Jakob Reimann
„Der Westen“ tötet im Orient täglich 329 Menschen .
Durch Krieg und genozidale Sanktionen tötete der Westen im Irak, Afghanistan, Libyen, Somalia, Jemen und Pakistan in den letzten 27 Jahren 3.303.287 Menschen – im Schnitt 329 jeden Tag.
Das ist der deprimierendste Artikel, den ich je geschrieben habe. Als Naturwissenschaftler ist es meine Aufgabe, Dinge auszurechnen. An der Uni lernte ich, dies auf professionelle Weise zu tun. Doch die Reaktionskinetik enzymatischer Prozesse zu berechnen, ist das Eine – tote Menschen bis in den Himmel hochzuaddieren, das Andere. Dieser Text soll dazu beitragen, die Blasen, in denen wir leben, zum Platzen zu bringen. Er soll die fest zugekniffenen Augen für das Leid anderer Menschen öffnen.
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Der Golfkrieg 1991
Im Iran-Irak-Krieg (Erster Golfkrieg) zwischen 1980 und 1988 war Saddam Hussein ein enger Verbündeter des Westens, auch noch als er mit Giftgas made in Germany Genozid an den Kurden im Nordirak durchführte. Als er im Anschluss jedoch das ölreiche Kuwait überfiel, wurde er zur Persona non grata und provozierte eine massive Bombenkampagne der USA, die in 43 Tagen insgesamt 110.000 Luftschläge gegen den Irak flog und im großen Stile zivile Infrastruktur vernichtete: die Operation Desert Storm, der Zweite Golfkrieg. Im opferreichsten Einzelangriff der modernen Luftkriegsführung warfen in der Nacht zum 13. Februar 1991 US-Tarnkappenbomber zwei lasergelenkte ‘smart bombs‘ auf einen Schutzbunker in Bagdad ab und töteten 408 Zivilisten, die im Flammeninferno verbrannten.
Die US-Regierung weigerte sich, die Opferstatistiken des Golfkriegs zu recherchieren. „Wir haben keine Möglichkeit, die genauen Opferzahlen zu ermitteln,“ erklärte der damalige Verteidigungsminister Dick Cheney nach dem Krieg, „wir werden es vielleicht nie erfahren.“ Die junge Bevölkerungswissenschaftlerin Beth Osborne Daponte von der University of Chicago erarbeitete für die US-Zensusbehörde jedoch ebendiese Zahlen – und wurde für ihre Ergebnisse schließlich aus dem Staatsdienst gefeuert. In ihrer soliden wissenschaftlichen Studie wertete Daponte unter anderem Daten von UNICEF, dem US-Außenministeriums und der Harvard University aus und kam zu dem Ergebnis, dass durch direkte und indirekte Kriegsfolgen des US-Bombardements 205.500 Menschen getötet wurden, 74.000 Kinder darunter. Der UK Medical Educational Trust errechnete nahezu dieselbe Zahl.
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„Sanktionen als Massenvernichtungswaffe“
Als Strafmaßnahme für Saddams Überfall auf Kuwait wurde gegen den Irak ein nahezu absolutes Finanz- und Handelsembargo erlassen, welches in seiner Brutalität ungekannt in der modernen Geschichtsschreibung war und von August 1990 bis zum Sturze Saddams im Mai 2003 das Land buchstäblich ausbluten ließ und Hunderttausende Menschen tötete.
Der fast zwei Drittel vom BIP ausmachende Ölsektor wurde massiv gedrosselt, das pro-Kopf-Einkommen brach in wenigen Jahren um 87 Prozent ein, die Mehrheit der Bevölkerung wurde abhängig von Nahrungsmittelhilfen, der Import von nahezu Allem wurde eingestampft. Insbesondere das in der arabischen Welt beispielhafte Gesundheitssystem im Irak brach zusammen, simpelste medizinische Güter wie Pflaster und Binden wurden zur Mangelware. Die Kindersterblichkeit stieg in zehn Jahren um 127 Prozent an. Laut einer UNICEF-Studie erkrankte fast die Hälfte der irakischen Kinder unter fünf Jahren an Diarrhö, mehr als ein Drittel litt unter akuten Atemwegserkrankungen.
Durch den totalen Importstopp von Anlagen und Chemikalien zur Wasseraufbereitung wurden die Trink- und Abwassersysteme des Irak systematisch zerstört – was geplant und somit vorsätzlich geschah, wie Thomas Nagy von der University of Minnesota in seinem Paper unter Berufung auf ein jahrelang als geheim eingestuftes Dokument der Defense Intelligence Agency (DIA) nachweist. Wie der DIA-Bericht vorhergesagt hatte, grassierten Epidemien von durch Wasser übertragenen und bereits ausgerotteten Krankheiten wie Cholera, Typhus, Ruhr, Hepatitis, Diarrhö und Kinderlähmung.
Artikel 2 der Völkermordkonvention definiert Genozid unter anderem als den Akt, eine nationale Gruppe „unter Lebensbedingungen zu stellen, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen.“ Kann ernsthaft argumentiert werden, das Sanktionsregime des Westens falle nicht unter die UN-Definition von Völkermord?
Denis Halliday, in den 1990ern für die UN Humanitärer Koordinator im Irak, bezeichnete die Sanktionen als „Genozid als Dauerzustand“, um nach 34 UN-Jahren aus Protest seinen Job zu kündigen. Der ehemalige US-Justizminister Ramsey Clark richtete ein internationales Tribunal ein, welches die US- und die britische Regierung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezichtigte, wie sie in der Nürnberger Charta von 1945 und den Genfer Konventionen definiert sind: Beide Regierungen „begingen an der Bevölkerung des Irak Genozid im Sinne der Völkermordkonvention, einschließlich Genozid mittels Hunger und Krankheit, durch den Einsatz von Sanktionen als Massenvernichtungswaffe.“
Der Westen begeht „Genozid“ durch den Einsatz von „Massenvernichtungswaffen“ – Vokabeln, die in der post-Hitler-Welt für afrikanische Warlords und arabische Schlächter reserviert bleiben sollten.
Ramsey Clark, der US-Justizminister, gab die Zahlen der durch die Sanktionen getöteten Iraker bereits 1996 mit mehr als 1.500.000 an, davon 750.00 Kinder unter fünf Jahren. Der renommierte Nahost-Experte Nafeez Ahmed nennt in seinem Buch „Behind the War on Terror“ von 2003 unter Berufung auf die UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen die Zahl von 1,7 Millionen durch die Sanktionen getöteter Menschen, 500-600 Tausend getötete Kinder darunter. Die New York Times berichtete bereits 1995 von der Studie der Welternährungsorganisation, laut der in den ersten Jahren 576.000 Kinder durch die Sanktionen starben. Diese Zahlen sind der Ursprung des berühmtberüchtigten Zitat des Emmy-preisgekrönten 60 Minutes-Interviews mit Madeleine Albright, der Ikone der US-Demokraten.
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Ein Lehrstück in Menschenhass:
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„War on Terror“ – Der Irak wird ausradiert
Mit den Anschlägen vom 11. September trat die Welt in eine neue Ära der Geschichtsschreibung ein: die des endlosen „War on Terror“. Ein Wortungetüm, das durch seine mediale Omnipräsenz unser analytisches Denken verkümmern und uns so die Absurdität dieses Oxymorons vergessen ließ: Gewalt zur Bekämpfung der Gewalt. Fleischfressen für das Wohl der Tiere.
2015 veröffentlichte die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Ärztevereinigung Physicians for Social Responsibility (PSR) eine bahnbrechende Studie zur Ermittlung der Opfer des „War on Terror“: den Body Count, ein wissenschaftlich fundierter Report, der umfassendste seiner Art. Der Body Count ist ein Gemeinschaftsprojekt der PSR mit seinen deutschen, kanadischen und US-amerikanischen Schwestergesellschaften, die sich unter dem Schirm der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (ebenfalls Friedensnobelpreisträger) an die Arbeit machten und enorme Datenbestände unterschiedlichster Quellen analysierten.
Die PSR-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass als direkte oder indirekte Folge des US-geführten Kriegs im Irak etwa 1 Million Menschen getötet wurden, wobei explizit betont wird, dass es sich um konservative Schätzungen handelt und die tatsächliche Zahl deutlich darüber liegen könnte. Auch Reuters, die zweitgrößte Nachrichtenagentur der Welt, berichtete im Januar 2008 von einer britischen Studie, laut der bereits zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Millionen Menschen im Irak getötet wurden, was die Zahlen der PSR-Studie untermauert.
Es wird gerne argumentiert, George Bush hätte mit seiner Invasion 2003 den Irak ins Elend gestürzt, indem er das Land „in die Steinzeit zurückbombte“. Das ist vollkommen richtig, doch erzählt es wie oben dargelegt nur die halbe Wahrheit: Erst Bill Clintons Sanktionen haben den Irak von innen heraus zugrunde gerichtet und seine Bevölkerung gefoltert. George Bushs Bombenteppich hat das Kartenhaus danach schließlich zum Einsturz gebracht und den Irak physisch vernichtet. Komplementär arbeiteten der Wirtschaftskrieg der Demokraten und der Bombenkrieg der Republikaner Hand in Hand, um ein Land, in dem vor 6.000 Jahren die Hochkulturen der Menschheit entstanden und das als Wiege der Zivilisation gilt: auszuradieren.
Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ vom 12.04.2018. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
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Über den Autor: Als studierter Biochemiker hat Jakob Reimann ich ein Jahr in Nablus, Palästina gelebt und dort an der Uni die Auswirkungen israelischer Industrieanlagen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen in der Westbank erforscht. Nach einiger Zeit in Tel Aviv, Haifa, Prag und Sunny Beach (Bulgarien) lebt er jetzt wieder in Israel und kennt daher „beide Seiten“ des Konflikts und die jeweiligen Mentalitäten recht gut. Soweit er zurückblicken kann ist er ein politisch denkender Mensch und verabscheut Ungerechtigkeiten jeglicher Art. Aus bedingungslos pazifistischer Sicht schreibt er gegen den Krieg an und versuche so, meinen kseinen Beitrag zu leisten. Seine Themenschwerpunkte sind Terrorismus, das US Empire, Krieg (Frieden?) und speziell der Nahe Osten.
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