eine Anekdote aus Bautzen, bei der die Polizei sechs Schwerlasttransporte mit US-amerikanischen Panzerhaubitzen stoppte, Grund: fehlende Papiere und schlechte Sicherung der Haubitzen. Nahaufnahme eines minimal platten Reifens eines Anhängers. „Endstation statt reibungsloser NATO-Transport – diese Panne ist kein Einzelfall“, instrumentalisiert Bettina Scharkus im besorgten Ton den Vorfall auf der sächsischen Autobahn als Legitimierung für das nun folgende Statement der Verteidigungsministerin.

Von der Leyen stellt das NATO-Konzept des „Military Schengen“ vor, das zur zügigen und bürokratiearmen Truppenverlegung innerhalb Europas führen soll. Außerdem wird zur Koordinierung dieser Transporte – und zur Verhinderung von Vorfällen wie in Bautzen – das neue NATO-Hauptquartier in Deutschland errichtet. Ich als Zuschauer werde durch diese Clipabfolge ganz offensichtlich für dumm verkauft, da mir suggeriert wird, diese neuen Maßnahmen würden etwas an unsicher befestigten Panzerhaubitzen oder platten Reifen ändern und damit folglich deutsche Autobahnen sicherer machen.

Der Begriff des „Military Schengen“ entfaltet eine enorme psychologische Wirkkraft, da „Schengen“ im Allgemeinen ein äußerst positiv besetzter Begriff ist, der mit Freizügigkeit und Freiheit verknüpft wird. Im „Military Schengen“ wird diese positive Konnotation vereinnahmt und auf höchst manipulative Weise die Freizügigkeit von Truppen und Kriegsgerät in dieselbe Kategorie wie die Freizügigkeit von Menschen gesteckt.

Die Tagesschau lamentiert die vermeintliche organisatorische Behäbigkeit von Truppenverschiebungen gen Osten und erklärt an drei Balkendiagrammen, warum der von-der-Leyensche „Military Schengen“ dringend vonnöten ist. Anhand von Truppenstärke, Kampfpanzern und Kampfflugzeugen wird das „kampfbereite Militär“ von NATO und Russland verglichen, welches an der Ostflanke der NATO stationiert ist, den baltischen Staaten. Bei Truppen und Panzern liegt Russland klar vorne, die NATO bei den Kampfjets.

Zusammengesetzte Screenshots aus Tagesschau vom 14.2.2018

Die systematische Irreführung der Tagesschau wird hier an zwei wesentlichen Punkten deutlich. Erstens wird die Einschränkung „an ihrer Ostflanke“ lediglich in einem Nebensatz während des vorangestellten Clips erwähnt, sie steht nicht als Erklärung auf den Diagrammen selbst. Aus fachlicher Sicht ist dies ein grober Fehler, weil die Diagramme für sich genommen damit keinerlei Aussage über irgendetwas haben. Wer den Bericht nicht aufmerksam verfolgt, sondern abgelenkt ist (was vermutlich die Mehrheit der Zuschauenden sein wird), könnte den Eindruck gewinnen, dass es sich etwa um absolute Vergleichszahlen zwischen NATO und Russland handelt. Und da die Menschen visuelle Wesen sind, bleibt im Gedächtnis hängen: lange rote Balken, kurze blaue Balken.

Der zweite Kritikpunkt an den drei Diagrammen ist wesentlich dramatischer und lässt damit die Kernaussage des gesamten Beitrags in sich zusammenfallen: die Zahlen an sich ergeben schlicht keinen Sinn. Die Daten stammen aus dem 2018er Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz, die ihre Daten wiederum aus einem diesjährigen Papier des US-Thinktanks RAND Corporation bezog. Die Tagesschau sagt, die Diagramme bilden jeweils die „kampfbereiten“ Truppen und Vehikel an der NATO-Ostflanke ab. Für die NATO-Seite bedeutet dies die Truppen in den drei baltischen Staaten sowie US-Panzer aus Polen, die umgehend ins Baltikum transportiert werden könnten. Für die russische Seite umfasst dies alle stationierten Truppen im sogenannten westlichen Militärbezirk. Das Problem hierbei: der westliche Militärbezirk ist fast 1,2 Millionen Quadratkilometer groß, während das Baltikum gerade einmal 175 Tausend Quadratkilometer misst – nur knapp ein Siebentel der russischen Referenzfläche. Während im Baltikum kein Punkt mehr als wenige Hundert Kilometer von der NATO-Russland-Grenze entfernt ist, können in Russlands Westbezirk weit über Eintausend Kilometer bis an die Grenze zum Baltikum zurückgelegt werden.

Die Tagesschau vergleicht in ihren Diagrammen das Baltikum mit dem westlichen Militärbezirk Russlands, der fast sieben Mal größer ist

Eine Gegenüberstellung zweier derart unterschiedlich großer Gebiete ist höchst unwissenschaftlich. Um etwa gleiche Areale vergleichen zu können, müssten zum Baltikum noch mindestens Polen, Tschechien, Deutschland, Slowakei, Slowenien und Ungarn hinzugerechnet werden. Werden die aktiven Militärs dieser Länder addiert, ergibt sich eine Truppenstärke von 376.000 – im Vergleich zu 78.000 auf der russischen Seite. Wenn also überhaupt ein Verhältnis von Truppen in gleich großen Einzugsgebieten entlang der NATO-Russland-Grenze angegeben werden soll, wäre dies 5:1 für die NATO, keineswegs das 2:5-Verhältnis für Russland, was das Schaubild der Tagesschau abbildet. Ähnliches gilt für die Zahl der Kampfpanzer. Doch auch diese Zahlen müssen mit Vorsicht genossen werden, da etwa die Truppen im weitläufigen Russland eine höhere Mobilität aufweisen als im gedrängteren Zentral- und Osteuropa. Es bleibt festzuhalten, dass die Kernaussage des Beitrags – Russlands militärische Übermacht im Baltikum – auf einer gänzlich falschen Argumentation beruht.

Zwei Kleinigkeiten: Das RAND-Paper erläutert, dass die Zahlen der Kampfflugzeuge alle einsatzfähigen Jets weltweit angeben, nicht, wie von Tagesschau behauptet, nur jene im Baltikum. Außerdem nennt die Tagesschau die Zahl von 5.357 NATO-Jets, es sind laut Quelle aber 5.457 (es mussten lediglich zwei Zahlen addiert werden, woran die Tagesschau scheiterte). Die zwei Kleinigkeiten haben hier keinerlei Relevanz mehr, sie illustrieren nur weiter die dilettantische Quellenarbeit der Tagesschau.

Als Folge der durch die drei Diagramme vermeintlich belegten russischen Übermacht im Baltikum stehe die Bundesregierung nun unter Druck, erklärt die Tagesschau: „Die Bundeswehr müsse stärker aufrüsten, fordern Experten, ein neues Kommandozentrum sei lediglich ein Anfang.“ Der besagte Experte ist Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, von der die Tagesschau die falschen Zahlen für ihre Schaubilder übernahm. Im gewohnt verklausulierten Vokabular von „Engagement“ und „militärischer Handlungsfähigkeit“ redet Ischinger im Clip über die Rolle Deutschlands in der NATO.

Bettina Scharkus endet ihren Bericht, indem zum wiederholten Male die schwarzweißen Rollen verteilt werden: „die NATO wolle keinen Kalten Krieg“, Moskaus Militärpolitik werde „zunehmend als aggressiv wahrgenommen“, sie schließt mit der Warnung vor einem potentiellen „Ernstfall“.

Über die volle Länge dieses zweiminütigen Beitrags hinweg kolportiert die Tagesschau ausschließlich pro-NATO-Narrative und lässt dabei weder im Ansatz erkennen, dass diese Narrative in der öffentlichen Debatte sehr wohl strittig diskutiert werden, noch räumt sie gegensätzlichen Standpunkten den kleinsten Raum zur Kontroverse ein. Wir werden mit unseriösen, höchst manipulativen Zahlen konfrontiert, die ein akutes Bedrohungsszenario durch Russland im Baltikum zusammenflickschustern. Uns werden die Standpunkte des NATO-Generalsekretärs, der Verteidigungsministerin und eines hochrangigen Militärlobbyisten präsentiert, ohne eine einzige Gegenstimme von der Linkspartei oder von einer der vielen pazifistischen oder rüstungskritischen NGOs zu hören. Was für ein privates Medienhaus ein legitimes Vorgehen wäre, ist bei der Flaggschiff-Sendung der Öffentlich-Rechtlichen schlicht eine Verletzung ihres Bildungs- und Informationsauftrags.

Der Bericht ist reine Propaganda im Sinne der NATO und der Fürsprecher einer konfrontativen und eskalativen Russland-Politik.

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Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ vom 16.02.2018.  Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers.

Über den Autor: Als studierter Biochemiker hat Jakob Reimann ich ein Jahr in Nablus, Palästina gelebt und dort an der Uni die Auswirkungen israelischer Industrieanlagen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen in der Westbank erforscht. Nach einiger Zeit in Tel Aviv, Haifa, Prag und Sunny Beach (Bulgarien) lebt er jetzt wieder in Israel und kennt daher „beide Seiten“ des Konflikts und die jeweiligen Mentalitäten recht gut. Soweit er zurückblicken kann ist er ein politisch denkender Mensch und verabscheut Ungerechtigkeiten jeglicher Art. Aus bedingungslos pazifistischer Sicht schreibt er gegen den Krieg an und versuche so, meinen kseinen Beitrag zu leisten. Seine Themenschwerpunkte sind Terrorismus, das US Empire, Krieg (Frieden?) und speziell der Nahe Osten.

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