Julius Jamal

Iran: Einen Regimewechsel abzulehnen, nur weil es den USA nutzt, ist falsch

Im Gespräch mit Niema Movassat
.

Julius Jamal

Im Iran protestieren seit einer Woche die Menschen, die Proteste richteten sich zu Beginn gegen steigende Preise für Grundnahrungsmittel und Benzin, sowie die schlechte wirtschaftliche Lage und Arbeitslosigkeit. Doch in den letzten Tagen kamen auch immer mehr Stimmen hinzu, die sich gegen das Regime im Allgemeinen richteten und Freiheit und Demokratie forderten, wir sprachen mit Niema Movassat, Bundestagsabgeordneter der Linken und mit iranischem Migrationshintergrund.

Die Freiheitsliebe: Iran brennt, der Westen pennt? Ist dies der Aufstand der Menschen für ein sozialeres und freieres Iran?

Niema Movassat: Ob es schon ein Aufstand ist, muss sich erst zeigen. Zurzeit sind die Proteste wegen der massiven Repression vom Regime weitgehend unterdrückt worden. Jedenfalls sind die Proteste aber sehr breit: Sie fanden und finden in 70 Städten im Iran statt. Auf der Straße sind vor allem junge Menschen, viele Arbeiter, Frauen, aber auch Studenten und Akademiker. Die Kernthemen der Proteste sind soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit.

Die Freiheitsliebe: Was sind die Ursachen für die Proteste? War es, banal gesprochen, der gestiegene Preis für Obst und Benzin?

Der Iran

Niema Movassat: Man kann sich die Situation im Iran vor den Protesten wie einen Topf vorstellen, der am Kochen war. Die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, die ungleiche Verteilung des Wohlstandes, die neoliberale Politik der Ruhani-Regierung und die politische Unterdrückung der Bevölkerung hatten den Topf schon zum Kochen gebracht. Die letzten Preissteigerungen für Lebensmittel, die angekündigten Steigerungen des Benzinpreises, haben den Topf überkochen lassen.

Die Freiheitsliebe: Wie kommt es, dass die Proteste jetzt beginnen, obwohl der Iran gerade sein außenpolitisches Gewicht erhöht und Militäreinsätze im Ausland durchführt?

Niema Movassat: Eine Kritik, zumindest von einem Teil der Demonstranten, ist, dass der Iran sich zu massiv in andere Konflikte einbringt, zum Beispiel in Syrien. Dies kostet natürlich Geld. Geld, welches fehlt, um die Armut im eigenen Land zu bekämpfen. Insofern ist der wachsende außenpolitische Einfluss ein Grund für die Proteste: Nämlich, dass diese Kriegsabenteuer des Regimes von einem großen Teil der Bevölkerung abgelehnt werden.
Die Freiheitsliebe: Was sind die Forderungen der Menschen, die protestieren?

Niema Movassat: Es gibt keine Programmschrift. Aber wenn man die Summe der Parolen zusammenzieht, dann wollen die Menschen, dass mehr gegen Armut und Arbeitslosigkeit getan wird, also dass eine soziale Politik stattfindet. Außerdem – das ist die politische Dimension des Protestes – wollen sie ein Ende des Regimes. Dies geht über die 2009er Proteste hinaus, bei der es um eine umstrittene Präsidentschaftswahl ging, also um einen Konflikt innerhalb des politischen Systems. Die Rufe „Tod dem Diktator“, die man jetzt hört, sprechen dafür, dass es den Menschen nicht um neue Gesichter im alten System geht, sondern um einen Systemwechsel, um das Ende des Mullah-Regimes.

Niema Movassat wurde 1984 als Sohn iranischer Eltern in Wuppertal geboren. Seit seinem 2. Lebensjahr lebt er in Oberhausen. Er besuchte zunächst die Adolf-Feld Grundschule und danach das Elsa-Brändström-Gymnasium. Hier absolvierte er 2004 sein Abitur.
Im Anschluss studierte er Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf. Sein Staatsexamen hat er 2009 beim Oberlandesgericht Düsseldorf abgelegt und ist seitdem Jurist.
Politisch aktiv ist er seit dem Jahr 2000, damals trat er in den Jugendverband [’solid] und in die PDS ein. Mehrere Jahre war er Mitglied im Landesvorstand in NRW, von 2008 bis 2010 gehörte er dem Parteivorstand an.
2009 ist er über Platz 8 der Landesliste NRW der Partei DIE LINKE erstmals in den Bundestag eingezogen und gehört ihm bis heute an.

Die Freiheitsliebe: Das Mullah-Regime hat die sozialen Netzwerke deaktiviert und reagiert ansonsten ebenso repressiv wie seinerzeit das Ägyptische Regime zum arabischen Frühling. Wird es noch schlimmer?

Niema Movassat: Das Regime reagiert, nach einem ersten, überraschten Moment, sehr aggressiv auf die Proteste. Milizen des Regimes fahren mit Motorrädern in Demonstranten rein, Hunderte wurden verhaftet. Das Revolutionsgericht hat für bestimmte Demonstranten die Todesstrafe angekündigt. Mit Gewalt werden die Proteste unterdrückt. Die Ausschaltung der sozialen Netzwerke trifft die Demonstranten ebenfalls hart: 25 Millionen Iranerinnen und Iraner sind bei Telegram. Darüber sprachen sie die Proteste ab. Das ist jetzt unmöglich. Eines ist aber auch klar: Das Regime kann die Proteste nicht ewig mit Gewehren unterdrücken. Solange es keine Veränderungen im Sinne der Menschen gibt, wird es früher oder später wieder zu Protesten kommen.

Die Freiheitsliebe: Etliche Menschen vermuten jetzt wieder, wie in Syrien, die CIA, die USA oder sonst wen als Drahtzieher hinter den Protesten. Hälst du das für logisch oder realistisch?

Niema Movassat: Die USA haben zweifellos ein Interesse an einem Regimewechsel im Iran. Aber die Unzufriedenheit über das Regime war da, ganz ohne USA und deren Geheimdienst CIA. Es wäre falsch, einen Regimewechsel von innen (!) deshalb abzulehnen, weil er den USA nützen könnte. Da sollte man Karl Marx lesen, der schrieb, es gilt „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Er hat nicht die Fußnote gesetzt, dass das nicht gelte, wenn die Aufhebung der Knechtschaft der USA nützen würde. Die Menschen im Iran gehen nicht für die USA oder für uns auf die Straße, sondern für sich. Das ist ihr gutes Recht.

Die Freiheitsliebe: Von wem gehen die Proteste aus? Im Iran selbst wird gemutmaßt, dass die reaktionären Kräfte im Regime zu Beginn an den Protesten beteiligt waren, um Rohani zu schwächen. Hältst du das für realistisch?

Niema Movassat: Das ist, zumindest für die aller ersten Proteste in Mashhad, möglicherweise so gewesen. Darüber gibt es Berichte. Aber die reaktionären Kräfte haben falsch kalkuliert: Die Menschen haben die Botschaft, die die reaktionären Kräfte gegen Ruhani setzen wollten, völlig umgedreht: Sie greifen nun das gesamte System an. Das ist überhaupt nicht im Sinne der Fundamentalisten.

Die Freiheitsliebe: Sollten sozialistische und kommunistische Kräfte noch abwarten oder die Protestierenden unterstützen?

Niema Movassat: Internationale Solidarität ist wichtig und richtig. Die Menschen, die im Iran auf die Straße gehen, setzen sich großen Gefahren aus. Dieser Mut verdient Respekt. Es gibt im Iran keinen Rechtsstaat, keine fairen Prozesse, keine Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Vor allem sind es soziale Forderungen, die viele Menschen im Iran auf die Straße treiben. Die Arbeiterinnen und Arbeiter im Iran sind besonders entrechtet: Unabhängige Gewerkschaften gibt es nicht. Arbeitsrechte für junge Menschen sind auf unbestimmte Zeit aufgehoben. Der Mindestlohn ist extrem niedrig. Wer aufmuckt, dem droht das Gefängnis. Wenn Sozialisten und Kommunisten mit Arbeitern, die für soziale Gerechtigkeit unter Lebensgefahr auf die Straße gehen, nicht solidarisch sind, mit wem dann?

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

.

Erstveröffentlichung in „Die Freiheitsliebe“ vom 12. Juni 2017.  Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers
.
Über den Autor: Ich habe 2009 die Freiheitsliebe gegründet aus dem Wunsch, einen Ort zu schaffen, wo es keine Grenzen gibt zwischen Menschen. Einen Ort an dem man sich mitteilen kann, unabhängig von Religion, Herkunft, sexuelle Orientierung und Geschlecht. Freiheit bedeutet immer die Freiheit von Ausbeutung. Als Autor dieser Webseite streite ich für eine Gesellschaft, in der nicht mehr die Mehrheit der Menschen das Umsetzen muss, was nur dem Wohlstand einiger Weniger dient.

Ihr findet mich auf: Facebook.
.

zurück zur Startseite

Sag uns deine Meinung zum Artikel mit einem Kommentar/Leserbrief